Dienstag, 13. Dezember 2011
Wie wirklich sind die Bilder unserer Wirklichkeiten? I
Mittwoch, 7. Dezember 2011
Unschuldige Verachtung
Am 25.11.2011 ließ die SZ auf ihrer zweiten Seite den Psychiater Andreas Meißner mit dem Text Die Not der Psychiater zu Wort kommen. Er beklagte die Schieflage zwischen psychotherapeutischer und psychiatrischer Praxis: Der Psychiater könne - angesichts der schlechten Honorierung - im Quartal nur ein Gespräch, der Psychotherapeut dagegen mindestens ein Gespräch innerhalb einer Woche führen (der psychoanalytische Therapeut sogar zwei oder drei Gespräche in der Woche), zudem behandele der Psychiater zwei Drittel der psychisch Kranken, der Psychotherapeut dagegen - bei besserer Honorierung - nur ein Drittel. Klagen, lehrte Sigmund Freud, sind Anklagen. Andreas Meißner ist unzufrieden. Er sagt nicht, dass sein therapeutisches Instrument der medikamentöse Eingriff ist. Er sagt nicht, dass er als seine berufliche Praxis einen eher technisch orientierten Umgang gewählt hat, der von der Fantasie der raschen Intervention lebt, die sich häufig als ein langwieriges, kostspieliges Probieren erweist. Er sagt nicht, dass seine berufliche Praxis andere Kosten verursacht. Er rechnet psychiatrische und psychotherapeutische Praxis falsch gegeneinander auf, um die fremde Praxis zu bekämpfen; dabei müssten beide Formen klinischer Praxis verbunden werden. Rainer Gansera versteht die Unterschiede nicht, Andreas Meißner mag die Unterschiede nicht. Beide pflegen die unschuldige Verachtung.
Mittwoch, 23. November 2011
Sprach-Verwahrlosung
Karl-Theodor zu Guttenberg ist, dank der Unterstützung des Chefredakteurs der ZEIT, zu einer Publikation gekommen: Vorerst gescheitert lautet der Titel. Man kann mit einem Betrug scheitern - das kann man sagen. Aber erweist die Formel vom gescheiterten Betrug dem Betrüger nicht zu viel Ehre? Und besagt sie nicht auch, dass der Betrüger sich aufmachen wird, wieder zu betrügen? Für ein Geschäft verhökert DIE ZEIT die für existenzielle Kontexte normalerweise reservierte Vokabel vom Scheitern und macht den Betrug salonfähig. Geld riecht nicht, sagt man; das Geschäft muss laufen. Wir leben in schwierigen Zeiten (SZ vom 23.11.2011, S. 1).
Dienstag, 22. November 2011
Was wollen wir vom Nationalsozialismus wissen?
"Wir stehen für ein Deutschland, in dem alle ohne Angst verschieden sein können und sich sicher fühlen - ein Land, in dem Freiheit und Weltoffenheit herrschen", zitiert die SZ aus der Erklärung. Ich finde bemerkenswert, dass unsere Politikerinnen und Politiker den vollen Namen unseres Landes nicht nennen: Bundesrepublik Deutschland. Sie machen keinen Unterschied zum nationalsozialistischen Getöse um Deutschland. Davon abgesehen, kann ich mich nicht an eine ähnliche Geste des Bundestages erinnern, als Anfang der 90er Jahre bundesdeutsche Schläger ihre baseball bats schwangen.
Die Geste der Bundestagsabgeordneten erinnert an den vertrauten westdeutschen Subtext der 50er Jahre, den man so übersetzen kann: Vom Nationalsozialismus wollen wir nichts hören und nichts wissen; wer ihm nachhängt und darüber spricht, wird verachtet und zum Schweigen aufgerufen. Ein Sprechverbot sollte es in einer Demokratie nicht geben. Die Grenze zum strafrechtlich relevanten Sprechen ist gezogen. Deshalb ist ein Verbot der NPD, worüber wieder im Bundestag nachgedacht wird, nicht notwendig. Ich möchte hören können, was die Delegierten dieser Partei sagen. Sie sollten nicht zum sprachlosen Sprechen gezwungen werden. Ende der 60er Jahre fragte das Psychoanalytiker-Ehepaar Alexander und Margarete Mitscherlich in seiner Arbeit Die Unfähigkeit zu trauern, was aus der riesigen Verehrung des Mannes an der Spitze des braun-schwarzen deutschen Staates geworden wäre. Die Antwort steht noch aus. Wir müssen uns nicht mit einem Verbot vor ihr schützen.
Montag, 17. Oktober 2011
Wenn die (westliche) Welt doch einfach wäre
Ein erschreckendes Missverhältnis
1. Kinder - krank an Leib und Seele
2. Merkel legt sich mit Obama an. Kanzlerin verwahrt sich gegen Druck der USA und fordert eine Finanzmarktsteuer.
Die Kinder leiden bei uns enorm an der Armut ihrer familiären Systeme, unsere Regierung (vor allem) an der gewaltigen Verschuldung der EU - die bundesdeutsche Verschuldung natürlich eingeschlossen. Die Linderung der Verschuldung wird einen drei- bis vierstelligen Milliarden-Betrag kosten und die am dringlichsten notwendige Realisierung des Projekts der sozialen Gerechtigkeit weiter hinausschieben - bis auch die psychosozialen Folgekosten dieses Scheiterns gewaltige Ausmaße erreicht haben werden. Im Augenblick werden wir vorsichtig zur Kasse gebeten, um uns an den Folgekosten des mehr oder weniger intensiv betriebenen Fantasierens vom Erwerb der teuren Repräsentationen von Macht, Status und Glück zu beteiligen. Im Augenblick können wir resümieren, wie das Konzept der fröhlichen Verschuldung wenig der Realitätsbewältigung, aber viel der Wünsche-Inflation gedient hat. Dabei haben wir offenbar unsere Geschichte aus dem Blick verloren: wie die Bundesrepublik aus den Ruinen Deutschlands mit alliierter Hilfe und unter alliierter Aufsicht in dem Schock der Nachkriegszeit und in der Nachkriegsarmut entstand.
