Montag, 17. Oktober 2011

Wenn die (westliche) Welt doch einfach wäre

Gestern titelte der Super Sonntag aus dem Kreis Heinsberg - unsere Frühstücks Lektüre : "Jagt die Zocker vom Börsen-Hocker". Weltweiter Protest gegen die Macht der Finanzmärkte - Netzwerk Attac spricht von 40.000 Demonstranten in Deutschland. Die Hölle, ließ Jean-Paul Sartre den Protagonisten am Ende seines Stückes Huis-clos sagen, das sind die anderen. Dieses Mal die Bankiers, die die Sparte investment banking betreiben. Sicher, sie haben eine Menge Geld durch die Hochleistungskabel geschickt. Aber irgendjemand hat ihnen den Auftrag gegeben. Irgendjemand hat ihnen das Geld gegeben. Am wild gewordenen Geldsummen-Geschiebe sind eine Menge Leute beteiligt. Es gibt so viele Leute - wer will sich da schon ausschließen? -, die gern sehr schnell sehr reich werden möchten und deren Fantasien mächtig drängen, realisiert zu werden. Demnächst müssen wir womöglich die Suppe auslöffeln vom öffentlich geteilten, delegierten und zur Wirklichkeit gepressten Tagtraum Wie werde ich Millionär oder Milliardär - oder wenigstens Hausbesitzer? 

Ein erschreckendes Missverhältnis

Am Samstag machte der Kölner Stadt-Anzeiger mit zwei Schlagzeilen auf:
1. Kinder - krank an Leib und Seele
2. Merkel legt sich mit Obama an. Kanzlerin verwahrt sich gegen Druck der USA und fordert eine Finanzmarktsteuer.
Die Kinder leiden bei uns enorm an der Armut ihrer familiären Systeme, unsere Regierung (vor allem)  an der gewaltigen Verschuldung der EU -  die bundesdeutsche Verschuldung natürlich eingeschlossen. Die Linderung der Verschuldung wird einen drei- bis vierstelligen Milliarden-Betrag kosten und die am dringlichsten notwendige Realisierung des Projekts der sozialen Gerechtigkeit weiter hinausschieben - bis auch die psychosozialen Folgekosten dieses Scheiterns gewaltige Ausmaße erreicht haben werden. Im Augenblick werden wir vorsichtig zur Kasse gebeten, um uns an den Folgekosten des mehr oder weniger intensiv betriebenen Fantasierens vom Erwerb der teuren Repräsentationen von Macht, Status und Glück zu beteiligen. Im Augenblick können wir resümieren, wie das Konzept der fröhlichen Verschuldung wenig der Realitätsbewältigung, aber viel der Wünsche-Inflation gedient hat. Dabei haben wir offenbar unsere Geschichte aus dem Blick verloren: wie die Bundesrepublik aus den Ruinen Deutschlands mit alliierter Hilfe und unter alliierter Aufsicht in dem Schock der Nachkriegszeit und in der Nachkriegsarmut entstand.

Mittwoch, 12. Oktober 2011

Das Loch im Text

Paul Simon wird siebzig Jahre alt, kann man heute in der SZ (13.10.2011, Seite 13) lesen. Ein Wort weckte mein Interesse: das introspektive Gejammer. Paul Simon vermied es, so der Autor des Textes Jonathan Fischer, in der Zeit seiner schweren Lebenskrise. Was ist introspektives Gejammer? Der Autor sagt es nicht. Man kann natürlich Vieles vermuten. Wahrscheinlich hat ein Stück persönlichen Kontextes in den Satz eingeschlagen und das Loch für Fragen hinterlassen.

Die Mücke und der Elefant

Auf der Wissen-Seite der SZ von heute (S. 16) kann man einen Text lesen, dessen Überschriften lauten:
"Spülung für die Seele. Wer sich wäscht, fühlt sich auch frei von Schuld".
Der Text beginnt: "Wenn sich Menschen waschen, reinigt das auch ihre Seele". Unsere Kulturgeschichte von ein paar Tausend Jahren wird ins Spiel gebracht. Die Reinigung der Seele. 

