Montag, 10. Dezember 2012

Die Einladung, die eine Ausladung war

Gestern, am 10.12.2012, strahlte das RTL ihre Sendung Extra - die Ergänzung zur Sendung Bauer sucht Frau - aus. Ein Beitrag lautete: "Plötzliche Vaterschaft" - wenn eine Mutter mit eigenen Kindern die Partnerin eines Bauers wird, der damit Stiefvater wird. Ein Fernseh-Team aus Redakteur, Kameramann und Tonmeisterin war am vergangenen Freitag an dem gut einstündigen Gespräch beteiligt, in dem ich, der Autor eines Buches über die Stieffamilie oder Patchwork-Familie, zu dem Problem der schnellen Vaterschaft befragt wurde. Ich halte die Stieffamilie für eine schwierige, Konflikt- und Spannungs-reiche Lebensform und bin skeptisch, ob ein Paar damit auf Anhieb gut zurecht kommt. In dem Gespräch beschrieb ich die Komplikationen und die Notwendigkeit, sich Zeit zu nehmen, den stieffamiliären Alltag zu besprechen, um sich abzustimmen und einzustellen auf diese Form von voraussetzungsvoller Elternschaft.

Dass der Beitrag drei meiner Sätze aufgenommen hatte - einer war unverständlich, die beiden anderen nichtssagend - , überraschte mich nicht. Aber ich war perplex, als ich hörte, wie der Kommentar im Off behauptete, ich hätte es nicht geschafft, zu meinen Stiefsöhnen ein "herzliches Verhältnis" zu finden, und ich lebte allein. Der Subtext des Kommentars lautete für mich sofort: Das hat der Psychologe davon; er ist das Opfer seines Berufs geworden. Meine Frau lachte schallend, unsere Tochter erhielt eine SMS von einem Klassenkameraden, der sich über die veränderten Lebensverhältnisse wunderte und mein Stiefsohn war besorgt, ob ich mich damit als Autor nicht in die Nesseln gesetzt hätte. Später ärgerte ich mich über mich selbst: Bei der "plötzlichen Vaterschaft" hätte ich aufmerken müssen. Eine Redaktion, die mit der Bedenkenlosigkeit rascher Beziehungsaufnahmen ein Geschäft zu betreiben versucht, möchte sicherlich nichts über die Bedenken eines Psychologen erfahren. Die Einladung an mich war zwar ausgesprochen, aber nicht ernst gemeint, und ich hatte sie angesichts der Gelegenheit,  den Kopf wieder aus dem Fenster zu stecken und mich begucken zu lassen, gebauchpinselt  angenommen.

Dienstag, 13. November 2012

Kalter Kaffee

Die Apokalyptiker führen zur Zeit - könnte man mit Umberto Eco sagen. Heute kam das Interview in der SZ (13.11.2012, S. 16, Abt. Wissen):
"Im Cyberspace verlieren wir unsere Träume". Die Unterzeile: "Wenn Menschen vor lauter Bildern die Welt nicht mehr erleben: Der Bochumer Psychiater und Psychotherapeut Bert te Wildt sieht im digitalen Wandel einen fundamentalen Umbruch, getrieben auch durch die Angst vor der eigenen Sterblichkeit".

Die zwei Sätze dröhnen. Unsere Träume. Ich wüsste keine Untersuchung zu nennen, die die Häufigkeit des Träumens im Längsschnitt untersucht hätte. Immerhin hat die Schlafforschung - kein einfaches Vorgehen - herausgefunden, dass wir enorm viel träumen, Nacht für Nacht. Ob sich das heute schon wie verändert hat, weiß keiner. Wie auch?  Wenn Menschen vor lauter Bildern die Welt nicht mehr erleben - ist eine Variation der Idee, die Umberto Eco 1985 vorgelegt hat:
"Das bildliche Werk (der Kinofilm, die TV-Reportage, das Wandplakat, der Comic strip, das Foto) ist heute bereits ein integraler Bestandteil unseres Gedächtnisses. Was etwas ganz anderes ist und eine fortgeschrittene Hypothese zu bestätigen scheint, nämlich dass die neuen Generationen sich, als Bestandteile ihres Verhaltens, eine Reihe von Bildern einverleibt haben, die durch die Filter der Massenmedien gegangen sind (und von denen einige aus den entlegensten Zonen der experimentellen Kunst unseres Jahrhunderts kommen). In Wahrheit braucht man nicht einmal von neuen Generationen zu sprechen: Es genügt, zu mittleren Generation zu gehören, um erfahren zu haben, wie das gelebte Leben (Liebe, Angst und Hoffnung) durch 'schon gesehene' Bilder gefiltert wird".