Mittwoch, 12. Oktober 2011
Das Loch im Text
Die Mücke und der Elefant
"Spülung für die Seele. Wer sich wäscht, fühlt sich auch frei von Schuld".
Der Text beginnt: "Wenn sich Menschen waschen, reinigt das auch ihre Seele". Unsere Kulturgeschichte von ein paar Tausend Jahren wird ins Spiel gebracht. Die Reinigung der Seele.
Der zweite Satz lautet: "Mit dem Wasser verschwinden die schlechten Gefühle ebenfalls im Abfluss, berichten die Psychologen Spike Lee und Norbert Schwarz von der Universität Michigan in einer Übersichtsarbeit (Current Directions in Psychological Science, online)". Das Internet ist eine Bibliothek ohne Öffnungszeiten - leider fehlt ein umfassendes Verzeichnis. Ich habe jedenfalls die Arbeit in ihrer Kurzform mit dem Titel Washing Away Post-Decisional Dissonance (drei Seiten Text) nachgelesen. Was haben Spike Lee und Norbert Schwarz untersucht? Sie ließen 40 Studenten aus 30 CDs zehn CDs auswählen, die sie gern besitzen würden, und sie baten die Studenten, die zehn CDs in der Reihenfolge ihrer Präferenzen zu sortieren. Die jeweilige fünf- oder sechstbeliebste CD konnten sie als eine Art Anerkennung behalten. Anschließend wurden die Studenten zu einer flüssigen Seife befragt. Die eine Hälfte der Studenten beschäftigte sich nur kurz mit der Seife, die andere Hälfte wusch sich damit die Hände. Dann folgte, was die Psychologen filler task nannten - offenbar mussten die Studenten die Flaschen mit der Seife füllen - , und danach mussten die Studenten erneut die zehn CDs in der Reihenfolge der Attraktion sortieren.
Spike Lee und Norbert Schwarz gingen davon aus, dass die Studenten, die sich entweder für die fünft- oder sechsbeliebste CD entschlossen hatten, auch gern die jeweils andere CD gewählt hätten, weswegen sie einen Konflikt erleben würden - was Leon Festinger 1957 eine kognitive Dissonanz genannt hatte - ; sie vermuteten, dass die Studenten Anstrengungen unternehmen würden, ihre Wahl für sich zu rechtfertigen, um die Dissonanz oder den Konflikt zu mildern oder zu beseitigen. Den (vermuteten) inneren Umgang mit dem Konflikt untersuchten die Psychologen nicht. Wir erfahren nichts über die CDs und über die Wahlen der Studenten. Sie verglichen und korrelierten die Präferenz-Wahlen der Studenten, die sich mit der Seife wuschen, mit den Listen der Studenten, die die Seife links liegen ließen. Was kam heraus? Die Studenten, die die Seife nicht ausprobiert hatten, bestärkten ihre Wahlen; die Studenten, die sie benutzt hatten, nicht. Was schlossen Spike Lee und Norbert Schwarz daraus?
Sie schrieben: "Thus, hand-washing significantly reduces the need to justify one's choice by increasing the perceived differences between alternatives". Das hatten wir schon einmal. In den 60er Jahren wurde für ein Geschirrspülmittel mit der viel versprechenden Formel Pril entspannt das Wasser geworben. Dieses Mal war es Flüssigseife, und es ging um die kognitive Dissonanz, die einen umzutreiben vermutet wird, wenn man sich entscheiden muss zwischen zwei CDs, weil einem nur eine geschenkt wird. Viel Lärm um nichts. Weder prüften die Psychologen ihre Vorannahmen; ein F-Test - ein statistisches Prüfverfahren - reichte. Noch bedachten sie die Implikationen ihrer Spekulation. Und, das ist die instruktive Seite, die SZ extrapoliert die Spekulation für einen flotten, abfälligen Titel. Wir erfahren, wie Forschung ungeprüft weitergereicht wird im Betrieb der vermeintlich relevanten Nachrichten. Und wir können den Versuch sehen, die komplexe Struktur des seelischen Systems ins Waschbecken der Verachtung zu pressen (s. meinen Blog vom 11.11.2010 Die Zähigkeit des neurowissenschaftlichen Aberglaubens).
Montag, 10. Oktober 2011
Was ist eine Blase?
Warum spricht der Wirtschafts-Journalist Karl-Heinz Büschemann von der Blase? Wahrscheinlich ist er besorgt. Wir hatten die IT-Blase und leiden noch unter der Immobilien-Blase. Jetzt schlagen sich die EU-Politiker mit der riesigen Verschuldung herum, die offenbar das Produkt vieler Blasen ist. Gilt das auch für Apple? Sicher nicht. Denn die Millionen-fach verkauften Produkte sind doch wahrscheinlich bezahlt; höchstens sind deren Käuferinnen und Käufer verschuldet. Was die Firma verdient, kann man nachlesen in ihrer Bilanz; was sie wert ist, ist eine andere Geschichte. Was ist schlimm daran, wenn die Produkte einer Firma sehr geschätzt werden? Büschemann missfällt die Produkt-Religion. Er sorgt sich um die Kundinnen und Kunden von Apple: Sie sind herein gefallen - glaubt er. Er missioniert: Er möchte sie schützen. Leider sind die Produkte der Kalifornier zu schön und zu funktionstüchtig, um sie aufzugeben. Ich hänge an meinem notebook von Apple; ich möchte es nicht hergeben. Ich möchte keinen anderen Rechner. Es ist die alte Geschichte heftig gepflegter Vorlieben und Abneigungen, mit denen die eigenen Lebensentscheidungen ausgepolstert werden. Manche Kölner sind da einigermaßen entspannt; sie sagen: Man muss och jünne künne. Steve Jobs hatte verstanden, was ich mir von einem Rechner wünsche. Das finde ich enorm. Er lebte vor, wie man dem folgt, woran das Herz hängt. Das finde ich enorm tröstlich. Er war kein Heiliger, sondern ein kluger, rigoroser Geschäftsmann.
