Montag, 10. Dezember 2012
Die Einladung, die eine Ausladung war
Dass der Beitrag drei meiner Sätze aufgenommen hatte - einer war unverständlich, die beiden anderen nichtssagend - , überraschte mich nicht. Aber ich war perplex, als ich hörte, wie der Kommentar im Off behauptete, ich hätte es nicht geschafft, zu meinen Stiefsöhnen ein "herzliches Verhältnis" zu finden, und ich lebte allein. Der Subtext des Kommentars lautete für mich sofort: Das hat der Psychologe davon; er ist das Opfer seines Berufs geworden. Meine Frau lachte schallend, unsere Tochter erhielt eine SMS von einem Klassenkameraden, der sich über die veränderten Lebensverhältnisse wunderte und mein Stiefsohn war besorgt, ob ich mich damit als Autor nicht in die Nesseln gesetzt hätte. Später ärgerte ich mich über mich selbst: Bei der "plötzlichen Vaterschaft" hätte ich aufmerken müssen. Eine Redaktion, die mit der Bedenkenlosigkeit rascher Beziehungsaufnahmen ein Geschäft zu betreiben versucht, möchte sicherlich nichts über die Bedenken eines Psychologen erfahren. Die Einladung an mich war zwar ausgesprochen, aber nicht ernst gemeint, und ich hatte sie angesichts der Gelegenheit, den Kopf wieder aus dem Fenster zu stecken und mich begucken zu lassen, gebauchpinselt angenommen.
Dienstag, 13. November 2012
Kalter Kaffee
"Im Cyberspace verlieren wir unsere Träume". Die Unterzeile: "Wenn Menschen vor lauter Bildern die Welt nicht mehr erleben: Der Bochumer Psychiater und Psychotherapeut Bert te Wildt sieht im digitalen Wandel einen fundamentalen Umbruch, getrieben auch durch die Angst vor der eigenen Sterblichkeit".
Die zwei Sätze dröhnen. Unsere Träume. Ich wüsste keine Untersuchung zu nennen, die die Häufigkeit des Träumens im Längsschnitt untersucht hätte. Immerhin hat die Schlafforschung - kein einfaches Vorgehen - herausgefunden, dass wir enorm viel träumen, Nacht für Nacht. Ob sich das heute schon wie verändert hat, weiß keiner. Wie auch? Wenn Menschen vor lauter Bildern die Welt nicht mehr erleben - ist eine Variation der Idee, die Umberto Eco 1985 vorgelegt hat:
"Das bildliche Werk (der Kinofilm, die TV-Reportage, das Wandplakat, der Comic strip, das Foto) ist heute bereits ein integraler Bestandteil unseres Gedächtnisses. Was etwas ganz anderes ist und eine fortgeschrittene Hypothese zu bestätigen scheint, nämlich dass die neuen Generationen sich, als Bestandteile ihres Verhaltens, eine Reihe von Bildern einverleibt haben, die durch die Filter der Massenmedien gegangen sind (und von denen einige aus den entlegensten Zonen der experimentellen Kunst unseres Jahrhunderts kommen). In Wahrheit braucht man nicht einmal von neuen Generationen zu sprechen: Es genügt, zu mittleren Generation zu gehören, um erfahren zu haben, wie das gelebte Leben (Liebe, Angst und Hoffnung) durch 'schon gesehene' Bilder gefiltert wird".
Umberto Eco spricht von filtern, Bert te Wildt von nicht mehr erleben. So geht das im ganzen Interview. Eine grobe Behauptung jagt die andere: Die Innenwelten werden kolonisiert, Süchte erzeugt, Formen des Wissens reduziert. Alles im Dienste der Vertreibung des Gedankens der Sterblichkeit. Alles nicht neu und auch nicht falsch. Falsch ist: der fundamentale Umbruch. In den 50er und 60er Jahren hatten wir das Kino. Es tötete die Fantasie (fremde Bilder!) und schürte die Aggressivität. In den 80er und 90er hatten wir das Fernsehen. Es tötete die Fantasie (fremde Bilder!), machte süchtig und dick (das viele Sitzen!), frönte dem umfassenden Amüsement (mit tödlichem Ausgang!) und machte aggressiv (mit gewalttätigen Folgen). Jetzt das Internet - mit den gleichen befürchteten Folgen.
Wir wissen es nicht. Die Zukunft schreckt. Die Gegenwart ändert sich. Die Welt-Wahrnehmung und der Realitätskontakt fühlen sich anders an. Anschluss zu halten, ist mühsam; eine lebenslange Anstrengung. Und die Aussicht zu sterben ist schrecklich. Die Apokalyptiker beruhigen uns in dem Sinne, dass wir es wirklich schwer haben.
Drohen oder nicht drohen?
Ist das so? Die Logik scheint einfach zu sein, das zugrunde liegende Konzept ist so vertraut. Hätte ich mit dem Taschengeld-Entzug nicht gedroht, hätte er nie seine Hausaufgaben gemacht. Eltern lügen sich manchmal mit ihrer Hilflosigkeit in die Tasche und übersehen, dass Kinder ein Lebensinteresse daran haben, ihre guten Beziehungen zu den Eltern zu erhalten, und dass die Drohung des Beziehungsabbruchs die schrecklichste Bedrohung für die Stabilität des seelischen Gefüges des Kindes ist. Drohen heißt: die Abhängigkeit des Kindes auszubeuten - es wirklich klein zu machen.