Der zweite Satz lautet: "Mit dem Wasser verschwinden die schlechten Gefühle ebenfalls im Abfluss, berichten die Psychologen Spike Lee und Norbert Schwarz von der Universität Michigan in einer Übersichtsarbeit (Current Directions in Psychological Science, online)". Das Internet ist eine Bibliothek ohne Öffnungszeiten - leider fehlt ein umfassendes Verzeichnis. Ich habe jedenfalls die Arbeit in ihrer Kurzform mit dem Titel Washing Away Post-Decisional Dissonance (drei Seiten Text) nachgelesen. Was haben Spike Lee und Norbert Schwarz untersucht? Sie ließen 40 Studenten aus 30 CDs zehn CDs auswählen, die sie gern besitzen würden, und sie baten die Studenten, die zehn CDs in der Reihenfolge ihrer Präferenzen zu sortieren. Die jeweilige fünf- oder sechstbeliebste CD konnten sie als eine Art Anerkennung behalten. Anschließend wurden die Studenten zu einer flüssigen Seife befragt. Die eine Hälfte der Studenten beschäftigte sich nur kurz mit der Seife, die andere Hälfte wusch sich damit die Hände. Dann folgte, was die Psychologen filler task nannten - offenbar mussten die Studenten die Flaschen mit der Seife füllen - , und danach mussten die Studenten erneut die zehn  CDs in der Reihenfolge der Attraktion sortieren.

Spike Lee und Norbert Schwarz gingen davon aus, dass die Studenten, die sich entweder für die fünft- oder sechsbeliebste CD entschlossen hatten, auch gern die jeweils andere CD gewählt hätten, weswegen sie einen Konflikt erleben würden  - was Leon Festinger 1957 eine kognitive Dissonanz genannt hatte - ; sie vermuteten, dass die Studenten Anstrengungen unternehmen würden, ihre Wahl für sich zu rechtfertigen, um die Dissonanz oder den Konflikt zu mildern oder zu beseitigen. Den (vermuteten) inneren Umgang mit dem Konflikt untersuchten die Psychologen nicht. Wir erfahren nichts über die CDs und über die Wahlen der Studenten. Sie verglichen und korrelierten die Präferenz-Wahlen der Studenten, die sich mit der Seife wuschen, mit den Listen der Studenten, die die Seife links liegen ließen. Was kam heraus? Die Studenten, die die Seife nicht ausprobiert hatten, bestärkten ihre Wahlen; die Studenten, die sie benutzt hatten, nicht. Was schlossen Spike Lee und Norbert Schwarz daraus?

Sie schrieben: "Thus, hand-washing significantly reduces the need to justify one's choice by increasing the perceived differences between alternatives". Das hatten wir schon einmal. In den 60er Jahren wurde für ein Geschirrspülmittel mit der viel versprechenden Formel Pril entspannt das Wasser geworben. Dieses Mal war es Flüssigseife, und es ging um die kognitive Dissonanz, die einen umzutreiben vermutet wird, wenn man sich entscheiden muss zwischen zwei CDs, weil einem nur eine geschenkt wird. Viel Lärm um nichts. Weder prüften die Psychologen ihre Vorannahmen; ein F-Test - ein statistisches Prüfverfahren - reichte. Noch bedachten sie die Implikationen ihrer Spekulation. Und, das ist die instruktive Seite, die SZ extrapoliert die Spekulation für einen flotten, abfälligen Titel. Wir erfahren, wie Forschung ungeprüft weitergereicht wird im Betrieb der vermeintlich relevanten Nachrichten. Und wir können den Versuch sehen, die komplexe Struktur des seelischen Systems ins Waschbecken der Verachtung zu pressen (s. meinen Blog vom 11.11.2010 Die Zähigkeit des neurowissenschaftlichen Aberglaubens).    

Montag, 10. Oktober 2011

Was ist eine Blase?