Ist die elektronische Technologie zu komfortabel?
Spuren, schreibt also Manfred Spitzer, hinterlasse der tägliche Umgang mit der elektronischen Technik. Nun ist die Spur eine mehrdeutige Metapher des Sehens oder des Wahrnehmen-Könnens. Die ursprüngliche Bedeutung im Mittelhochdeutschen, sagt der Kluge, war der Fußabdruck; das Verbum spüren leitet sich davon ab; im Hochalemannischen bedeutet die Spur die "vom Tauwasser verursachte Rinne im Boden" (S. 734). Für uns schließlich verflüchtigt sich heute die Spur auch in Spurenelemente oder in den Hauch eines Verdachts. Manfred Spitzers Rede von der Spur beteuert die Einfachheit des methodischen Problems, Wirkungen zu erfassen. Denn wie kann man die Spuren im Gehirn, diesem Milliarden-fach vernetzten System, nachweisen?
Gar nicht. Man kann in Experimenten Aufgaben stellen - beispielsweise Leute auf der Tastatur mobiler Telefone Wörter schreiben lassen und die Zahlenkombinationen dieser Wörter nach verschiedenen Hinsichten abfragen (auf der Tastatur ist ja immer eine Gruppe von drei Buchstaben mit einer Zahl verknüpft) mit der Hypothese, dass sich bestimmte unbemerkte Verknüpfungsmuster von Buchstaben und Zahlen in den Antworten finden lassen - und die Leistungen korrelieren. Statistische Korrelationsverfahren rechnen Regelmäßigkeiten heraus und prüfen die Wahrscheinlichkeit, inwieweit sie zufällig zustande gekommen sind.
Mit dem Nachweis von Spuren im Gehirn hat das nichts zu tun. Spuren im Gehirn kann man nicht ausmachen. Aus den Leistungen eines Menschen kann man hypothetische Muster kognitiver Leistungen erschließen - mehr nicht. Die Rede von den Spuren im Gehirn ist imperialistische Wissenschaftspolitik. Das Gehirn soll das psychische System - oder wie Sigmund Freud es nannte: das seelische Geschehen - ersetzen. Aber das Gehirn ist methodisch nicht zugänglicher als die Psyche. Der Autor verspricht mehr, als er einlösen kann. Was kann er vorlegen?
Das Bearbeiten der Tastaturen mobiler Telefone übt Verknüpfungen ein und trainiert Fertigkeiten. Dieser Befund ist keine Überraschung. Was sie für uns bedeuten, muss man sehen. Der Umgang mit dem in das Internet ausgelagerten kulturellen Wissen fördert nicht die mnestische Leistungsfähigkeit. Das ist auch ein alter Hut: Was ich nicht gründlich lerne, behalte ich nicht gut; es versickert. Was ich mir sagen lasse von einem fremden Stichwort-Geber, habe ich möglicherweise bald nicht mehr parat. Aber was ist gründliches Lernen? Es ist affektiv beteiligtes , bedeutungsvolles, lebensgeschichtlich relevantes Lernen - das ständige Durchgehen und Synthetisieren des Aufgenommenen im inneren Dialog; dessen allmähliche Integration ins seelische System. Findet das jetzt nicht mehr statt? Und was ist schlecht am Vergessen? Manfred Spitzer zitiert Untersuchungen, die belegen, dass Studenten sich merken, wo sie etwas finden können, aber nicht, was. Abgesehen davon, dass man punktuelle Resultate aus punktuell angelegten Experimenten schlecht extrapolieren kann als die möglichen Kulturleistungen junger Leute, reicht es für die alltäglichen und mittelfristigen Aufgaben, wenn man weiß, wo und wie man gute Informationen und gute Literatur findet. Für die langfristigen Aufgaben des Forschens sieht das anders aus. Wer vergisst, bleibt locker und beschwert nicht sich mit irgendeinem Bildungskrempel. Man kann darauf vertrauen, dass man das für einen Wichtige parat hat.
Und macht das Navigationssystem im Auto passiv, wie Manfred Spitzer befürchtet? Sicher, es etabliert eine neue Abhängigkeit beim Autofahren. Aber vor allem verlassen wir uns doch auf die Funktionstüchtigkeit unseres Fahrzeugs. Wenn wir dem Navigationssystem nicht trauen, dürfen wir auch der komplizierten Elektronik unserer Autos nicht trauen. Nein, im Gegenteil: das System der Ortskundigkeit entlastet; es ist ein Segen in fremden Städten. Für die älteren Herren am Steuer - Manfred Spitzer ist Jahrgang 1958 - ist es vielleicht unsportlich, aber warum muss man sich anstrengen, wenn man sich nicht anstrengen muss? Natürlich muss man der Dame des Abbiegens gegenüber kritisch bleiben, wohin sie einen zu führen beabsichtigt. Aber das sollte man ja immer - vor allem in Geschäftsbeziehungen. Manfred Spitzer nennt das unsere mentale Bequemlichkeit (S. 753). Was ist, fragt er, wenn der Strom ausfällt? "Wenn mir jedoch das Wissen abgedreht wird", schreibt er, "was dann? Welche Bücher muss ich dann parat haben? Und wenn alles in die Wolke ausgelagert ist und die verflüchtigt sich?"
Ja, was dann? Dann machen wir Pause und besinnen uns im Kreis unserer Lieben auf das, was wir haben und können.
