Dienstag, 13. Dezember 2011

Wie wirklich sind die Bilder unserer Wirklichkeiten? I

Eine unfassbare Geschichte aus Deutschland titelt die SZ heute (vom 13. Dezember 2011) die Reportage von Matthias Drobinski auf ihrer Seite Drei : "Geliebter Vater. Im Sommer 2000 erschießen die Neonazis aus Zwickau den Blumenhändler Enver Simsek. Seine Tochter Semiya ist da 14. Sie erlebt, wie der Tote nicht betrauert, sondern jahrelang verdächtigt wird. Eine unfassbare Geschichte aus Deutschland". Die Geschichte ist eine Tragödie und eine Katastrophe. Sie ist unfassbar, weil sie so vertraut ist. Wir leben in der Bundesrepublik Deutschland, aber befinden uns noch in Deutschland.  Sie ist unfassbar, weil sie bestätigt, was wir befürchten uns anszuschauen: dass die wie selbstverständlich kursierenden Bilder des xenophoben, projektiven Ressentiments ein altes, weit verbreitetes, sogar von manchen Mitgliedern der Ermittlungsbehörden geteiltes Vorurteil  einer eliminatorischen Fantasie  transportieren. Deshalb sind die Rede von den so genannten Neonazis und die Anstrengung, die Nationaldemokratische Partei Deutschlands zu verbieten, selbstbetrügerisch: So wird die Illusion perpetuiert, wir könnten die Vorurteilsbereitschaft und die Gewalttätigkeit leicht identifizieren; zugleich statten wir deren lärmende Propagandisten mit dem alten braun-schwarzen Glanz aus. Um ein ausreichendes Verständnis ihres Hasses kommen wir nicht herum. Vor allem sollten wir uns bei den Angehörigen der Mord-Opfer angemessen entschuldigen.  

Mittwoch, 7. Dezember 2011

Unschuldige Verachtung

Von dem Psychoanalytiker Christopher Bollas gibt es das Konzept der innocent violence: Die seelische Wirklichkeit des Anderen wird dadurch bekämpft, dass sie nicht zur Kenntnis genommen wird. Das ist doch nicht so schlimm, lautet die stereotype, freundlich-aggressive Formel. Es gibt auch eine unschuldige Verachtung: Wenn Unterschiede nicht wahrgenommen werden. In der heutigen Besprechung des Nanni Moretti-Films Habemus Papam in der SZ (7.12.2011, S. 11) macht Rainer Gansera keinen Unterschied zwischen dem Psychiater und dem Psychoanalytiker; er spricht sogar vom "psychiatrischen Konzept des Unbewussten". Dass Sigmund Freuds Konzepte unterschlagen werden, belegt die prekäre Position der Psychoanalyse in unserer Kultur. Sie fungiert als Ideen-Geber und als Zielscheibe. Als ein Verfahren, das auf das psychotherapeutische Gespräch und die psychotherapeutische Beziehung setzt, wird es nicht geschätzt. Übrigens ist Nanni Moretti ein Kenner der Psychoanalyse: Er lag selbst auf der sprichwörtlichen Couch und in seinem Film Das Zimmer des Sohnes (2001) war er der Psychoanalytiker, der an einem Sonntag einen Patienten aufsuchte, währenddessen sein Sohn bei einem Tauchunfall verunglückte.

Am 25.11.2011 ließ die SZ auf ihrer zweiten Seite den Psychiater Andreas Meißner mit dem Text Die Not der Psychiater zu Wort kommen. Er beklagte die Schieflage zwischen psychotherapeutischer und psychiatrischer Praxis: Der Psychiater könne - angesichts der schlechten Honorierung -  im Quartal nur ein Gespräch, der Psychotherapeut dagegen mindestens ein Gespräch innerhalb einer Woche führen (der psychoanalytische Therapeut sogar zwei oder drei Gespräche in der Woche), zudem behandele der Psychiater zwei Drittel der psychisch Kranken, der Psychotherapeut dagegen - bei besserer Honorierung - nur ein Drittel. Klagen, lehrte Sigmund Freud, sind Anklagen. Andreas Meißner ist unzufrieden. Er sagt nicht, dass sein therapeutisches Instrument der medikamentöse Eingriff ist. Er sagt nicht, dass er als seine berufliche Praxis einen eher technisch orientierten Umgang gewählt hat, der von der Fantasie der raschen Intervention lebt, die sich häufig als ein langwieriges, kostspieliges Probieren erweist. Er sagt nicht, dass seine berufliche Praxis andere Kosten verursacht. Er rechnet psychiatrische und psychotherapeutische Praxis falsch gegeneinander auf, um die fremde Praxis zu bekämpfen; dabei müssten beide Formen klinischer Praxis verbunden werden. Rainer Gansera versteht die Unterschiede nicht, Andreas Meißner mag die Unterschiede nicht. Beide pflegen die unschuldige Verachtung.