What do get when you fall in love?, fragte Burt Freeman Bacharach (zusammen mit Hal David) 1968. A pin to burst your bubble, war seine Antwort. Bubble ist das englische Wort für Blase. Das Englische sei gestattet, weil es um Steve Jobs geht. Am 7. Oktober, zwei Tage nach Steve Jobs Tod, schrieb in der SZ (im Wirtschaftsteil) Karl-Heinz Büschemann: "Spätestens jetzt muss jedem klar sein, dass der Apple-Erfolg eine Blase ist. Jobs verkaufte weiter seine Produkt-Religion" (S. 19). Auf der Seite Drei der SZ vom selben Tag titelte Bernd Graff seinen Text mit dem anderen Tonfall: "Ohne dich. Was für ein Spinner, was für ein Hippie, was für ein Verkäufer - was für ein Genie. Zum Tode des Apple-Gründers Steve Jobs". Was ist eine Blase? Wenn Burt Bacharach recht hat: eine Liebesbeziehung. Liebesbeziehungen leben, darauf wies der englische Psychoanalytiker und Kinderarzt Donald Woods Winnicott hin, von sich überlappendenden, gegenseitig investierten oder, wenn man es nicht so geschäftlich will, projizierten Illusionen. Illusionen, weiter gedacht, sind Fantasien über unsere Wirklichkeiten. Fantasien über Status, Macht und Glück befeuern unsere kapitalistischen Systeme.

Warum spricht der Wirtschafts-Journalist Karl-Heinz Büschemann von der Blase? Wahrscheinlich ist er besorgt. Wir hatten die IT-Blase und leiden noch unter der Immobilien-Blase. Jetzt schlagen sich die EU-Politiker mit der riesigen Verschuldung herum, die offenbar das Produkt vieler Blasen ist. Gilt das auch für Apple? Sicher nicht. Denn die Millionen-fach verkauften Produkte sind doch wahrscheinlich bezahlt; höchstens sind deren Käuferinnen und Käufer verschuldet. Was die Firma verdient, kann  man nachlesen in ihrer Bilanz; was sie wert ist, ist eine andere Geschichte. Was ist schlimm daran, wenn die Produkte einer Firma sehr geschätzt werden? Büschemann missfällt die Produkt-Religion. Er sorgt sich um die Kundinnen und Kunden von Apple: Sie sind herein gefallen - glaubt er. Er missioniert: Er möchte sie schützen. Leider sind die Produkte der Kalifornier zu schön und zu funktionstüchtig, um sie aufzugeben. Ich hänge an meinem notebook von Apple; ich möchte es nicht hergeben. Ich möchte keinen anderen Rechner. Es ist die alte Geschichte heftig gepflegter Vorlieben und Abneigungen, mit denen die eigenen Lebensentscheidungen ausgepolstert werden. Manche Kölner sind da einigermaßen entspannt; sie sagen: Man muss och jünne künne. Steve Jobs hatte verstanden, was ich mir von einem Rechner wünsche. Das finde ich enorm. Er lebte vor, wie man dem folgt, woran das Herz hängt. Das finde ich enorm tröstlich. Er war kein Heiliger, sondern ein kluger, rigoroser Geschäftsmann.

Ist die elektronische Technologie zu komfortabel?

"Was immer wir mit unserem Gehirn tun, hinterlässt in ihm Spuren, und so geht auch die Benutzung elektronischer Medien nicht spurlos an uns vorbei", schreibt Manfred Spitzer in seinem neuesten Text Auslagern ins Wolkengedächtnis? Auswirkungen des Gebrauchs elektronischer Medien auf unser Gehirn (Nervenheilkunde 10/2011, S. 749 - 754). Der Satz dreht sich im Kreis. Doppel genäht hält besser, könnte man sagen. James Hadley Chase, der britische Autor robuster Kriminalromane, wusste das schon: There is always a price tag, lautet einer seiner Titel. Die Kölner sagen das in verneinter Form: Von Nix kütt Nix.


Spuren, schreibt also Manfred Spitzer, hinterlasse der tägliche Umgang mit der elektronischen Technik. Nun ist die Spur eine mehrdeutige Metapher des Sehens oder des Wahrnehmen-Könnens. Die ursprüngliche Bedeutung im Mittelhochdeutschen, sagt der Kluge, war der Fußabdruck; das Verbum spüren leitet sich davon ab; im Hochalemannischen bedeutet die Spur die "vom Tauwasser verursachte Rinne im Boden" (S. 734). Für uns schließlich verflüchtigt sich heute die Spur auch in Spurenelemente oder in den Hauch eines Verdachts. Manfred Spitzers Rede von der Spur beteuert die Einfachheit des methodischen Problems, Wirkungen zu erfassen. Denn wie kann man die Spuren im Gehirn, diesem Milliarden-fach vernetzten System, nachweisen?