Donnerstag, 6. Oktober 2011
Steve Jobs ist tot
Steve Jobs konnte aus einer Geschäftsbeziehung eine fantasierte persönliche Beziehung machen. Apple-Geräte sind persönlich adressiert. Sie sind offenbar sehr persönlich entstanden. Sie sind, gewissermaßen, seine Texte. Sie schließen einen ein - man ist verbunden und nicht ausgeschlossen. Seine Stanford-Rede über seinen Werdegang rührte mich zu Tränen. Er schuf Produkte oder regte sie an (wer kann das von außen gesehen wissen?), die die Komplexität unserer Wirklichkeit nicht leugnen, aber das Gefühl bestärken, damit zurecht zu kommen und seine Wünsche und Interessen leben zu können. Er repräsentierte das Paradox des demokratischen Geschäftsmannes und des spielerischen Künstlers. Er hat in mein Leben eingegriffen und es bereichert.
Dienstag, 4. Oktober 2011
Verzichten oder nicht verzichten - das ist die Zukunftsfrage
Welchen Verzicht er meinte, sagte Dieter Zetsche im ersten Interview nicht. Klar ist: Auf die schönen Mercedes-Limousinen und Mercedes-Cabrios sollen wir nicht verzichten. Zunehmend knappe natürliche Ressourcen hin oder her. Demnächst fahren wir mit Brennstoffzellen und Wasserstoff oder mit Elektrizität. Irgendwie kriegen die Techniker das hin. Als wären 40 Jahre nicht ins Land gegangen, fantasiert Dieter Zetsche in einem anderen Interview von großen Markt-Gewinnen mit großen Autos: "Mercedes gehört auch beim Absatz an die Spitze", sagte er Carsten Knop und Susanne Preuß von der FAZ (10.9.2011, S. 22). Wir wurschteln uns durch und weiter. An die Endlichkeit unserer Vorräte denken wir schon, aber nicht sehr. So kann man den Subtext der Interviews übersetzen. - So war es Anfang der 70er Jahre, so ist es heute. Hat sich etwas geändert? Dieter Zetsche, Chef einer großen Firma, macht Politik - mit dem ungeklärten Mandat seiner Kunden, die gern in die Zukunft zurück schauen. Er schafft die Fakten für Kosten, die wir noch nicht kennen. Die inoffizielle Politik ist mächtig, die offizielle Politik, die von uns gewählt wurde, nicht. Anders gesagt: die inoffizielle Politik ist mächtig, weil die offizielle Politik unsicher ist; mit der so genannten Abwrack-Prämie gab sie, aber forderte nicht. Lebenstüchtig wird man so nicht - lehrt zumindest die Eltern-Praxis.
Montag, 3. Oktober 2011
What a glorious day - I'm singin' in the rain!
Wach muss man sein
Montag, 4. Juli 2011
"Brennend heißer Wüstensand...schön war die Zeit, schön war die Zeit" (memories are made of this)
Wenn es so einfach wäre. Wie immer, diese Einsicht hatte Ludwig Marcuse als Erinnerung auf seinen Schreibtisch platziert, ist alles komplizierter. Ein Autor wie Günter Grass hat die Personen im Blick, nicht die Strukturen von Systemen, nicht die komplexen Bewegungen dessen, was man Öffentlichkeit nennt, was Öffentlichkeit bewegt und worauf sie sich blitzschnell, Affekt-sicher abstimmt, ohne sich abzustimmen. Was macht eine so gute Zeitung wie die SZ, wenn in N.Y.C. der Chef des I.W.F. verhaftet und der Öffentlichkeit präsentiert wird? Wenn sie darüber berichtet, trägt sie zu einem kakophonen Chor aus Vorurteilen, Ressentiments, mächtigen voyeuristischen und kannibalistischen Affekten bei und wird von den Positionen seiner Leserinnen oder seine Leser vereinnahmt. Den Sachverhalt zu sortieren braucht Zeit, Geduld und kühle Köpfe. Wenn sie nicht darüber berichtet, wird sie nicht gelesen. Es gibt auch für die Öffentlichkeit, wie Paul Watzlawick das für die alltägliche Kommunikation gesagt hat, kein Entkommen. Was macht also eine Zeitung wie die SZ? Kein Wort dazu von Günter Grass. Wie bezieht eine Zeitung eine demokratisch angemessene Position? Die SZ riskiert mehr und mehr über die Subtexte der öffentlichen Diskussion zu sprechen. Ist das angemessen? Sollte sie es mehr tun? Das Fernsehen serviert uns die Welt in fragmentierten, Kontext-losen Nachrichten und betreibt das folgenreiche Geschäft der Angst-Regulation. Sollen die Zeitungen die Kontexte nachliefern? Na klar. Aber wie weit? In Reportagen von vierzig Seiten? Wer liest sie? Was kann eine Zeitung wie die SZ verkraften? Was ist für sie wirtschaftlich? Ihre Jahrgänge auf CDs zu vertreiben ist nicht mehr wirtschaftlich. Das aktuelle Lexikon - ein höchst verdienstvolles Büchlein - zu vertreiben ist nicht mehr wirtschaftlich. Was kann also eine Zeitung tun? Fragen über Fragen. Kein Wort dazu von Günter Grass, der den journalistischen Alltag und dessen System-Bedingungen offenbar nicht kennt, wohl die Geschichte mit den mächtigen oder vermeintlich mächtigen Anzeigen-Kunden. Die hätte ich gern Einzelfall für Einzelfall erzählt - von einem tapferen Autor.
Günter Grass schwärmt von den alten Zeiten, vom existenzialistischen Grundproblem. Das Problem ist, wie wir das Grundproblem im Alltag leben, gestalten oder nicht gestalten. In mancher deutscher Literatur erkenne ich das Getriebe meines bundesdeutschen Alltags nicht wieder; mir fehlt eine intime Kenntnis von Organisationen, von Systemen. Aus dem letzten Roman, den ich von Martin Walser gelesen habe - Der Tod eines Kritikers von 2002 - , habe ich zwei Klischees entnommen: der Kritiker fuhr einen Jaguar - leider sagte er nicht, welchen (Max Frisch fuhr einen Jaguar 420, sein Verleger einen Jaguar XJ) - und legte seinen gelben Kaschmir-Pullover auf die Motorhaube - leider sagte er nicht, ob er aus einer schottischen oder italienischen Strickerei stammte (Jerome David Salinger stattete die Mitglieder seiner Glass-Familie mit dieser Strickware aus). Ich habe dem Text nicht entnehmen können, wie unser Literaturbetrieb funktioniert. Dabei müsste Martin Walser doch ein intimer Kenner sein.