Umberto Eco spricht von filtern, Bert te Wildt von nicht mehr erleben. So geht das im ganzen Interview. Eine grobe Behauptung jagt die andere: Die Innenwelten werden kolonisiert, Süchte erzeugt, Formen des Wissens reduziert. Alles im Dienste der Vertreibung des Gedankens der Sterblichkeit. Alles nicht neu und auch nicht falsch. Falsch ist: der fundamentale Umbruch. In den 50er und 60er Jahren hatten wir das Kino. Es tötete die Fantasie (fremde Bilder!) und schürte die Aggressivität. In den 80er und 90er hatten wir das Fernsehen. Es tötete die Fantasie (fremde Bilder!), machte süchtig und dick (das viele Sitzen!), frönte dem umfassenden Amüsement (mit tödlichem Ausgang!) und machte aggressiv (mit gewalttätigen Folgen). Jetzt das Internet - mit den gleichen befürchteten Folgen.

Wir wissen es nicht. Die Zukunft schreckt. Die Gegenwart ändert sich. Die Welt-Wahrnehmung und der Realitätskontakt fühlen sich anders an. Anschluss zu halten, ist mühsam; eine lebenslange Anstrengung. Und die Aussicht zu sterben ist schrecklich. Die Apokalyptiker beruhigen uns in dem Sinne, dass wir es wirklich schwer haben.           

Drohen oder nicht drohen?

"Man stelle sich einfach mal vor, Berlin hätte von Anfang an gesagt: wir helfen. Punkt. Aus. Dann", schreibt Cerstin Gammelin in der SZ vom 12.11.2012 auf Seite 4 in ihrem Kommentar Die Kunst des Umfallens, "hätten sich die andere Länder mit ihren Extrempositionen durchgesetzt, in diesem Fall die griechische Regierung". Fazit: "Es ist auch den markigen Aussagen der Bundesregierung zu verdanken, dass sich Athen gezwungen sieht, überhaupt Reformen anzupacken".

Ist das so? Die Logik scheint einfach zu sein, das zugrunde liegende Konzept ist so vertraut. Hätte ich mit dem Taschengeld-Entzug nicht gedroht, hätte er nie seine Hausaufgaben gemacht. Eltern lügen sich manchmal mit ihrer Hilflosigkeit in die Tasche und übersehen, dass Kinder ein Lebensinteresse daran haben, ihre guten Beziehungen zu den Eltern zu erhalten, und dass die Drohung des Beziehungsabbruchs die schrecklichste Bedrohung für die Stabilität des seelischen Gefüges des Kindes ist. Drohen heißt: die Abhängigkeit des Kindes auszubeuten - es wirklich klein zu machen.

Nun lässt sich dieses Konzept elterlicher Hilflosigkeit nicht so ohne weiteres auf politische, diplomatische Interaktionsprozesse übertragen. Aber stellen wir uns vor, die Bundesregierung hätte gesagt: Wir helfen. Sie hätte nicht die Metapher des unklaren Helfens benutzen müssen - Rettungsschirm - ; sie hätte ihrerseits ihre Forderungen stellen und an die Lebensinteressen der verschuldeten Länder erinnern können; sie hätte darauf drängen und warten können, dass ihre Forderungen erfüllt werden; sie hätte die griechische Regierung nicht hinhalten müssen wie ein kleines Kind; sie hätte das landesweite Schenkelklopfen bundesdeutscher Selbstgerechtigkeit verhindert; sie hätte den Stolz der Griechen erhalten; sie hätte die Griechen gewonnen. Es ist das alte deutsche Konzept: Erst Druck machen, dann - . Erst unterwerfen, dann - . Es ist die alte bundesdeutsche Unsicherheit, wie angemessene Beziehungen gestalten werden sollten. Dazu lässt sich vieles sagen. Nur so viel und ganz knapp: die bundesdeutsche Beziehungs-Scheu  gehört zu unserer schwer erträglichen historischen Last.

Freitag, 9. November 2012

Armin Maiwald

Heute im Wirtschaftsteil der SZ auf Seite 30: Armin Maiwald vom WDR, der Mann von der Maus, wurde interviewt. Das Interview ist enorm. Lakonisch dekliniert er das Fernsehen kritisch durch - verdichtet und differenziert. Lakonisch spricht er über den Erfolg der Sendung, die er 1972 mit auf den Weg brachte und auf Kurs hielt. Ich halte die Sendung mit der Maus, die ich durch meine Tochter kennen lernte, für den besten Beleg für die Notwendigkeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und Fernsehens und für die beste Investition des Senders. Armin Maiwald leidet nicht am Einschaltquoten-Syndrom. Er orientiert sich an der Neugier der Kinder. Wer bei ihnen Erfolg hat, muss gut sein und es ehrlich meinen.

Journalismus über Bande

Manchmal geht mir eine Schlagzeile nach, bei der ich mich dann frage, was die Redaktion damit nicht gesagt hat oder vielleicht sich nicht zu sagen traute. Heute morgen in der SZ auf der unteren Hälfte der ersten Seite: "Geld stinkt doch. Die Grünen gegen auf Distanz zum SPD-Kandidaten Steinbrück". Geld  stinkt doch. Der Satz verschieb den Sachverhalt, den die SZ vor ein paar Tagen anmerkte, etwas: Um die Summe geht es nicht, wohl um die Haltung eines MdB, eine riesige Summe für einen Vortrag einzustecken. Nebenbei gesagt: Ich würde gern den Vortrag lesen, um zu sehen, ob er die 25 grand, wie es manchmal im U.S.-Kino heißt, wert ist. Ich vermute: Er ist es nicht.