Gar nicht. Man kann in Experimenten Aufgaben stellen - beispielsweise Leute auf der Tastatur  mobiler Telefone Wörter schreiben lassen und die Zahlenkombinationen dieser Wörter nach verschiedenen Hinsichten abfragen (auf der Tastatur ist ja immer eine Gruppe von drei Buchstaben mit einer Zahl verknüpft) mit der Hypothese, dass sich bestimmte unbemerkte Verknüpfungsmuster von Buchstaben und Zahlen in den Antworten finden lassen - und die Leistungen korrelieren. Statistische Korrelationsverfahren rechnen Regelmäßigkeiten heraus und prüfen die Wahrscheinlichkeit, inwieweit sie zufällig zustande gekommen sind.

Mit dem Nachweis von Spuren im Gehirn hat das nichts zu tun. Spuren im Gehirn kann man nicht ausmachen. Aus den Leistungen eines Menschen kann man hypothetische Muster kognitiver Leistungen erschließen - mehr nicht. Die Rede von den Spuren im Gehirn ist imperialistische Wissenschaftspolitik. Das Gehirn soll das psychische System - oder wie Sigmund Freud es nannte: das seelische Geschehen - ersetzen.  Aber das Gehirn ist methodisch nicht zugänglicher als die Psyche. Der Autor verspricht mehr, als er einlösen kann. Was kann er vorlegen?

Das Bearbeiten der Tastaturen mobiler Telefone übt Verknüpfungen ein und trainiert Fertigkeiten. Dieser Befund ist keine Überraschung. Was sie für uns bedeuten, muss man sehen. Der Umgang mit dem in das Internet ausgelagerten kulturellen Wissen fördert nicht die mnestische Leistungsfähigkeit. Das ist auch ein alter Hut: Was ich nicht gründlich lerne, behalte ich nicht gut; es versickert. Was ich mir sagen lasse von einem fremden Stichwort-Geber, habe ich möglicherweise bald nicht mehr parat. Aber was ist gründliches Lernen? Es ist affektiv beteiligtes , bedeutungsvolles, lebensgeschichtlich relevantes Lernen - das ständige Durchgehen und Synthetisieren des Aufgenommenen im inneren Dialog; dessen allmähliche Integration ins seelische System. Findet das jetzt nicht mehr statt? Und was ist schlecht am Vergessen? Manfred Spitzer zitiert Untersuchungen, die belegen, dass Studenten sich merken, wo sie etwas finden können, aber nicht, was. Abgesehen davon, dass man punktuelle Resultate aus punktuell angelegten Experimenten schlecht extrapolieren kann als die möglichen Kulturleistungen junger Leute, reicht es für die alltäglichen und mittelfristigen Aufgaben, wenn man weiß, wo und wie man gute Informationen und gute Literatur findet. Für die langfristigen Aufgaben des Forschens sieht das anders aus. Wer vergisst, bleibt locker und beschwert nicht sich mit irgendeinem Bildungskrempel. Man kann darauf vertrauen, dass man das für einen Wichtige parat hat.

Und macht das Navigationssystem im Auto passiv, wie Manfred Spitzer befürchtet? Sicher, es etabliert eine neue Abhängigkeit beim Autofahren. Aber vor allem verlassen wir uns doch auf die Funktionstüchtigkeit unseres Fahrzeugs. Wenn wir dem Navigationssystem nicht trauen, dürfen wir auch der komplizierten Elektronik unserer Autos nicht trauen. Nein, im Gegenteil: das System der Ortskundigkeit  entlastet; es ist ein Segen in fremden Städten. Für die älteren Herren am Steuer  - Manfred Spitzer ist Jahrgang 1958 - ist es vielleicht unsportlich, aber warum muss man sich anstrengen, wenn man sich nicht anstrengen muss? Natürlich muss man der Dame des Abbiegens gegenüber kritisch bleiben, wohin sie einen zu führen beabsichtigt. Aber das sollte man ja immer - vor allem in Geschäftsbeziehungen. Manfred Spitzer nennt das unsere mentale Bequemlichkeit (S. 753). Was ist, fragt er, wenn der Strom ausfällt? "Wenn mir jedoch das Wissen abgedreht wird", schreibt er, "was dann? Welche Bücher muss ich dann parat haben? Und wenn alles in die Wolke ausgelagert ist und die verflüchtigt sich?"