Günter Grass sagte über seine Berufsgruppe: "Vielleicht deshalb, weil wir Schriftsteller ohnehin kritisch miteinander umgehen, was Journalisten so gut wie nie tun". Ich kenne keine Berufsgruppe, deren Mitglieder sich gern kritisieren. Als Winfried Georg Sebald seine Bilanz der westdeutschen Nachkriegsliteratur zog in Luftkrieg und Literatur (1999), gab es ein Riesengeschrei. Hans Magnus Enzensberger meinte: Schlecht recherchiert. Aber vor ein paar Tagen, am 25./26.6.2011, veröffentlichte die SZ Michael Kleebergs Text Die Erfindung des Helden der Flakhelfer-Generation. Vor fünfzig Jahren starb Ernest Hemingway - er war das große Vorbild der jungen deutschen Autoren nach 1945. Aber waren sie wirklich seine Schüler? Sie waren es offenbar nicht.
Montag, 6. Juni 2011
Florian tried to outdo Alfred Hitchcock
Dienstag, 24. Mai 2011
Wer eiert, verliert das Gleichgewicht
"Aber immer deutlicher wird, dass die noch im Herbst beschlossene Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke ein historischer Fehler war. Es war von Anfang an eine Politik gegen die Mehrheit der Menschen", schreibt Stefan Braun. Deshalb erhielt die Regierungspartei am Sonntag in Bremen die Quittung. Was ist ein historischer (politischer) Fehler? Stefan Braun meint offenbar einen taktischen Fehler: Gegen die Mehrheit der Menschen könne man nicht regieren. Genau das ist das Missverständnis: Es geht nicht um Taktik, es geht um die Sache und um die Überzeugung, wie diese Sache einzuschätzen ist. Klar ist: Innerhalb von 24 Stunden (s. meinen Blog vom 14.3.2011 ) wechselte die Regierung ihren Standpunkt und demonstrierte, dass sie keinen Standpunkt hatte. Klar ist, dass unsere Regierung Fantasie-los war und die schlimmsten - sehr realen - Befürchtungen der Leute nicht im Blick hatte, weil sie die Reichweite von Wahrscheinlichkeitssaussagen nicht einschätzen konnte. Die Überzeugungslosigkeit wurde in Bremen quittiert. Überzeugungslosigkeit einer Regierung bedeutet: Sie gibt keine Orientierung; sie weiß nicht, was wichtig ist; sie schätzt die Welt unscharf ein. Sie eiert. Wer eiert, verliert Vertrauen und Überzeugungskraft.
Ein Wort noch zum impliziten Politik-Verständnis der Formel gegen die Mehrheit der Menschen. Im Idealfall besteht der demokratische Prozess im Austausch mehr oder weniger überzeugender Argumente; das plausibelste sollte sich durchsetzen. Nicht der kleinste gemeinsame Nenner von Argumenten. Der gilt im Jargon der öffentlichen Diskussion als das politisch Machbare, das gewissermaßen ausgemessen wird wie die Handlungsanleitungen der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten, die sich an den Einschaltquoten orientieren und mittlerweile am Einschaltquoten-Syndrom leiden. Eine Regierung wird gewählt, um die Lebensinteressen ihrer Wählerinnen und Wähler zu schützen und sie zu überzeugen, welche Planungen, Konzepte und Interventionen angemessen sind - gerade dann, wenn sie einem gegen den sprichwörtlichen Strich gehen. Nicht, um sich vorwiegend an ihrem Interesse an der Wiederwahl zu orientieren.
Dienstag, 10. Mai 2011
"Gerne!"
Seit kurzem kursiert das Adverb gern als Antwort "Gerne!" auf eine Bitte, eine Bestellung oder auf einen Auftrag in Hotels, Restaurants, Geschäften, Auskunftsdiensten - ich bin immer wieder überrascht und denke: Ich höre nicht richtig. Gerne. Welche Beratungsfirma hat diese Antwort implantiert?, wüsste ich gern. Die Grundbedeutung gibt der Kluge mit begierig an. Verhüllt das Adverb nur die Geschäftsinteressen? Jedenfalls klingt es freundlich und entgegen kommend. Das im privaten wie geschäftlich orientierten, nordamerikanischen Alltag gebräuchliche you're welcome - vielleicht das Vorbild für die Erfindung des deutschen gerne als Interaktionsformel - ermuntert, die nächste Bitte oder Frage zu stellen. Wollen Sie noch ein Bier? - Gerne, ist mir schon mehrmals rausgerutscht. Es ist gar nicht einfach, es nicht und anders zu sagen. Wir sagen es uns schon zu Hause.