Peer Steinbrück ist nicht der Fachmann, den er herausdröhnt. Unvergessen: 2008, als er mit der Kanzlerin vor den Kameras stand - es ging um die Beruhigung der bundesdeutschen Bürgerinnen und Bürger, dass deren Geld auf einer deutschen Bank garantiert wäre und nicht verloren gehen würde wie bei der Lehman-Bank - , auf die Krise der Amerikaner Hände-reibend verwies, deren ökonomische Katastrophe ausmalte und versicherte, eine solche Krise würde es bei uns nie geben. Steinbrück hatte offenbar nur die Kameras vor Augen. Unvergessen 2011: Wie er für eine andere Kamera mit dem Hamburger Orakel Schach zu spielen vorgab und sich später die Inszenierung vorhalten musste. Der Mann, kann man sicherlich sagen, tut viel vor und für die Kameras. Deshalb sind  die Grünen gut beraten, sich den Kandidaten der SPD noch einmal anzuschauen und sich gut zu erinnern, wie er mit ihnen umging. Eine Zeitung könnte einem doch beim Erinnern helfen und zusammentragen, was man weiß. Das kommt vielleicht noch. Heute begnügte sich die SZ mit dem Hinweis auf die Vertreter der skeptisch werdenden Grünen. Ob die Redaktion den Zorn des schnell sprechenden Herrenreiters fürchtete?  

Mittwoch, 7. November 2012

Betrug am Kinogänger

Einer meiner Lieblingsfilme des westdeutschen Nachkriegskinos war der 1956 in den Filmtheatern präsentierte Streifen Kitty und die große Welt mit Romy Schneider, Karlheinz Böhm und Otto Eduard Hasse. Sissi in Genf statt in Bad Ischl und Wien, könnte man den Plot resümieren. Kitty war das Remake des 1939 von Helmut Käutner inszenierten Kitty und die Weltkonferenz. 1956 führte Alfred Weidenmann Regie, das Drehbuch schrieb Herbert Reinecker. 1956, als elfjähriger Kinogänger, kannte ich weder Helmut Käutner, noch Alfred Weidenmann, noch Herbert Reinecker und deren Geschichte der Jahre 1933 bis 1945. Jedenfalls war ich hingerissen von Kitty. Ich sah den Film einmal und hoffte - seit langem - auf die DVD. Jetzt ist sie auf dem Markt, aber in Schwarz-Weiß. So wurde der Film nicht vorgeführt. Er war farbig. In - um Cole Porter aus Silk Stockings (1957; Regie: Rouben Mamoulian)   zu paraphrasieren - herrlichem Eastmancolor. Das DVD-Cover sagt darüber nichts. 

 

(Korrektur: 15.2.2022)

Whistleblowing

Seit kurzem haben wir ein neues deutsches Wort aus dem Englischen: Whistleblowing. "Reich durch Anschwärzen", überschrieb Karl-Heinz Büschemann in der SZ (vom 5.11.2012, S. 17) seinen Kommentar im Wirtschaftsteil der Zeitung. Anschwärzen. Die Wahl des Verbums ist interessant. Es gehört in den Kontext der Schülersprache und deren Moral vom Petzen. Im Englischen bläst der Schiedsrichter in die Pfeife (Whistle) - um einen Regelverstoß zu ahnden. Der whistleblower, sagt das Longman-Wörterbuch"is someone who tells people in authority or the public about dishonest or illegal pratices in business, gevernment etc ". Das hat aber mit Anschwärzen oder Petzen nichts zu tun. Wir sind nicht mehr in der Schule unter Schülern. Es geht im angelsächsischen Verständnis um eine Kultur der Aufrichtigkeit und der Verantwortung und um das Konzept der Wahrheit. James B. Stewart hat in seinem Buch Tangled Webs. How False Statements Are Undermining America: From Martha Stewart to Bernie Madoff darauf hingewiesen, dass das Rechtssystem davon abhängt, dass die Wahrheit gesagt wird - weshalb in den Staaten Meineid rigoros verfolgt und schwer bestraft wird.   Karl-Heinz Büschmann schreibt: "Für den einen sind Whistleblower Denunzianten, die mit ihren Beschuldigungen das Firmenklima vergiften, für andere sind sie Helfer mit besten Absichten". Aber, schränkt er ein, "nicht jeder Mitarbeiter, der seinen Arbeitgeber anschwärzt, hat edle Motive". Karl-Heinz Büschmann kommt vom Anschwärzen nicht weg. Welche Motive der Mitarbeiter hat, ist nicht relevant; es geht um die Ermittlung einer  rechtswidrigen Tat; sollte der Mitarbeiter selbst eine rechtswidrige Tat begangen haben, wird gegen ihn ebenfalls ermittelt.