Nun lässt sich dieses Konzept elterlicher Hilflosigkeit nicht so ohne weiteres auf politische, diplomatische Interaktionsprozesse übertragen. Aber stellen wir uns vor, die Bundesregierung hätte gesagt: Wir helfen. Sie hätte nicht die Metapher des unklaren Helfens benutzen müssen - Rettungsschirm - ; sie hätte ihrerseits ihre Forderungen stellen und an die Lebensinteressen der verschuldeten Länder erinnern können; sie hätte darauf drängen und warten können, dass ihre Forderungen erfüllt werden; sie hätte die griechische Regierung nicht hinhalten müssen wie ein kleines Kind; sie hätte das landesweite Schenkelklopfen bundesdeutscher Selbstgerechtigkeit verhindert; sie hätte den Stolz der Griechen erhalten; sie hätte die Griechen gewonnen. Es ist das alte deutsche Konzept: Erst Druck machen, dann - . Erst unterwerfen, dann - . Es ist die alte bundesdeutsche Unsicherheit, wie angemessene Beziehungen gestalten werden sollten. Dazu lässt sich vieles sagen. Nur so viel und ganz knapp: die bundesdeutsche Beziehungs-Scheu gehört zu unserer schwer erträglichen historischen Last.
Freitag, 9. November 2012
Armin Maiwald
Journalismus über Bande
Peer Steinbrück ist nicht der Fachmann, den er herausdröhnt. Unvergessen: 2008, als er mit der Kanzlerin vor den Kameras stand - es ging um die Beruhigung der bundesdeutschen Bürgerinnen und Bürger, dass deren Geld auf einer deutschen Bank garantiert wäre und nicht verloren gehen würde wie bei der Lehman-Bank - , auf die Krise der Amerikaner Hände-reibend verwies, deren ökonomische Katastrophe ausmalte und versicherte, eine solche Krise würde es bei uns nie geben. Steinbrück hatte offenbar nur die Kameras vor Augen. Unvergessen 2011: Wie er für eine andere Kamera mit dem Hamburger Orakel Schach zu spielen vorgab und sich später die Inszenierung vorhalten musste. Der Mann, kann man sicherlich sagen, tut viel vor und für die Kameras. Deshalb sind die Grünen gut beraten, sich den Kandidaten der SPD noch einmal anzuschauen und sich gut zu erinnern, wie er mit ihnen umging. Eine Zeitung könnte einem doch beim Erinnern helfen und zusammentragen, was man weiß. Das kommt vielleicht noch. Heute begnügte sich die SZ mit dem Hinweis auf die Vertreter der skeptisch werdenden Grünen. Ob die Redaktion den Zorn des schnell sprechenden Herrenreiters fürchtete?
Mittwoch, 7. November 2012
Betrug am Kinogänger
Einer meiner Lieblingsfilme des westdeutschen Nachkriegskinos war der 1956 in den Filmtheatern präsentierte Streifen Kitty und die große Welt mit Romy Schneider, Karlheinz Böhm und Otto Eduard Hasse. Sissi in Genf statt in Bad Ischl und Wien, könnte man den Plot resümieren. Kitty war das Remake des 1939 von Helmut Käutner inszenierten Kitty und die Weltkonferenz. 1956 führte Alfred Weidenmann Regie, das Drehbuch schrieb Herbert Reinecker. 1956, als elfjähriger Kinogänger, kannte ich weder Helmut Käutner, noch Alfred Weidenmann, noch Herbert Reinecker und deren Geschichte der Jahre 1933 bis 1945. Jedenfalls war ich hingerissen von Kitty. Ich sah den Film einmal und hoffte - seit langem - auf die DVD. Jetzt ist sie auf dem Markt, aber in Schwarz-Weiß. So wurde der Film nicht vorgeführt. Er war farbig. In - um Cole Porter aus Silk Stockings (1957; Regie: Rouben Mamoulian) zu paraphrasieren - herrlichem Eastmancolor. Das DVD-Cover sagt darüber nichts.