(Überarbeitung: 21.10.2021)
Montag, 9. Mai 2011
Rache ist sauer
Was ist mit der vergnüglichen Reaktion auf Osama bin Ladens Tod? Die Bundeskanzlerin sagte am 2. Mai 2011 (SZ vom 3.5.2011): "Ich freue mich, dass es gelungen ist, Osama bin Laden zu töten". Wie zur Milderung ihres Satzes schob sie die triviale Feststellung hinterher, dass (sinngemäß) Osama bin Laden nicht mehr in der Lage wäre, terroristische Pläne zu entwickeln. Darf die Bundeskanzlerin sich in der Öffentlichkeit wie eine Kinogängerin freuen? Nein, sie äußerte sich im Rahmen ihres Amtes, das sie auf die Rechtsstaatlichkeit und die Philosophie unseres Rechtssystems verpflichtet. Weshalb der Hamburger Richter Heinz Uthmann sie wegen Belohnung und Billigung einer Straftat anzeigte. Ihr Satz sprach das Vergnügen einer Kinogängerin aus, die die Realität des toten Osama bin Laden mit dem unvermeidlichen Opfer-reichen Leinwand-Einsatz eines Bruce Willis oder Steven Seagal verwechselte. Wenige Wochen zuvor hatte sie den Betrug ihres Verteidigungsministers gebilligt und belohnt und die Ethik von Wissenschaft verhöhnt, als sie über den wissenschaftlichen Assistenten spottete. Ihr Satz lässt nicht erkennen, dass sie die Komplexität der Implikationen der Erschießung Osama bin Ladens im Blick hatte - weder unsere Ethik des Todes, noch das Problem des Rechts und des Völkerrechts, noch die Frage der Wirkungen der U.S.-Intervention auf die Organisation und Macht-Hierarchie des al-Qaida-Gefüges und auf die befreundeten oder sympathisierenden gesellschaftlichen und religiösen Gefügen verschiedener Länder.
Es ist die Frage, wie gut die U.S.-Regierung die Organisation und die Machtverhältnisse des terroristischen Gefüges und damit die Bedeutung, Funktion und Macht von Osama bin Laden kannte und die Folgen ihrer Intervention abschätzen konnte. Die Konzentration auf den exponierten Repräsentanten läuft Gefahr, dessen Status zu überschätzen und die Dialektik und die Organisation von Macht zu unterschätzen. Das Narrativ des Tyrannenmordes ist insofern naiv, als es für komplexe Gesellschaften nicht die Strukturen berücksichtigt, die dem Tyrannen dessen Status zuweisen. Deshalb ist für den deutschen Kontext die Frage, ob und wie die Exekution Adolf Hitlers die deutsche Katastrophe aufgehalten hätte; denn der Chef der nationalsozialistischen Regierung, die nicht regierte, wurde getragen und unterstützt von einer Reihe krimineller Organisationen und Strukturen, deren Repräsentanten möglicherweise nicht ohne Gegenwehr auf ihren Macht-Status und Macht-Einfluss verzichtet hätten. Die Freude über Osama bin Ladens Tod ist unangebracht. Wir sind nicht im Kino, wo die Toten keine Toten sind. Der Hergang der U.S.-Intervention ist ebenso ungeklärt wie ihre Auswirkungen offen sind. Unsere Bundeskanzlerin sollte das wissen.
Freitag, 15. April 2011
Oh, oh, was haben wir nur getan?
"Erste Berechnung der Bundesregierung" (unterstrichen; Schriftgröße: zehn Punkte);
"Energiewende kostet Milliarden" (fett; Schriftgröße: einundzwanzig Punkte);
"Schnellerer Ausstieg aus der Atomkraft wird Bürger stark belasten/Merkel trifft sich mit Ministerpräsidenten" (fett; Schriftgröße: zehn Punkte).
Auf der vierten Seite der SZ beschreibt die Kommentartorin oder der Kommentator den an die Bürger adressierten Subtext dieser Meldung: "Das habt ihr jetzt davon". "Angstmache mit steigenden Kosten", nennt das die SZ, ein weiteres "Ablenkungsmanöver", dass unsere Bundesregierung erst jetzt zu rechnen anfängt. Hätte sie das nicht im vergangenen Jahr tun müssen? Hätte sie das nicht schon längst wissen können? Seit den 70er Jahren wissen wir, dass die Folgekosten des mit der Atom-Energie erzeugten Stroms unbezahlbar sind. Wird seitdem nicht ständig nachgerechnet, wie die dringendsten entstehenden Kosten aussehen? Die Bundesregierung rauft sich in der Öffentlichkeit die Haare. Wer mag sich diese Inszenierung der Hilflosigkeit ausgedacht haben?
Was wir sagen, was wir tun
Nein, könnte man sagen: Gutes Vorbild Arzt. Denn dieser Mediziner ist für sich selbst vorsichtig und unternimmt nicht alles, was die Branche empfiehlt - so könnte man doch dessen Verhalten verstehen. Er selbst hält sich aus dem Geschäft heraus. Er ist nicht ohne weiteres Kunde. Er lässt sich sich von dem medizinischen Angst-Management, das den unverfänglichen Namen Vorsorge trägt, nicht einfangen und nicht treiben. Er lebt mehr in den Momenten der Gegenwart und nicht so im Ausfantasieren der künftigen späten Jahre, in denen er in blendender Kondition nachholt, was ihm bis dahin nicht gelang. Man müsste genau überprüfen, was Mediziner für sich selbst tun. Vielleicht enthält ihr Selbst-Management ausreichend vernünftige Handlungen, mit deren Auflistung sich die Kosten unseres Gesundheitssystems schlagartig reduzieren ließen.
Samstag, 26. März 2011
Nebelige Kontexte und vernebelnde Wörter
Gestern, am Freitag, den 25.3.2011, interviewte eine WDR-Journalistin einen Gewerkschaftler, der zu der Gesprächsrunde gehören wird, die die Bundesregierung vor Tagen unter dem Namen Ethikkommission einberief . Die Journalistin benutzte das Fremdwort Moratorium. Sie machte den Kontext, in dem die Vokabel vor wenigen Tagen in der öffentlichen Diskussion aufgetaucht war, nicht deutlich. Die Bundeskanzlerin und der Bundesaußenminister hatten sie am Montag, den 21.3.2011, in der Pressekonferenz als eine dreimonatige Phase des Nachdenkens eingeführt - neben der Entscheidung, sieben Atom-Kraftwerke für diese Zeit zurückzufahren. Das war erstaunlich, weil sich die Bundeskanzlerin am Abend zuvor in dem Interview mit Ulrich Deppendorf von der ARD sehr zurückhaltend zu ihrer Energiepolitik geäußert und keinen Grund gesehen hatte, sofort zu handeln. Dieser Kontext der taktischen Kehrtwende versickerte buchstäblich in der Vokabel vom Moratorium als der Phase des Aufschubs und des Nachsinnens, wie der Kluge dessen Etymologie angibt - die überstürzte Entscheidung bekam den Anstrich einer soliden, durchdachten Überlegung. Wer dieses schöne Wort lateinischer Herkunft fraglos benutzt, platziert sich auf die Seite der Bundesregierung und wiederholt deren kosmetische Operation. Häufiger Gebrauch nebelt ein und lässt die Schminke vergessen. Die nationalsozialistische Regierung war darin Meister.