Tom Hanks was at the ZDF

Tom Hanks, konnte man in der gestrigen SZ (vom 6.11.2012, S. 31) lesen, gefiel Wetten, dass...? vom ZDF nicht. Zwölf Autorinnen und Autoren der SZ kamen zu Wort. Sechs votieren für, sechs gegen die Sendung. Wetten, dass...? gehört zu unserem Fernsehen wie der früher der Käfer zur Fahrschulausbildung, könnte man die zwölf Beiträge resümieren. Der Käfer hat als Beetle überlebt, allerdings nicht in den Fahrschulen; dort werden Golf und andere Marken bewegt. Die zwölf Beiträge rühren an unser Selbst-Verständnis von der so genannten Unterhaltung, die bei uns etwas abfällig und anrüchig klingt - anders als das angelsächsische entertainment. Im Englischen unterhält der Gastgeber seine Gäste. Im Deutschen zahlt der geschiedene Ehemann oder die geschiedene Ehefrau Unterhalt an den ehemaligen Partner. Unterhaltung wird bei uns nicht so ernstgenommen; deshalb erwarten wir auch keine Spitzenleistungen, sondern sind zufrieden, wenn man nebenbei noch das Ragout zubereiten kann, wie Claudia Tieschky halbwegs zufrieden anmerkte. Ich vermute, sie schaut so gut wie nie diese Tanker-Sendung. Die Verachtung darf man natürlich nicht zugeben. Offenbar sind viele zufrieden, wenn der Moderator auf eine Zuschauerin oder einen Zuschauer zugeht mit den Worten: "Ich komme jetzt mal zu Ihnen". Die TV-Sendung als Umarmungs- oder als Verschmelzungsangebot. Die Herren oder Damen kassieren ihre Prominenz ein. Sie geben sich wie man das früher mit einem heute verpönten Wort nannte: volkstümlich.  Der Mensch ist gut, man muss ihn nur vor die Kamera lassen, nannte ich die Fantasie dieser Sendung - vor gut zwanzig Jahren. Erstaunlich, wie zäh das ZDF an diesem Quoten-Umgetüm festhält und seinen Auftrag missversteht. "Er geht nicht auf Sendung, er geht aufs Ganze", wirbt der Mainzer Sender jetzt für seinen neuen, in zwei Sendungen erprobten Mann. Aber der Sender nudelt seine alten Melodien.

Ist Hass ein politisches Argument? II

"Das Versagen nach dem Versagen", überschrieb Tanjev Schultz seinen Kommentar in der SZ vom 3./4. November 2012 (S.4). Auf das Versagen der Ermittlungsbehörden bei der Aufklärung der Ermordung deutscher Bürger nicht-deutscher Herkunft, folgte, so Tanjev Schultz, das zweite Versagen:  "ein Mangel an Demut und ehrlichem Aufklärungswillen". Der ehrliche Aufklärungswillen ist das Problem. Was soll aufgeklärt werden? Was ist, wenn das Versagen kein Versagen war, sondern das Produkt eines intendierten, aber offenbar nicht-bewussten Abstimmungsprozesses der Ermittler auf eine eliminatorische Fantasie, die den Opfern die Vermutung verweigerte, Opfer eines Mordes geworden zu sein? Wenn wir diese Hypothese ernst nehmen, dann können wir nicht mehr von Versagen sprechen, sondern von einem Gruppenprozess, deren Teilnehmer insofern kooperierten, als sie sich auf ein oder auf mehrere projektive Bilder von den Wirklichkeiten der Mord-Opfer verständigten. Diese Hypothese, ein komplexer interaktiver Prozess, ist natürlich schwer aufzuklären. Man müsste, wenn sie denn zu sprechen bereit sind,  die Beteiligten lange interviewen.

Seit 1945 wissen wir, wie schwer es fällt, sich über die eigene, wie auch immer geteilte Sympathie für die mörderischen nationalsozialistischen Fantasien deutscher Grandiosität zu verständigen. Seit 1945 wissen wir auch, wie schwer es fällt, eine einigermaßen präzise Sprache dafür zu finden. Es geht um den mörderischen Hass, den die nationalsozialistischen Propagandisten zu einer Art politischer Religion verklärten und für einige Jahre salonfähig machten. Spätestens seit 1945 wissen wir auch, dass der mörderische Hass ein schreckliches, irreparables Leid hinterlassen hat. Seitdem wissen wir auch, dass der mörderische Hass schwer beim Namen zu nennen ist. Im Kontext von Links - oder Rechtsextremismus erhält der Hass die Aufwertung einer politischen Haltung. Wenn gar von einer rechtsextremen Terrorgruppe nationalsozialistischer Untergrund gesprochen wird, die als Akronym einer ehemaligen Automarke kursiert, verschwindet der Hass in einem seltsamen Bedeutungs-Nebel.  Dieser Hass, auch wenn wir ihn identifizieren zu können glauben, weil er  mit den bekannten Requisiten und Formeln  der beschwichtigenden öffentlichen Diskussion ausstaffiert wird, ist noch nicht verstanden.  (Siehe auch meinen Blog vom 11.1.2012) 