Ja, was dann? Dann machen wir Pause und besinnen uns im Kreis unserer Lieben auf das, was wir haben und können.            

Donnerstag, 6. Oktober 2011

Steve Jobs ist tot

Gestern starb Steve Jobs. Was für ein Mann! Und was für ein Verlust! Jeden Morgen hole ich mein MacBook Pro aus dem Schreibtisch, klappe es auf und bin zutiefst zufrieden: Es ist ein Gerät, das mir entgegen kommt. Ich bin ein digitaler Analphabet, aber wann immer  ich mir wünschte, wie der Rechner funktionieren sollte, funktionierte er - im Großen und Ganzen. Steve Jobs hatte verstanden, welche Wünsche, Hoffnungen und Sehnsüchte in ein solches Gerät gehen - und wie man gerade nicht ausgeschlossen sein möchte von einer Technik, von der man keine Ahnung hat. Die Erfahrung, nicht mitzukommen, etwas nicht zu verstehen, ist alltäglich und uralt; ich würde sagen: Man tastet sich durchs Leben oder stolpert herum. Das kenne ich, solange ich zurückdenken kann. Mit meinem alten Microsoft-Rechner stieß ich regelmäßig vor eine Wand und kam nicht weiter oder stürzte in das elektronische Labyrinth. Mit meinem notebook äußerst selten. Dann halfen mir die Apple-Leute in Irland. So entstand meine in etwa reale Beziehung zu dem Apple-Produkt und eine fantasierte Beziehung zu dem Chef dieser Firma.

Steve Jobs konnte aus einer Geschäftsbeziehung eine fantasierte persönliche Beziehung machen. Apple-Geräte sind persönlich adressiert. Sie sind offenbar sehr persönlich entstanden. Sie sind, gewissermaßen, seine Texte. Sie schließen einen ein - man ist verbunden und nicht ausgeschlossen. Seine Stanford-Rede über seinen Werdegang rührte mich zu Tränen. Er schuf Produkte oder regte sie an (wer kann das von außen gesehen wissen?),  die die Komplexität unserer Wirklichkeit nicht leugnen, aber das Gefühl bestärken, damit zurecht zu kommen und seine Wünsche und Interessen leben zu können. Er repräsentierte das Paradox des demokratischen Geschäftsmannes und des spielerischen Künstlers. Er hat in mein Leben eingegriffen und es bereichert.

Dienstag, 4. Oktober 2011

Verzichten oder nicht verzichten - das ist die Zukunftsfrage

"Ich bin davon überzeugt", sagte Dieter Zetsche, Chef von Mercedes-Benz, im Interview mit Martin Scholz und Frank-Thomas Wenzel, den beiden Journalisten des Kölner Stadt-Anzeiger (17./18.9.2011, S. 10), "dass die Zukunft nicht durch Verzicht gewonnen wird". Als das Interview erschien, lief die Frankfurter Automobil-Messe. Mit dem Satz kann man ein kulturwissenschaftliches oder sozialwissenschaftliches Seminar bestreiten. Sigmund Freud hielt den Verzicht für die entscheidende Kultur-Leistung. Andererseits wusste er auch, wie er in seinem Text Der Dichter und das Fantasieren schrieb: Verzichten können wir nicht oder ganz schlecht, eher Verschieben. 1973, als die (westliche) Welt plötzlich realisierte, dass die Öl-Vorräte begrenzt sind, waren bei uns kleine Fahrzeuge sehr gefragt. So kam ich an den Mercedes eines Freundes, der sich einen Polo kaufte. Die Phase der Nachdenklichkeit war kurz; dann setzte die Periode der automobilen Hochrüstung ein - Autos kamen auf den Markt, die 200 km/h und schneller fahren konnten. Zur selben Zeit trommelten die Atom-Propagandisten und versprachen die billige Energie und erklärten unter der Hand den Verzicht für obsolet.