(Korrektur: 15.2.2022)
Whistleblowing
Tom Hanks was at the ZDF
Ist Hass ein politisches Argument? II
Seit 1945 wissen wir, wie schwer es fällt, sich über die eigene, wie auch immer geteilte Sympathie für die mörderischen nationalsozialistischen Fantasien deutscher Grandiosität zu verständigen. Seit 1945 wissen wir auch, wie schwer es fällt, eine einigermaßen präzise Sprache dafür zu finden. Es geht um den mörderischen Hass, den die nationalsozialistischen Propagandisten zu einer Art politischer Religion verklärten und für einige Jahre salonfähig machten. Spätestens seit 1945 wissen wir auch, dass der mörderische Hass ein schreckliches, irreparables Leid hinterlassen hat. Seitdem wissen wir auch, dass der mörderische Hass schwer beim Namen zu nennen ist. Im Kontext von Links - oder Rechtsextremismus erhält der Hass die Aufwertung einer politischen Haltung. Wenn gar von einer rechtsextremen Terrorgruppe nationalsozialistischer Untergrund gesprochen wird, die als Akronym einer ehemaligen Automarke kursiert, verschwindet der Hass in einem seltsamen Bedeutungs-Nebel. Dieser Hass, auch wenn wir ihn identifizieren zu können glauben, weil er mit den bekannten Requisiten und Formeln der beschwichtigenden öffentlichen Diskussion ausstaffiert wird, ist noch nicht verstanden. (Siehe auch meinen Blog vom 11.1.2012)
Freitag, 19. Oktober 2012
Ein Fußballspiel ist ein Fußballspiel ist ein Fußballspiel
Jetzt sind wir irgendwie knatschig - ich zähle mich natürlich dazu - über unsere Fußball-Nationalmannschaft, die zum ersten Mal richtig Fußball spielt, fast spanisch, aber - nicht gewinnt. Überhaupt gewinnen unsere Fußballmanschaften keine entscheidenden Spiele mehr. Sie spielen einen guten Fußball, aber verlieren mit einem Unentschieden. In Italien stellte der Trainer die falsche Mannschaft zusammen und verlor folgerichtig und richtig. Jetzt führten unsere jungen Fußballer mit einem Vier-Tore-Vorsprung - und brachten den nicht nach Hause, wie man so schön sagt. Früher, beispielsweise 1974, brachten unsere Fußballer ihren mit einem in der ersten Halbzeit exekutierten, umstrittenen Elfmeter erzielten 2:1 Vorsprung in der zweiten Halbzeit über die Runden - eine Zitterpartie des Nägelkauens - und wurden mit Franz Beckenbauer Weltmeister. Die Erleichterung über das Ende dieses Spiels ließ einen in einen erschöpften Jubel verfallen - bei einem milden schlechten Gewissen.
Und jetzt? Jetzt rätseln wir, was mit unseren jungen, brillianten Leuten los ist. In Italien wurde der Trainer kopflos und vergaß die alte Regel, dass man eine erfolgreiche, gut spielende Mannschaft nicht verändert, jetzt wurden die Spieler kopflos nach ihrem ersten Gegentor. Ich habe noch den ARD-Reporter Tom Bartels im Ohr, der bei jeder Unsicherheit im bundesdeutschen Strafraum die Katastrophe und die Niederlage witterte. Ich fand das übertrieben und erinnerte meine Mutter, die vor jedem Regenguss warnte. Seltsamerweise hatte Tom Bartels die Not unserer Spieler offenbar gespürt. Sie wurden kopflos und verloren ihre Linie. Wieso?
In anderen Sportarten sind Einbrüche normal. Beim Tennis liefert ein Spieler einen glänzenden ersten Satz ab, danach läuft nichts mehr. Steffi Graf konnte im letzten Moment ein Spiel drehen. Manchmal bekamen unsere Fußballer im letzten Moment noch den Ball ins gegnerische Tor. Wovon hängt das ab? Von der Fähigkeit der Angst-Regulation, die wiederum abhängt von den sich einstellenden Beziehungskonstellationen. Für diesen Kontext hat die psychoanalytische Theorie das Konzept der Übertragung. Was man im Spiel gegen die Schweden sehen konnte, war: Angst. Offenbar war das verlorene Spiel gegen Italien noch nicht verdaut. Offenbar sind unsere Erwartungen so riesig, dass sie enorm belasten. Unsere jungen Leute sollen jetzt besser als die Spanier sein. Das scheint sich aber so schnell nicht realisieren zu lassen. Immerhin spielen jetzt schon Klasse. Aber vor allem ist ein Fußballspiel immer noch ein Fußballspiel.
Dienstag, 28. August 2012
Die seltsame Idee vom Reset der Seele
Der Autor schrieb: "In der Tat ist über den eigentlichen Wirkmechanismus der EKT so gut wie nichts bekannt...Mittlerweile wissen Forscher, dass manche Hirnareale bei depressiven Patienten stärker vernetzt sind und miteinander kommunizieren als bei gesunden Menschen. Diese Hyperkonnektivität zu reduzieren, verspricht also Erfolg bei der Therapie von Depressionen". Hyperkonnektivität, ein hübsches Fremdwort, ist die Beschreibung einer Verdichtung, keine Erklärung; was sie für eine depressive Erkrankung bedeutet, ist unklar. Das Verfahren der Stromstöße ist ein massiver, unglaublich schmerzhafter Eingriff, der sorgfältig betäubt werden muss; er ähnelt einem epileptischen Anfall. Die empirische Basis für den Erfolg dieses Verfahrens ist schmal. Der Autor berichtete von einer Studie, an der neun Patienten teilnahmen, wie er schrieb, die sich "hinterher besser fühlten" - abhängig davon, wie stark der Eingriff "die Überaktivität senken konnte". Der Effekt hält offenbar nur Monate. "Spätestens nach sechs Monaten, so Thomas Wagner-Nagy, "müssen sich vier von fünf Patienten einer neuen Therapie unterziehen". Diese Erfolgsquote erreicht die Erfolgsquote mancher Sucht-Therapien.
Bleibt die Frage, was der Text vom Stromschlag gestern in der SZ sollte. Er gehört in den Kontext einer Wissenschaftspolitik, die die Komplexität psychischer Erkrankungen zu reduzieren versucht und zu helfen verspricht, ohne zu wissen, worin die Hilfe besteht. Er spricht die Sprache der Akquisition.