Freitag, 19. Oktober 2012

Ein Fußballspiel ist ein Fußballspiel ist ein Fußballspiel

Seit dem 4. Juli 1954, unserem heimlichen Nationalfeiertag - den wahrscheinlich vor allem die männlichen Westdeutschen feiern - , wissen wir, dass der Fußball eine wichtige,  balancierende Funktion für unsere nationale Zufriedenheit hat. Am 4. Juli 1954 schlug die westdeutsche Fußball-Nationalmannschaft die ungarische Nationalmannschaft, die damals einen ähnlichen Ruf hatte wie heute die spanische Nationalmannschaft. An diesem Tag konnten die Westdeutschen schreien, jubeln, feiern und durchatmen. Die düstere Nachkriegszeit schien auf einmal nicht mehr so düster zu sein. Das änderte sich allerdings 1958 mit der Fußballweltmeisterschaft, als die schwedische Nationalmannschaft das westdeutsche Team unter dramatischen Umständen im Halbfinale aus dem Turnier warf. Die Empörung war so riesig, dass einigen Fahrzeugen der schwedischen Besucher des gleichzeitig stattfindenden Aachener Reiturniers die Reifen durchgestochen wurden.

Jetzt sind wir irgendwie knatschig - ich zähle mich natürlich dazu - über unsere Fußball-Nationalmannschaft, die zum ersten Mal richtig Fußball spielt, fast spanisch, aber - nicht gewinnt. Überhaupt gewinnen unsere Fußballmanschaften keine entscheidenden Spiele mehr. Sie spielen einen guten Fußball, aber verlieren mit einem Unentschieden. In Italien stellte der Trainer die falsche Mannschaft zusammen und verlor folgerichtig und richtig. Jetzt führten unsere jungen Fußballer mit einem Vier-Tore-Vorsprung - und brachten den nicht nach Hause, wie man so schön sagt. Früher, beispielsweise 1974, brachten unsere Fußballer ihren mit einem  in der ersten Halbzeit exekutierten, umstrittenen Elfmeter erzielten 2:1 Vorsprung in der zweiten Halbzeit über die Runden - eine Zitterpartie des Nägelkauens - und wurden mit Franz Beckenbauer Weltmeister. Die Erleichterung über das Ende dieses Spiels ließ einen in einen erschöpften Jubel verfallen - bei einem milden schlechten Gewissen.

Und jetzt? Jetzt rätseln wir, was mit unseren jungen, brillianten Leuten los ist. In Italien wurde der Trainer kopflos und vergaß die alte Regel, dass man eine erfolgreiche, gut spielende Mannschaft nicht verändert, jetzt wurden die Spieler kopflos nach ihrem ersten Gegentor. Ich habe noch den ARD-Reporter Tom Bartels im Ohr, der bei jeder Unsicherheit im bundesdeutschen Strafraum die Katastrophe und die Niederlage witterte. Ich fand das übertrieben und erinnerte meine Mutter, die vor jedem Regenguss warnte. Seltsamerweise hatte Tom Bartels die Not unserer Spieler offenbar gespürt. Sie wurden kopflos und verloren ihre Linie. Wieso?

In anderen Sportarten sind Einbrüche normal. Beim Tennis liefert ein Spieler einen glänzenden ersten Satz ab, danach läuft nichts mehr. Steffi Graf konnte im letzten Moment ein Spiel drehen. Manchmal bekamen unsere Fußballer im letzten Moment noch den Ball ins gegnerische Tor. Wovon hängt das ab?         Von der Fähigkeit der Angst-Regulation, die wiederum abhängt von den sich einstellenden Beziehungskonstellationen. Für diesen Kontext hat die psychoanalytische Theorie das Konzept der Übertragung. Was man im Spiel gegen die Schweden sehen konnte, war: Angst. Offenbar war das verlorene Spiel gegen Italien noch nicht verdaut. Offenbar sind unsere Erwartungen so riesig, dass sie enorm belasten. Unsere jungen Leute sollen jetzt besser als die Spanier sein. Das scheint sich aber so schnell nicht realisieren zu lassen. Immerhin spielen jetzt schon Klasse. Aber vor allem ist ein Fußballspiel immer noch ein Fußballspiel.

Dienstag, 28. August 2012

Die seltsame Idee vom Reset der Seele

"Stromschlag ins Gehirn", titelte die SZ gestern vom 27.8.2012 auf ihrer Seite 14 (Wissen), "die Elektrokrampftherapie kann schwerste Depressionen lindern. Doch Patienten mit Stromstößen zu behandeln, weckt Ängste und beschwört das Bild einer menschenverachtenden Psychiatrie. Deshalb wird die Methode nur selten eingesetzt". Vielleicht gibt es noch andere Gründe als den der Abneigung, dieses Verfahren nicht einzusetzen. Zuerst fällt auf, dass der Autor Thomas Wagner-Nagy nicht zwischen Methode und Verfahren unterschied. Eine Methode ist Theorie-geleitetes Handeln und folgt einem Erkenntnis-Interesse. Die Elektrokrampftherapie ist Theorie-loses Handeln. Sie folgt einigen schlichten Ideen. 1. Der lebensgeschichtliche Kontext eines oder einer an einer Depression Erkrankten hat sich in neurologischen Mustern etabliert. 2. Die Funktionsweise und Struktur dieser Muster sind, obgleich sie nur in Umrissen bekannt sind, beeinflussbar. 3. Weil die neuronale Erregungsleitung - ohne dass bekannt ist, was die Erregungen (an lebensgeschichtlichen Kontexten) vermitteln - auf elektro-chemischen Prozessen basiert, kann sie mit elektrischen Impulsen beeinflusst werden. 4. Der Eingriff erfolgt nach dem von elektronischen Systemen bekannten Prinzip des Reset.

