Mittwoch, 23. November 2011

Sprach-Verwahrlosung

Das neue Buch des französischen Soziologen Alain Ehrenberg ist in diesem Jahr im Suhrkamp-Verlag unter dem Titel Das Unbehagen in der Gesellschaft erschienen. Der französische Titel lautet: La Société du malaise. Wörtlich übersetzt: Die Gesellschaft des Unbehagens. Der Titel wäre genau, aber sperrig. Der Suhrkamp-Titel benutzt den vertrauten Titel der Arbeit von Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur. Natürlich ist das Lektorat frei, die Leistung anderer Autoren für ihr Geschäft zu variieren oder zu paraphrasieren. Aber der Titel schmeckt nicht.

Karl-Theodor zu Guttenberg ist, dank der Unterstützung des Chefredakteurs der ZEIT, zu einer Publikation gekommen: Vorerst gescheitert lautet der Titel. Man kann mit einem Betrug scheitern - das kann man sagen. Aber erweist die Formel vom gescheiterten Betrug dem Betrüger nicht zu viel Ehre? Und besagt sie nicht auch, dass der Betrüger sich aufmachen wird, wieder zu betrügen? Für ein Geschäft verhökert DIE ZEIT die für existenzielle Kontexte normalerweise reservierte Vokabel vom Scheitern und macht den Betrug salonfähig. Geld riecht nicht, sagt man; das Geschäft muss laufen. Wir leben in schwierigen Zeiten (SZ vom 23.11.2011, S. 1).

Dienstag, 22. November 2011

Was wollen wir vom Nationalsozialismus wissen?

Heute, am 23.11.2011, macht die SZ mit dieser Schlagzeile auf: "Bundestag beschämt über Neonazi-Morde" Alle Parteien des Bundestages - "an dem sich auch die Linkspartei beteiligen durfte", ist dort zu lesen - verständigten sich auf einen Entschließungsantrag - eine Erklärung der Scham und des Mitgefühls und der Absicht, "dem Extremismus 'entschieden' entgegenzutreten".

"Wir stehen für ein Deutschland, in dem alle ohne Angst verschieden sein können und sich sicher fühlen - ein Land, in dem Freiheit und Weltoffenheit herrschen", zitiert die SZ aus der Erklärung. Ich finde bemerkenswert, dass unsere Politikerinnen und Politiker den vollen Namen unseres Landes nicht nennen: Bundesrepublik Deutschland. Sie machen keinen Unterschied zum nationalsozialistischen Getöse um Deutschland. Davon abgesehen, kann ich mich nicht an eine ähnliche Geste des Bundestages erinnern, als Anfang der 90er Jahre bundesdeutsche Schläger ihre baseball bats schwangen.

Die Geste der Bundestagsabgeordneten erinnert an den vertrauten westdeutschen Subtext der 50er Jahre, den man so übersetzen kann: Vom Nationalsozialismus wollen wir nichts hören und nichts wissen; wer ihm nachhängt und darüber spricht, wird verachtet und zum Schweigen aufgerufen. Ein Sprechverbot sollte es in einer Demokratie nicht geben. Die Grenze zum strafrechtlich relevanten Sprechen ist gezogen. Deshalb ist ein Verbot der NPD, worüber wieder im Bundestag nachgedacht wird, nicht notwendig. Ich möchte hören können, was die Delegierten dieser Partei sagen. Sie sollten nicht zum sprachlosen Sprechen gezwungen werden. Ende der 60er Jahre fragte das Psychoanalytiker-Ehepaar Alexander und Margarete Mitscherlich in seiner Arbeit Die Unfähigkeit zu trauern,  was aus der riesigen Verehrung des Mannes an der Spitze des braun-schwarzen deutschen Staates geworden wäre. Die Antwort steht noch aus. Wir müssen uns nicht mit einem Verbot vor ihr schützen.