Dienstag, 26. Juni 2012
I'm Singin' In The Rain - Again
Montag, 11. Juni 2012
Körper-Sprache und Stahlhelme
Dienstag, 15. Mai 2012
In olden days / A glimpse of stocking / Was looked upon something shocking / Now heaven knows - anything goes
Von einer Tageszeitung erwarte ich, dass sie ihren Leserinnen und Lesern die Kontexte ausreichend beschreibt, so dass man eine Idee bekommt von dem was läuft. Die SZ bemüht sich mehr und mehr, darüber hinaus die Subtexte der öffentlichen Diskussion zu beschreiben. Deshalb finde ich es in Ordnung, dass die drei Journalisten der SZ, Hans Leyendecker, Klaus Ott und Nicolas Richter, den Henri Nannen-Preis verweigerten, der gleichzeitig an die BILD-Journalisten Nikolaus Harbusch und Martin Heidemanns verliehen wurde - sie wollten nicht von einer Jury ausgezeichnet werden, die nicht differenziert zwischen journalistischer Redlichkeit und journalistischer Unredlichkeit. Noch immer sind die Kontexte entscheidend für die Wahrnehmung der Bedeutungszusammenhänge. Der Kontext des Ressentiments erstickt einen nachdenklichen Gedanken. Im Kontext des Ressentiments kann man vom Verständnis sprechen und zur Hetzjagd einladen. Der Slogan "BILD dir deine Meinung" - der im Klartext Pflegst du nicht auch gern dein Ressentiment? heißt und zu dessen Unterstützung und Beschwichtigung prominente Gesichter gekauft wurden (die man sich alle merken sollte) - ist das beste Argument gegen diese Zeitung. Ein Bravo! für die SZ-Journalisten, die sich am vergangenen Freitag, den 11.5.2012, nicht vereinnahmen ließen für den zynischen Ausverkauf journalistischer Ideale und die sich für diese Art von Auszeichnung bedankten.
Mittwoch, 25. April 2012
Ein unmöglicher Plan des Gesetzgebers
Montag, 23. April 2012
Der seltsame Impuls des Unverständnisses
Der Autor Hans Holzhaider ist ungeduldig. Das Verfahren ist noch nicht beendet, die Gutachter haben ihre Gutachten nicht vorgetragen, aber der Autor erklärt: "Was einen Menschen zu solch einem Verbrechen treibt, kann auch der Prozess nicht klären". Wieso nicht? Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen. Eine Mindestanforderung an unsere forensischen Gutachter besteht darin, eine tragfähige Hypothese für eine lebensgeschichtliche Verortung der Straftaten vorzulegen - also klar zu legen, wie die Straftaten das Produkt der Kumulation spezifischer Erfahrungen der Lebensgeschichte sind. Die norwegischen Gutachter müssen darlegen, jenseits der politisch-philosophisch angestrengten Rationalisierungen, an wen Anders Breiviks offenbar unersättlicher Hass lebensgeschichtlich adressiert war oder ist. Damit würde deutlich, was Anders Breivik bewegte und bewegt.
Zur Erbärmlichkeit. Das Wort ist die Vokabel der Verachtung. Es enthält aber das Wort Erbarmen. Daran muss man erinnern. Es gibt auch die enorme Not Anders Breiviks - für die zumindest das Gericht ein Verständnis aufbringen muss, will es nicht den Täter mit seinen Taten gleichsetzen und ihn damit entmenschlichen und die gesetzliche Ordnung so weit korrumpieren, dass das Konzept der Würde des Menschen, auch wenn es schwer fällt, sie zu respektieren, dem merkwürdigen Impuls geopfert wird, das Verstehen zu verweigern.
Montag, 16. April 2012
Forsches Waten in flachen Gewässern
"Beim Studium der institutionellen Konstruktionen, unter deren Ägide die Menschheit sich reproduziert, begegnet man unausweichlich der Frage des Abgrunds. Ich verstehe darunter die Tragödie, in die sich die Menschenwesen verstricken, wenn die untersagte Grenze überschritten wird, jene Grenze, die von den beiden in hohem Grad juridischen Begriffen des Inzests und des Mordes markiert wird".
Die Figur der (erwachsenen) sexuellen Selbstbestimmung muss im Kontext der "institutionellen Konstruktionen", wie Legendre sagt, gesehen und relativiert werden.
Donnerstag, 22. März 2012
Das TV-Geschäft mit dem Affekte-Rühren
Nehmen wir an, dass es die Tagesschau-Redakteure eilig hatten - Fußball darf sich nicht verspäten - und dass nicht das Geschäft mit der forcierten Rührseligkeit dominierte.
Montag, 19. März 2012
Der digitale Fortschritt ist ein Fortschritt
Das enorme Bedürfnis nach Kontakt und Austausch, nach Beziehungsvielfalt und Beziehungsanregung, nach buchstäblicher Selbst-Erweiterung und Selbst-Erfahrung, das wahrscheinlich schon immer enorm war, findet jetzt seine Foren. Das demokratische Versprechen der Teilhabe wird realisiert. Der Untergang steht uns nicht bevor. Man muss den jungen oder den beweglichen (etwas älteren) Leuten etwas zutrauen, dass sie ihre Chancen gut nützen. Und selber, wenn man zur mittleren oder älteren Generation gehört, muss man sich anstrengen - mehr oder weniger - , Anschluss zu halten. Der Apokalyptiker dagegen klagt; er kommt nicht mehr mit; er wird ein- und überholt; der eigene Lebensbogen neigt sich; die Zukunft schmilzt - und die jungen Leuten preschen davon. So war es immer schon. Die eine Generation kommt, die andere geht. Das kulturelle apokalyptische Getöse, dieses gut bezahlte Geschäft mit der Angst vor dem Status-Verlust und dem Ressentiment gegenüber dem, was man nicht richtig versteht und nicht beherrscht, geht mir ziemlich auf den Wecker. Chapeau bas! für Gerhard Lauer.