Der Autor schrieb: "In der Tat ist über den eigentlichen Wirkmechanismus der EKT so gut wie nichts bekannt...Mittlerweile wissen Forscher, dass manche Hirnareale bei depressiven Patienten stärker vernetzt sind und miteinander kommunizieren als bei gesunden Menschen. Diese Hyperkonnektivität zu reduzieren, verspricht also Erfolg bei der Therapie von Depressionen". Hyperkonnektivität, ein hübsches Fremdwort, ist die Beschreibung einer Verdichtung, keine Erklärung; was sie für eine depressive Erkrankung bedeutet, ist unklar. Das Verfahren der Stromstöße ist ein massiver, unglaublich schmerzhafter Eingriff, der sorgfältig betäubt werden muss; er ähnelt einem epileptischen Anfall. Die empirische Basis für den Erfolg dieses Verfahrens ist schmal. Der Autor berichtete von einer Studie, an der neun Patienten teilnahmen, wie er schrieb, die sich "hinterher besser fühlten" - abhängig davon, wie stark der Eingriff "die Überaktivität senken konnte". Der Effekt hält offenbar nur Monate. "Spätestens nach sechs Monaten, so Thomas Wagner-Nagy, "müssen sich vier von fünf Patienten einer neuen Therapie unterziehen". Diese Erfolgsquote erreicht die Erfolgsquote mancher Sucht-Therapien.

Bleibt die Frage, was der Text vom Stromschlag gestern in der SZ sollte. Er gehört in den Kontext einer Wissenschaftspolitik, die die Komplexität psychischer Erkrankungen zu reduzieren versucht und zu helfen verspricht, ohne zu wissen, worin die Hilfe besteht. Er spricht die Sprache der Akquisition.

Dienstag, 26. Juni 2012

I'm Singin' In The Rain - Again

Mit Metaphern wird Politik kommuniziert. Dafür müssen sie wie das Schiffchen ins Wasser in der öffentlichen Diskussion in Umlauf gebracht werden. Dann kann mit der Wiederholung der Metaphern Politik gemacht werden. Vor einem guten halben Jahr begann der Rettungsschirm zu kursieren. Vor einem halben Jahr (s. meinen Blog vom 3.10.2011) fand ich den Rettungsschirm fürs Retten zu schwerfällig - eine sozusagen unmögliche Metapher. Inzwischen kursiert sie und hat sich, wie mein Vater gesagt hätte, ausgerettet. Inzwischen ist die mit ihr verbundene Politik deutlich geworden: 1. Einer hält den Schirm und kontrolliert, wer drunter darf; 2.  der Schirm wird, wie das immer üblich ist, nur für Regenfälle kurzzeitig aufgespannt - mit anderen Worten: unter dem Schirm wird abgewartet, Zeit tot geschlagen und nur das Nötigste getan. Inzwischen wissen wir: das funktioniert so nicht. Die Euro-Krise ist eine strukturelle Krise - es fehlt an institutionalisierten Übereinkünften.  Ob wir dies hinbekommen - hinbekommen wollen, ist die Frage.

Montag, 11. Juni 2012

Körper-Sprache und Stahlhelme

Früher in den 50er Jahren, so ich mich richtig erinnere, musste man die hier und da auf Raufereien wartenden Jugendlichen mit diesem Verhaltensmuster passieren: Wenn man sich anschaute, durfte man nicht zuerst die Lider niederschlagen, zudem musste man seinen Blick schweifen lassen und ihn nicht fixieren. So präsentierte man sich cool und gab sich raufpotent und ließ sich nicht als einfaches Opfer ausgucken. Dass das heute unter Körpersprache subsumiert wird, wussten wir natürlich nicht. Wir kannten auch das Substantiv Opfer nicht als ein unter Jugendlichen sehr kränkendes Schimpfwort. Die so genannte Körpersprache hat den alten militärisch getönten Appell, der mit einem Schlag auf den Rücken kommuniziert wird - Kopf hoch, Brust raus, Bauch rein - assimiliert und verfeinert. Heute muss man sich noch breitbeinig stellen. Dann spricht der Körper seine einschüchternde Sprache. Das Konzept der Körper-Sprache beruht auf einem Konzept direkter Wirkung: Wenn ich bestimmte Muskeln anspanne, teile ich mich gespannt (kräftig) mit. Philip Furley, Sportwissenschaftler in Köln, sagte dazu im Kölner Stadt-Anzeiger (vom 9./10.6.2012, S. 11 im Magazin): "Zumindest führt es dazu (das Anspannen, G.B.), dass er in den meisten Fällen bei seinem Gegner einen positiven respektvollen Eindruck hinterlässt und dadurch seine Chancen erhöht, treffen zu können". Das ist die Frage. Der erste Eindruck ist für die Sympathie- und Antipathie-Abschätzung wichtig. Aber erst danach wird es interessant. Wie ich den ersten Ball annehme und ihn passe, ist aufschlussreich. Stehen ist einfach, Spielen ist eine hochkomplexe psychomotorische Koordination, die vom Affektsystem entscheidend beeinflusst wird. Das wusste offenbar unser bundesdeutscher Fußball-Co-Trainer Hansi Flick, der der Sprache des forcierten Körpers beim Warten auf die Exekution eines der portugiesischen Mannschaft möglicherweise zugesprochenen Freistoßes nicht traute, weshalb er zu dem einst einschüchternden Ausrüstungsgegenstand des deutschen Militärs griff, das, mit dem Wort des Auftrumpfens - Wehrmacht - belegt,  wütete und irreparables Leid hinterließ: dem deutschen Stahlhelm. Mit seiner unglücklichen Metapher sagte Hansi Flick: 1. Wir haben Schiß, da hilft kein Muskel-Pressen; 2. der portugiesische Spieler CR 7 schießt unglaublich scharf; 3. wir brauchen Unterstützung. Dass er sich so klein machte und ans deutsche Militär dachte, ist schade. Im Eifer des Turnier-Gefechts kommen einem die blödsinnigsten Ideen. Das war uncool.