Freitag, 18. März 2011
Dummheit kommt vor dem Fall
Der Satz ist eine Lüge; denn es gab Harrisburg (1979) und Tschernobyl (1986). In ihrer Dissertation, lässt sich dem Titel ihrer Arbeit entnehmen, arbeitete sie mit "quantenchemischen und statistischen Methoden". Statistische Verfahren prüfen Wahrscheinlichkeiten - das ist das Erste, was man lernt, wenn man sie sich aneignet. Würde sie redlich argumentieren, würde Frau Merkel ihre Ziffer für das absolut Unwahrscheinliche angeben und ihre Fehleinschätzung diskutieren. Sie tut aber so, als hätte sie es nicht gewusst. Wenn sie es nicht weiß, stimmt etwas mit ihrem Status als Wissenschaftlerin nicht. Wenn sie es weiß, wovon ich ausgehe, versucht sie sich an das anzupassen, was ihre Berater ihr angesichts der kommenden Landtagswahlen raten: "Entscheidungsfähigkeit zu zeigen", wie sie das am 2.3.2011 nannte (s. meinen Blog Die Crux mit dem Zeigen vom 3.3.2011). Leider sind ihre Berater schlecht beraten. Ein wissenschaftlicher Assistent würde zumindest für substantielle Argumente sorgen.
Dienstag, 15. März 2011
Doch! Doch! Doch!
1. Eine Wahrscheinlichkeitsaussage sagt nichts über den tatsächlichen Eintritt eines Ereignisses.
2. Die Ereignisse in Japan lehren uns nicht, dass der G.A.U. eintreten kann. Das war schon lange vorher bekannt. In den 70er Jahren wurden alle relevanten Argumente im Kontext der zunehmenden Verknappung der Ölvorräte vorgelegt und diskutiert. Es gab eine Phase engagierter Nachdenklichkeit. Autoren wie Robert Jungk, Klaus Traube oder Bodo Manstein hatten eine große Öffentlichkeit. Es gab, als Sparmaßnahme, an vier Sonntagen im Herbst 1973 von der sozialdemokratischen Regierung verordnete leere Autobahnen. Ausländische Regierungen führten auf ihren Schnellstraßen Geschwindigkeitsbegrenzungen ein. Die Bundesrepublik führte eine empfohlene Geschwindigkeit auf Autobahnen - die so genannte Richtgeschwindigkeit - ein, worauf die bundesdeutsche Autoindustrie mit einer Hochrüstung ihrer Fahrzeuge reagierte. In kurzer Zeit ließ die Nachfrage nach sparsamen Wagen nach. Die Phase der Nachdenklichkeit war zu Ende. Es begann die Phase mächtigen Fantasierens vom wirtschaftlichen Wachstum. Nachdenken war nicht mehr gefragt.
3. Die atomare Technik wurde eingeführt und etabliert als Trostmittel und Versprechen, dass wir uns über die natürliche Endlichkeit keine großen Gedanken machen müssen.
4. Es ist Zeit zu realisieren, dass Naturwissenschaftler dann fantasieren, wenn sie sich keine substantiellen existenziellen Gedanken machen - sondern ihre Fähigkeit und Kontrolle unüberschaubarer Prozesse behaupten. In der heutigen Ausgabe der SZ wird Ralf Güldner, der Präsident des deutschen Atomforums, mit den Worten zitiert: "Nein, die Situation in Japan ist ein einmaliges Ereignis... Eine solche Verkettung ist in Deutschland nicht vorstellbar. Möglicherweise müssen aber Auslegungswerte gegen Ereignisse wie Erdbeben oder Überflutung überprüft werden" (S. 5). Ralf Güldner argumentierte wie unsere Bundeskanzlerin am Sonntag. Seine Fantasielosigkeit sollte nicht als Realitätseinschätzung durchgehen.
5. Unsere Regierung argumentiert Substanz-los. Man muss befürchten, dass taktische Überlegungen dominieren. Weshalb drei Monate zum Nachdenken ausreichen sollen, ist unklar. Der erste Schritt einer substanziellen Politik wäre das Eingeständnis einer Fehleinschätzung und die Modifikation des gemeinsamen Fantasierens.
Montag, 14. März 2011
Der Bluff mit der Präzision
"In der Pharmokotherapie passiert so gut wie nichts, obwohl wir seit zwei Jahrzehnten 'Dekaden des Gehirns' feiern. Dafür aber hat seit Mitte der 1990er Jahre die Psychotherapie eindrucksvoll ihren Einzug in das Fach gehalten - und sie entwickelt sich beständig weiter".
Mathias Berger erläuterte:
"Der wichtigste Trend ist, dass die großen therapeutischen Schulen sich auflösen. Wir behandeln zunehmend störungsspezifisch, indem wir die besten Bausteine aus kognitiver Verhaltenstherapie, psychodynamischen oder sonstigen Verfahren herausnehmen und daraus maßgeschneiderte Therapien für die jeweilige Störung entwickeln - sei es eine Schizophrenie, eine Angsterkrankung oder eine Depression".
Drei Aspekte dieser zwei Sätze will ich aufgreifen.