Ein Missverhältnis
Die acht Millionen Beschäftigten gehören zu den so genannten Niedrigverdienern. "Von ihnen", berichtete die SZ, "erhielten mehr als 4.1 Millionen weniger als sieben Euro, gut 2.5 Millionen weniger als sechs Euro und knapp 1.4 Millionen sogar nicht einmal fünf Euro die Stunde. Knapp jeder Zweite der niedrig bezahlten Menschen arbeitet dabei voll und nicht Teilzeit".
Was würde es kosten, wenn die vier Millionen Beschäftigten, die eine volle Woche arbeiten (sagen wir: 40 Wochenstunden), 20 Euro pro Stunde verdienen und ausbezahlt bekommen? Ich habe es grob überschlagen: 60 Milliarden Euro pro Jahr. Verglichen mit der Billion Euro, die die Europäische Zentralbank den Kreditinstituten in kurzer Zeit geliehen hat, ist diese riesige Summe nicht so riesig. Zwei Fragen: Wieso benötigen die europäischen Banken so viel Geld? Was würde passieren, wenn die vielen Millionen schlecht bezahlter Beschäftigter Stundenlöhne erhalten, mit denen sich leben lässt?
Dienstag, 14. Februar 2012
Die Kanonen von Navarone sind wieder intakt
"Griechenland hat aber nicht versagt. Wer sich die Mühe macht, die umfangreichen 'Reviews' des Internationalen Währungsfonds (IWF) zu lesen, erkennt, dass das Land einen Großteil der vorgegebenen Maßnahmen verwirklich hat". Die Staatsausgaben - ohne Zinsen - seien von 2009 bis 2011 um 17 Prozent gesunken (ein Beispiel). Fazit: "Im Februar 2011 beurteilte der IWF die bis dahin erbrachten Leistungen als auch im internationalen Maßstab eindrucksvoll". Fazit II: "Wenn nicht mehr dabei herausgekommen ist, liegt das an der Therapie. Sie hat die Gefahren für den Kreislauf des Patienten völlig unterschätzt".
Auf Seite 17 (Wirtschaftsteil) der SZ: Franz Fehrenbachs Verdikt "Griechenland hat in der EU nichts zu suchen". Der Chef von Bosch "fordert den Ausschluss des Schuldenstaats". Wie das? Bosch gilt als klug geführter, menschlicher Konzern. Der Chef äußerst sich herrisch. Haben wir jetzt in der EU das einzige Sagen? Wie passt das zu Peter Bofinger? Gar nicht. Alte, vertraute Töne breiten sich aus. Was hatten wir 1945 in Europa zu suchen? Wieso wurde uns eigentlich auf die Beine geholfen?
Es ist zu vermuten, das die Erinnerung an die Geschichte der Bundesrepublik keine Rolle spielt - offenbar wohl die Erinnerung an die Niederlage und die Kränkung durch die deutsche Katastrophe. Jetzt wäre die Möglichkeit, etwas zurückzugeben und zu sagen: Wir erinnern uns an 1945. Wir sind dankbar und möchten etwas zurückgeben. Wir werden alles tun, um Griechenland und andere Länder Europas zu unterstützen und zu helfen. Nein, eine Reihe von Bundesdeutschen vergessen, wer sie sind und wer sie waren. Sie trampeln auf dem Stolz einer alten Nation herum, deren Mitgliedern sie vorzuschreiben versuchen, wie sie leben sollen. Die Bundesdeutschen, die sich jetzt so äußern wie Franz Fehrenbach, sind die pingeligen Krämer, die übersehen, dass sie vom Wohlwollen derer abhängen, die großzügig waren.
Dienstag, 31. Januar 2012
Ob unsere Politikerinnen und Politiker ausreichend an unsere Geschichte denken?
Auf der ersten Seite: "EU-Partner kritisieren Vorschlag der Bundesregierung.
Merkel lenkt ein - kein Sparkommissar für Athen.
Kanzlerin: Dies ist eine Diskussion, die wir nicht führen sollten/Gipfel einigt sich
auf 500-Milliarden-Rettungsschirm".
Auf der zweiten Seite: "Die Frau, die in die Kälte kam.
Kurz nach ihrer Ankunft in Brüssel macht Angela Merkel klar, auf welche
deutsche Forderungen sie verzichten könne"
"Deutschland, der Feind. Die Debatte um einen Kontrolleur aus Brüssel heizt die
Stimmung in Griechenland weiter an - sogar die zerstrittene Regierung ist sich
ihrer Abneigung ausnahmsweise einig".
Schließlich, Joschka Fischers Außenansicht: "Gefährlich selbstzufrieden. Die Umfragen sind gut für Angela Merkel. Doch das könnte die Regierung verführen, unangenehme Wahrheiten zu verschweigen".