Dienstag, 15. Mai 2012

In olden days / A glimpse of stocking / Was looked upon something shocking / Now heaven knows - anything goes

Natürlich geht nicht alles. Das wusste Cole Porter, der dieses Lied schrieb und komponierte, genau. Er blieb nie unter seinem Niveau. Das ist keine Geschmacksfrage, sondern eine Frage der (künstlerischen) Redlichkeit. Cole Porter hielt sein Publikum nicht für dumm. Für eine Tageszeitung gilt die journalistische Redlichkeit. Die BILD-Zeitung lügt jeden Tag mit ihrer Werbung "BILD dir deine Meinung". Daran hat deren Redaktion kein Interesse. Geliefert wird Tag für Tag das Bad im Ressentiment; die Redaktion denkt an eine Leserschaft, die ihre Verbitterungen und ihre Abneigungen bestätigt sehen möchte. Heute lautet die Schlagzeile - beim Bäcker gelesen: "Porsche fährt durch Café-Terrasse". Porsche.

Von einer Tageszeitung erwarte ich, dass sie ihren Leserinnen und Lesern die Kontexte ausreichend beschreibt, so dass man eine Idee bekommt von dem was läuft. Die SZ bemüht sich mehr und mehr, darüber hinaus die Subtexte der öffentlichen Diskussion zu beschreiben. Deshalb finde ich es in Ordnung, dass die drei Journalisten der SZ, Hans Leyendecker, Klaus Ott und Nicolas Richter, den Henri Nannen-Preis verweigerten, der gleichzeitig an die BILD-Journalisten Nikolaus Harbusch und Martin Heidemanns verliehen wurde - sie wollten nicht von einer  Jury ausgezeichnet werden, die nicht differenziert zwischen journalistischer Redlichkeit und journalistischer Unredlichkeit. Noch immer sind die Kontexte entscheidend für die Wahrnehmung der Bedeutungszusammenhänge. Der Kontext des Ressentiments erstickt einen nachdenklichen Gedanken. Im Kontext des Ressentiments kann man vom Verständnis sprechen und zur Hetzjagd einladen. Der Slogan "BILD dir deine Meinung" - der im Klartext Pflegst du nicht auch gern dein Ressentiment? heißt und zu dessen Unterstützung und Beschwichtigung prominente Gesichter gekauft wurden (die man sich alle merken sollte) - ist das beste Argument gegen diese Zeitung. Ein Bravo!  für die SZ-Journalisten, die sich am vergangenen Freitag, den 11.5.2012, nicht vereinnahmen ließen für den zynischen Ausverkauf journalistischer Ideale und die sich für diese Art von Auszeichnung bedankten.

Mittwoch, 25. April 2012

Ein unmöglicher Plan des Gesetzgebers

Heute, am 25.4.2012, machte die SZ mit dieser Schlagzeile auf: "Arme gehen beim Betreuungsgeld leer aus". Die Ober- und Unterzeilen lauteten: "Familienministerium bereitet Gesetzentwurf vor. Koalition will den geplanten Zuschuss von 150 Euro in voller Höhe von der Hartz-IV-Leistung abziehen". Der Kommentar der Zeitung zu diesem Plan einer seltsamen Gesetzgebung sagt einen Sturm der Empörung voraus. Die Empörung wäre zu wenig. Zum xten Mal (ich habe es nicht nachgehalten) kommuniziert unsere Regierungskoalition oder eines ihrer Subsysteme das Desinteresse an unseren Lebensproblemen - dieses Mal an den Leuten, die mit dem, was ihnen der Gesetzgeber als Existenzminimum vorrechnet, leben müssen. Geplant ist, das in der Regierungskoalition als Verhandlungspfand umstrittene Betreuungsgeld von der gesetzlichen Zuwendung abzuziehen, die Hartz IV heißt und  die chronische Kränkung etabliert. Jetzt dreht das Verfahren des Auszahlens und Einkassierens (des Betreuungsgeldes)  die Schraube der staatlichen Kränkung weiter und verursacht neue Kosten, aber vielleicht neue Arbeitsplätze. Das Verfahren verstößt (in meinem Rechtsverständnis) gegen den Gleichheitsgrundsatz, weil denen, die ihr Leben finanzieren können, der Betrag zugestanden wird, aber denen, die es nicht können, nicht.  Das Verfahren unterstellt ein ausschließliches Interesse am Geldbetrag, aber ein Desinteresse an der Entwicklung des Kindes; damit würde das Ressentiment, das eine egozentrische Lebensrealität der ökonomisch bedürftigen Eltern oder Elternteile und deren ungenügende psychosoziale Kompetenz behauptet, gewissermaßen per Gesetz festgeschrieben und zur Praxis erhoben.