1. Die großen therapeutischen Schulen lösen sich nicht auf, sondern fressen sich auf. Psychoanalytische Konzepte werden kannibalisiert. Das Konzept der Abwehr oder der Übertragung wird übernommen, ohne auf deren Autor - in diesem Fall: Sigmund Freud - zu verweisen. Berger spricht von den sonstigen Verfahren, mit denen er die Psychoanalyse meint.
2. Von jedem das Beste. Aus der Kinderstube wissen wir, dass die Märklin-Bauteile nicht mit Lego-Bauteilen verschraubt werden können. Das Gleiche gilt für psychotherapeutische Verfahren, die unterschiedliche Konzepte haben und unterschiedliche Haltungen voraussetzen. Die Baukasten-Fantasie berücksichtig nicht oder verachtet die Architektur von Konzepten.
3. Die Rede von der maßgeschneiderten Präzision enthält ein Missverständnis. Psychotherapie ist die asymmetrische Begegnung zweier Menschen, die eine gemeinsame Sprache des Austauschs finden müssen mit dem Ziel, sich über eine Lebensgeschichte angemessen zu verständigen. Das geht nicht schnell. Das seelische System lässt sich auch nicht ausmessen. Eine fremde Lebensgeschichte zu verstehen ist schwierig. Die maßgeschneiderte Psychotherapie möchte davon absehen; sie möchte niemanden verschrecken. Sie möchte den Einruck erwecken, es ging so einfach zu wie beim Messen des Blutdrucks. Sie suggeriert eine Trennschärfe der Diagnosen. Dabei ist eine psychiatrische Diagnose eine lockere Beschreibung der Symptome oder des Störungsbildes - keine Erklärung, die ein Verständnis voraussetzen würde.
Psychotherapie ist ein hilfreiches und sogar Kosten-günstiges Verfahren. Aber es ist kein einfaches, zügiges Verfahren.
Vielleicht. Vielleicht
Mit anderen Worten: Sie lehnte die Diskussion der Implikationen der Katastrophe ab. Ulrich Deppendorf stand auf verlorenem Posten. Warum? Die Laufzeiten unserer Kraftwerke wurden verlängert. Dazu gibt es eine entsprechende Gesetzesänderung. Frau Merkel sagte uns gestern, ohne es zu sagen: Das können wir so schnell nicht verändern; da kommen wir nicht raus; das wäre zu schwierig. Wieso kann die Bundesregierung das nicht? Nun, sie sagte auch: dass sie die Laufzeiten gar nicht ändern will. Möglicherweise gibt es eine Absprache oder einen deal mit der Energie-Wirtschaft. Es soll eben alles beim Alten bleiben. Das Interview diente der Beruhigung ihrer Wähler, die sie möglicherweise gar nicht wählen werden Ende März.
Kein Wort der Bedenken zu der Atom-Technik. Kein Wort zur Hybris und zur Illusion, man könnte die natürlichen Prozesses ausreichend planen und prognostizieren. Kein Wort zu den ungeheuren menschlichen Kosten dieser Technik. Kein Wort zu dem Notbehelf der Atom-Technik - sie vermeidet das Verbrennen fossiler Stoffe. Kein Wort zum gemeinsamen Fantasieren, man könnte und müsste so weitermachen. Kein Wort zur Alltagsklugheit, dass man nicht alles ausprobiert, was man ausprobieren kann.
Eine gewählte Regierung sollte sich mit den Interessen ihrer Wähler befassen. Wir haben eine Regierung, die sich weigert.
Donnerstag, 3. März 2011
Der Fehler mit dem Fehler
Das ist die schlichte Wahrheit des ehemaligen Verteidigungsministers, der offenbar in den sieben Jahren penibler Heimarbeit sich nicht in der Lage fühlte, einer eigenen Fragestellung selbständig nachzugehen. Das sind natürlich schlechte Voraussetzungen, um ein Ministerium zu leiten. Der Skandal ist, muss man heute vermuten, dass dies im Kabinett schon länger bekannt war, aber geleugnet und vernebelt wurde durch die bekannten medialen Taktiken des Aufbauschens von Glamour und des Verbreitens verlogener Komplimente.
Die Crux mit dem Zeigen
Dass Frau Merkel ihre Interessen durchzusetzen versucht, ist verständlich und übliche Praxis. Man kämpft eben mit den Mitteln, die man hat. Aber dass sie diesen Jargon benutzt, ist schade - und sagt etwas über die Qualität ihrer Beraterinnen und Berater, die ihr zu dieser Formulierung rieten.
Dienstag, 1. März 2011
Ein Betrug ist ein Betrug
Dienstag, 11. Januar 2011
Rente mit 67, 70 oder 80?
Ältere Berufstätige bücken sich ungern und setzen ihre Schritte vorsichtiger - aber sie könnten andere Aufgaben übernehmen: als Mentoren, Supervisoren, Berater, als Vermittler ihrer Erfahrungen, Ausbilder oder Lehrer (im weitesten Sinne). Dafür müsste man die Berufe durchgehen und sehen, welche sich altersgemäß organisieren lassen. Dafür müsste man die starren Grenzen abschaffen und bewegliche Regelungen finden. Es würde weniger Brüche und weniger Verluste - beruflich wie persönlich - geben. Es würde einen eher organischen Übergang in den Abschied des Alters geben. Es würde die Arbeit verändern. Es würde unsere Einstellung zur Arbeit verändern. Es würde unser Fantasieren verändern: Wir könnten die Illusion vom nachgeholten (reparierten) ungelebten Leben aufgeben oder zumindest modifizieren. Wir müssten nicht mehr fantasieren, noch einmal richtig aufdrehen zu müssen - mit dem er-zinsten Motorboot aus den Fonds der Sparkassen. Wir könnten Theodor Wiesengrund Adornos Wort vom richtigen und falschen Leben vergessen. Wir könnten das Alter Alter sein lassen. Wir könnten uns ausruhen. Wir könnten alt werden.