Der Subtext lautet: Deutschland dominiert erneut. Die Bundesrepublik Deutschland ist nicht mehr zu erkennen. Der nationalsozialistische Imperialismus kehrt zurück. Wenn dieser offenbar in der EU - vor allem in Griechenland - kursierende, befürchtete Kontext sich durchsetzt, wäre es schrecklich. Der bundesdeutsche Wunsch und die bundesdeutsche Politik der Integration in einen Staaten-Verbund wären zerrieben. Die Bundesrepublik hat von dem Ungleichgewicht der europäischen Staaten enorm profitiert und profitiert von der jetzigen Krise. Anders gesagt: die EU hat unseren Reichtum ermöglicht - und viel wichtiger: die Aufnahme in den europäischen Staaten-Verbund hat unser Selbstgefühl befriedet. Wäre jetzt nicht Zeit für eine bundesdeutsche Politik, die der Großzügigkeit der europäischen Staaten (die natürlich auch ihre Interessen hatten) zurückzugeben versucht, was sie zurückgeben kann? Für eine Wirtschaftspolitik, die die EU als eine wirtschaftliche Gemeinschaft versteht, in der die einzelnen Staaten in einen Topf wirtschaften und Gewinne und Verluste gemeinsam tragen? Ich hoffe, unsere Politikerinnen und Politiker erinnern sich an die Entstehung der Bundesrepublik Deutschland, die kein Deutschland mehr sein wollte.
Dienstag, 24. Januar 2012
Augen-Reiben
Drei Passagen fielen mir auf.
1. "Und selbst wenn Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, wonach es nicht aussieht, am Mittag des 4. Novembers in Panik geraten und sich aus Verzweiflung, Furcht vor dem Gefängnis oder gar Scham spontan umgebracht hätten, so haben sie dennoch subjektiv ein Opfer gebracht, indem sie sich mit letzter Konsequenz für den bewaffneten politischen Kampf entschieden, damit für ein Leben in der Illegalität, für den Bruch mit der eigenen Familie und die Ächtung durch die Gesellschaft, für den Verzicht auf eine bürgerliche Laufbahn und die Unsicherheit einer Existenz im Untergrund, für die permanente Gefahr der Festnahme, der Verletzung oder des Todes".
Woher weiß David Kermani das? Hatte er mit ihnen gesprochen?
Was ist ein bewaffneter politischer Kampf in der Bundesrepublik?
2. Uwe Mundlos entstammt einer gebildeten Familie, schreibt er: "Der Vater von Mundlos auch nach dem Ende der DDR offenbar noch mit Sympathien für den Sozialismus".
Was ist daran so ungewöhnlich? Nichts Neues in Waldhagen, möchte ich mit dem Titel der WDR-Schulfunk-Sendung aus den 50er Jahren antworten. Den nationalsozialistischen Betrieb hielt vor allem die damalige junge akademische Elite am Laufen. S. zum Beispiel Mark Roseman: Die Wannsee-Konferenz. Wie die NS-Bürokratie den Holocaust organisierte. Berlin: Propyläen Verlag 2002. Der Originaltitel der Arbeit von Mark Roseman: The Villa, The Lake, The Meeting.
3. "Dass der größte unter allen Bucherfolgen der letzten Jahre ausgerechnet einer Schrift zukam, die die Überlegenheit des Eigenen und die Bedrohung durch das Fremde nicht mehr nur kulturell erklärt wie im Rechtspopulismus, sondern genetisch festschreibt, ist dabei mehr als nur ein Zufall. Es ist ein Menetekel".
Bangemachen gilt nicht. Das Vergnügen am Ressentiment ist uralt. Das Ressentiment, da sage ich nichts Neues, ist das Produkt eines projizierten Hasses. Der Hass ist das Problem; er muss verstanden werden. Das unmögliche bundesdeutsche Projekt der Vergangenheitsbewältigung enthielt und enthält den Wunsch, sich des Hasses zu entledigen - mit ihm nichts zu tun haben zu wollen. In den 50er Jahren war der antisemitische Hass - verständlicherweise; die bundesdeutsche Öffentlichkeit fürchtete um ihr Ansehen - tabuisiert. Es half nicht: Jahr für Jahr beschäftigen antisemitische Handlungen die öffentliche Diskussion. Schon das Adjektiv nationalsozialistisch auszusprechen, erforderte Überwindung. In der Öffentlichkeit werden heute noch immer die Abkürzungen bevorzugt - also, sagen wir, statt nationalsozialistisch - NS. Der mörderische nationalsozialistische Hass ist ein schreckliches Erbe; es ist kaum auszuhalten. Entsorgen können wir ihn nicht; aber ins Gespräch bringen. Er ist mir nicht fremd. Er wartet auf seine Projektions-Objekte. Er findet ständig welche - HARTZ IV-Bedürftige, die Griechen, die Bankiers... die Liste wird schnell lang. Sich die Augen zu reiben ist nicht schlecht. Anschließend muss man aber gut hingucken.