Welchen Verzicht er meinte, sagte Dieter Zetsche im ersten Interview nicht. Klar ist: Auf die schönen Mercedes-Limousinen und Mercedes-Cabrios sollen wir nicht verzichten. Zunehmend knappe natürliche Ressourcen hin oder her. Demnächst fahren wir mit Brennstoffzellen und Wasserstoff oder mit Elektrizität. Irgendwie kriegen die Techniker das hin. Als wären 40 Jahre nicht ins Land gegangen, fantasiert Dieter Zetsche in einem anderen Interview von großen Markt-Gewinnen mit großen Autos: "Mercedes gehört auch beim Absatz an die Spitze", sagte er Carsten Knop und Susanne Preuß von der FAZ  (10.9.2011, S. 22). Wir wurschteln uns durch und weiter. An die Endlichkeit unserer Vorräte denken wir schon, aber nicht sehr. So kann man den Subtext der Interviews übersetzen. -  So war es Anfang der 70er Jahre, so ist es heute. Hat sich etwas geändert? Dieter Zetsche, Chef einer großen Firma, macht Politik - mit dem ungeklärten Mandat seiner Kunden, die gern in die Zukunft zurück schauen. Er schafft die Fakten für Kosten, die wir noch nicht kennen. Die inoffizielle Politik ist mächtig, die offizielle Politik, die von uns gewählt wurde, nicht. Anders gesagt: die inoffizielle Politik ist mächtig, weil die offizielle Politik unsicher ist; mit der so genannten Abwrack-Prämie gab sie, aber forderte nicht. Lebenstüchtig wird man so nicht - lehrt zumindest die Eltern-Praxis.

Montag, 3. Oktober 2011

What a glorious day - I'm singin' in the rain!

Es ist jammerschade, dass die Autoren mancher in der Öffentlichkeit kursierender Begriffe nicht genannt werden. Vermutlich sind es Ministerialbeamte. Der Autor oder die Autorin des Moratoriums ist unbekannt. Der Autor oder die Autorin des Rettungsschirms auch. Wer hat sich wann diesen Begriff in welchem Büro oder Restaurant (oder wo sonst immer) ausgedacht? Er verkleinert die komplizierten EU-Begriffe:  jetzt EFSF (European Financial Stablility Facility) und später (ab 2013) EMS (Europäischer Stablilitäts-Mechanismus). Rettungsschirm. Komm unter meinen Schirm, heißt es. Kann man so jemanden retten? Der Einzige, den ich kenne, der sich mit einem Schirm schnell bewegen konnte, war Gene Kelly. Aber wenn man sich unter einen Schirm drängelt, ist es gemütlich; man kommt sich so nahe. Wahrscheinlich hatte der Autor oder die Autorin diese hübsche Fantasie des Sich-Aneinander-Drückens gemeint. Aber nur Unterkrauchen reicht nicht; einer oder eine muss den Schirm halten. Davon ist beim Rettungsschirm nicht die Rede. Die Metapher impliziert eine schiefe, gar nicht so freundliche Beziehung. Jemand guckt auf jemanden herab. Und schließlich: Wenn sich so Viele unter einen Schirm drängen, braucht man einen Sonnenschirm mit einem Ständer; diese Konstellation ist dann sehr unbeweglich. Gemütlich bleibt es dann nicht lange. Zum Retten kommt man auch nicht. Letzte Frage: Was wollte der Autor oder die Autorin nicht sagen? Antwort: Aus dem Retten mit dem Rettungsschirm wird nichts.

Wach muss man sein

Unsere pfiffige Tochter las mir neulich die Zutaten, die auf der Verpackungshülle wie vorgeschrieben angegeben sind, ihrer Lieblingswurst vor - die Feine Kalbfleisch Leberwurst, delikat gewürzt der Marke Du darfst: Schweinefleisch(37%), Schweineleber (33%), Kalbfleisch (17%); der Rest verteilt sich auf Geschmackstoffe. Das ist nicht neu, dass das, was man erwartet, nicht existiert. Es ist das Spiel mit Bildern, dass mich schläfrig sein lässt; was man glaubt verstanden zu haben, hat man noch längst nicht verstanden. Eine Wurst ist eben nicht eine Wurst. Da schiebt sich eine Menge Marketing, Bilderkunst und Sprachkunst dazwischen.