Mittwoch, 18. Januar 2012
Begriffs-Schmuggelei
Samstag, 14. Januar 2012
Formen sprachloser Verweigerung
Wieso handelt dieser (und andere) Jugendliche gegen sein Lebensinteresse, sich in der Schule auszurüsten für sein erwachsenes Leben? Helmut Frangenberg zählt die Erklärungen auf: "Über- und Unterforderung, falsche Rollenzuweisungen in den Familien, schwere seelische Erkrankungen, echte Notlagen". In der Aufzählung kommt die Schule nicht vor. Schulschwänzen ist ein sprachloses Sprechen und ist Ausdruck einer sprachlosen Verweigerung. Etwas an der Schule ist unerträglich, sagt es. Was könnte es sein? Die Schule ist ein Ort schiefer, asymmetrischer Beziehungen. Asymmetrische Beziehungen zu ertragen gehört zu unserem Alltag - in der Familie, auf der Arbeitsstelle, im Gesundheitssystem, in den Beziehungen zu Repräsentanten von Institutionen beispielsweise. Asymmetrische Beziehungen stellen - unausgesprochen - sofort die Frage nach der eigenen Position, dem Status und dem Stolz. Asymmetrische Beziehungen kränken. Kränken sie zu sehr - aus welchen Gründen auch immer - , machen sie wütend, gereizt und leiten den Rückzug von der Anstrengung ein, die eigenen Lebensinteressen zu behaupten. Die Folge ist eine Form sprachloser Verweigerung und aggressiv-depressiver Unzugänglichkeit. Schulschwänzen ist eine alarmierende Form eines wütenden, hilflosen Protests junger Leute, die sich vor ihrer Zukunft fürchten. Die Hilflosigkeit sollten wir in den Blick nehmen und uns von der Wut nicht abschrecken lassen. Das ist nicht einfach. Das Jugendzentrum Meschenich hatte die Pädagogen der umliegenden Schulen mehrmals eingeladen. Sie nahmen die Einladung nicht an.
Freitag, 13. Januar 2012
Eine Hypothese zu den kognitiven und affektiven Folgen der Sozialisation
Schwerfälligkeit im Lernen, vermute ich heute, ist auch ein Sozialisationsprodukt. Der Brite Basil Bernstein entdeckte die Schicht-abhängige Differenz der Sprach-Kompetenz, die er mit den Begriffen des elaborierten und restringierten Codes beschrieb. Wenn ich mich richtig erinnere, berücksichtigte er nicht die affektiven Folgen: die Scham, die Angst und die Unsicherheit, die mit einem restringierten Code oder einem fragilen Sprach-Verständnis verbunden sind. Diese Affekte behindern buchstäblich und machen in dem sozialen Gefüge und in den damit verbundenen Beziehungen einer Klasse - dumm.
Am Ende des vergangenen Jahres berichtete Tanjev Schultz in der SZ (19.12.2011, S. 38) von diesem Problem unter der Überschrift "Ungerechte Noten. Studie zeigt, dass Arbeiterkinder in der Schule weiterhin benachteiligt werden". Der Befund muss ergänzt werden, denke ich: Arbeiterkinder sind in der Schule in ihrer Leistungsfähigkeit möglicherweise, vorsichtig gesagt, hier und da behindert. Sie schneiden in standardisierten Leistungstests besser ab, weil diese psychologischen Verfahren andere, eher vergleichbare und balancierte Voraussetzungen und Situationen herstellen als das sehr komplexe Gefüge einer Klasse mit seiner impliziten psychosozialen Hierarchie und seinen sublimen Vergleichsprozessen. "Herkunft wird mitzensiert", bilanziert Tanjev Schultz das Fazit der Studie. Ja, Herkunft wird mitzensiert, weil sie die Leistungsfähigkeit in der Klasse dominiert als der im stabilen oder fragilen Selbstgefühl der Schülerinnen und Schüler strukturelle Niederschlag der unterschiedlichen Sozialisationsbedingungen. Was folgt daraus? Sehr kleine Klasse wären ideal - dann könnten die Pädagogen, wenn sie dafür einen Blick entwickeln, auf die Auswirkungen der Sozialisationsbedingungen auf das Selbstgefühl ihrer Schülerinnen und Schüler und damit auf deren unterschiedliche Verständnis- und Leistungsfähigkeit achten.
Donnerstag, 12. Januar 2012
Die Ohnmacht und die Gruppe
"Seit etwa drei Jahren habe ich keinen Artikel mehr geschrieben, denn ich weiß nicht mehr, was ich noch schreiben soll. Es ist alles so offensichtlich: die Abschaffung der Demokratie, die zunehmende soziale und ökonomische Polarisation in Arm und Reich, der Ruin des Sozialstaates, die Privatisierung und damit Ökonomisierung aller Lebensbereiche (der Bildung, des Gesundheitswesens, des öffentlichen Verkehrssystems usw.), die Blindheit für den Rechtsextremismus, das Geschwafel der Medien, die pausenlos reden, um über die eigentlichen Probleme nicht sprechen zu müssen, die offene und verdeckte Zensur (mal als direkte Ablehnung, mal in Form von 'Quote' oder 'Format') und, und, und...."
Wenn alles so offensichtlich ist, weshalb dann dieses Gefühl einer Ohnmacht und Vergeblichkeit? Ich weiß nicht mehr, was ich noch schreiben soll. Was lähmt Ingo Schulze?
Das weiß ich nicht. Aber ich kann eine persönliche und eine abstrakte Antwort geben. Ich traue mich (noch) nicht, die Politik des Geschäfts einer Klinik zu beschreiben, weil deren Leitung vermuten wird, dass meine ehemaligen Kollegen - ich bin dort ausgeschieden - mich informiert hätten, und weil ich vermute, dass sie es auszubaden hätten. Also lasse ich es und warte auf meine Gelegenheit. Meine abstrakte Antwort. Ingo Schulzes Liste ist präzis und unpräzis zugleich. Das Problem ist, das seine Beschreibungen weit entfernt sind von unserer Lebenswirklichkeit. Es ist das alte Problem der abstrakten Begriffe. Solange wir allgemein bleiben, reden wir aneinander vorbei oder tun uns nicht weh. Erst die Beschreibung unserer Lebenswirklichkeiten mit ihren vielen widersprüchlichen kognitiven und affektiven Kontexten und Subtexten - bringt Leben in die bundesdeutsche Bude. Das wäre ein (wenn vielleicht auch altmodisches) literarisches Programm. Da gibt es jedenfalls noch enorm viel zu beschreiben.
Wie macht man das Sich-selbst-wieder-ernst-nehmen? Ingo Schulze gibt die Antwort: Den Mund aufmachen, sagt er. Das ist zu wenig. Wer Erfahrungen in Gruppen hat, weiß: Man muss seinen Mut zusammen nehmen und persönlich werden. Wie wird man persönlich? Indem man vor allem seine innere Welt beschreibt und sich um die Abstrakta möglichst wenig schert. Sigmund Freud gab das Programm und den Rahmen vor: Sagen Sie alles, was Ihnen einfällt - hier, in diesen 50 Minuten. Was man innerhalb der (psychoanalytisch orientierten) Psychotherapie sagen kann, kann man schlecht so einfach außerhalb der Psychotherapie sagen. Im Alltag muss man sich den Raum für den Rahmen erobern - also Beziehungen herstellen, in deren Kreis man sich traut, persönlich zu werden. Erst dann wird man lebendig und fühlt sich nicht mehr so gelähmt. Leicht gesagt, schwer getan.
Mittwoch, 11. Januar 2012
Ist Hass ein politisches Argument?
Das ist aber nicht der Konsensus in Norwegens öffentlicher Diskussion. Was ist mit Anders Breiviks Welt-Bild, mit seinen Einstellungen und Überzeugungen? "Wenn Breiviks politische Vorstellungen geisteskrank sind, dann gibt es eine Menge schizophrener Menschen in Europa", zitert Gunnar Herrmann den Experten Daniel Poohl. Kann man Breiviks Einstellungen und Überzeugungen politisch nennen? Politisch kann man eine integrative Haltung nennen, die an dem Prosperieren einer Gemeinschaft interessiert ist, die sich an den von uns geteilten zentralen Werten orientiert. Eine Haltung, die diese Gemeinschaft zu zerstören beabsichtigt, ist kriminell. Breiviks Vorstellungen sind, wenn ich richtig sehe, von einem enormen Hass gespeist. Es ist unklar, wem sein Hass gilt. Aber der Hass, der Wunsch, das verfolgte Objekt zu vernichten, ist kein politisches Motiv und kein politisches Argument. Mord ist das Überschreiten, führte Pierre Legendre in seiner Arbeit über den Gefreiten Lortie aus, unserer zivilisatorischen Grenze. Mord ist der Angriff auf unsere gesetzliche Ordnung - psychoanalytisch könnte man wie Legendre sagen: Mord ist der Angriff auf den symbolischen Vater. Mord ist ein Vater-Mord. Das Adjektiv politisch adelt die Wucht des Hasses mit einem ehrenwerten Motiv, die Adjektive rechtsextremistisch wie auch linksextremistisch kalmieren die Wucht des Hasses. Der Hass muss, politisch gesehen, in ein Gespräch kommen; er muss verstanden werden. Wer hasst, hat seine Gründe zu hassen. Sie gehören in eine Gerichtshandlung und später in die öffentliche Diskussion.
Die Politik der Klischees
Was hat Sebastian Herrmann zu diesem Text "Der Keim des Radikalen" bewogen? Und wieso lässt er die Studien ungeprüft durchgehen? Zwei Vermutungen, die zusammen gehören: 1. der IQ-Wert reduziert die Komplexität der Genese politischer Einstellungen und Haltungen; 2. deren Genese hängt von der Qualität der Sozialisationsbedingungen, die wiederum vor allem, aber nicht nur abhängen vom sozioökonomischen, psychosozialen Status der Mitglieder eines Familiensystems. Hass entsteht in dysfunktionalen familiären Systemen. Worin sie nicht funktionieren, muss man prüfen. Wir nähern uns mit dieser Frage der lästigen Frage unserer Geschichte: Worin bestand und wogegen richtete sich der nationalsozialistische Hass?
Hart, aber lustig
Kurze Nachlese zur Neujahrsansprache der Bundeskanzlerin
Ich dachte: selbst für die Jahresansprache nimmt sich unsere Regierung wenig Zeit zur Ausarbeitung. Wer war der Autor oder die Autorin dieser Rede? Ist unsere Regierung überlastet oder desinteressiert? Möglicherweise beides. Die Rede verspricht ein unerfreuliches Jahr.
Wer hört meine Verzweiflung?
Der junge Mann hinter der Telekom-Theke schwieg und hörte zu. Ein paar Mal machte er eine Bemerkung, dass er nicht zuständig sei. Meine Frau und ich schwiegen und hörten zu. Ein Unrecht war zu konstatieren. Wir blieben stumm. Der Mann wütete und wütete; er wollte nicht aufhören. Nach mehreren Minuten fügte er sich und ging. Wie kann man das Unrecht beheben?