Montag, 23. April 2012

Der seltsame Impuls des Unverständnisses

Am vergangenen Samstag, den 21.4.2012, zog Hans Holzhaider auf der stets lesenswerten Seite Drei der SZ nach der ersten Woche der Osloer Verhandlung der Straftaten von Anders Breivik Bilanz - Titel und Untertitel resümieren: "Alles gesagt. Eine Woche in Oslo: Was einen Menschen zu solch einem Verbrechen treibt, kann auch der Prozess gegen Anders Breivik nicht klären. Aber die ganze Erbärmlichkeit eines Massenmörders, die steht vor Gericht".

Der Autor Hans Holzhaider ist ungeduldig. Das Verfahren ist noch nicht beendet, die Gutachter haben ihre Gutachten nicht vorgetragen, aber der Autor erklärt: "Was einen Menschen zu solch einem Verbrechen treibt, kann auch der Prozess nicht klären". Wieso nicht? Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen. Eine Mindestanforderung an unsere forensischen Gutachter besteht darin, eine tragfähige Hypothese für eine lebensgeschichtliche Verortung der Straftaten vorzulegen - also klar zu legen, wie die Straftaten das Produkt der Kumulation spezifischer Erfahrungen der Lebensgeschichte sind. Die norwegischen Gutachter müssen darlegen, jenseits der politisch-philosophisch angestrengten Rationalisierungen, an wen Anders Breiviks offenbar unersättlicher Hass lebensgeschichtlich adressiert war oder ist. Damit würde deutlich, was Anders Breivik bewegte und bewegt.

Zur Erbärmlichkeit. Das Wort ist die Vokabel der Verachtung. Es enthält aber das Wort Erbarmen. Daran muss man erinnern. Es gibt auch die enorme Not Anders Breiviks - für die zumindest das Gericht  ein Verständnis aufbringen muss, will es nicht den Täter mit seinen Taten gleichsetzen und ihn damit  entmenschlichen und die gesetzliche Ordnung so weit korrumpieren, dass das Konzept der Würde des Menschen, auch wenn es schwer fällt, sie zu respektieren, dem merkwürdigen Impuls geopfert wird, das Verstehen zu verweigern.

Montag, 16. April 2012

Forsches Waten in flachen Gewässern

Am 13.3.2012 brachte die SZ auf ihrer ersten Seite diese Nachricht: "Inzest bleibt verboten. Europäische Richter bestätigen deutsche Regeln". Der erste Satz dieser Nachricht lautete: "Inzest darf in Deutschland weiter bestraft werden, ein Verbot der Geschwisterliebe verletzt nicht die Europäische Menschenrechtskonvention". In diesem Satz klingt das Verbum dürfen nach. Es transportiert einen ironischen Ton, eine Missbilligung und ein Missverständnis. Gerichte handeln nicht willkürlich, sondern müssen bestrafen, wenn eine relevante Norm verletzt wurde; wie sie den Strafrahmen auslegen, unterliegt ihrer Prüfung. Die Formel von den deutschen Regeln degradiert das Verbot des Inzests zur nationalen Marotte auf das Niveau der Vorfahrtsregel. André Green, der große, kürzlich verstorbene Mann der französischen Psychoanalyse, nannte einmal die Faustregel, dass in schweren psychotischen Störungen zumeist ein gravierendes inzestuöses Problem der Kern dieser Erkrankungen wäre. Das ist die klinisch-psychiatrische Seite. Pierre Legendre, Jurist, Historiker und Psychoanalytiker, sieht in den Verboten des Inzests und des Mords die für die Kultivierung des Menschen notwendigen institutionalisierten Grenzen; er schreibt in seiner Vorbemerkung zu Das Verbrechen des Gefreiten Lortie:
"Beim Studium der institutionellen Konstruktionen, unter deren Ägide die Menschheit sich reproduziert, begegnet man unausweichlich der Frage des Abgrunds. Ich verstehe darunter die Tragödie, in die sich die Menschenwesen verstricken, wenn die untersagte Grenze überschritten wird, jene Grenze, die von den beiden in hohem Grad juridischen Begriffen des Inzests und des Mordes markiert wird".
Die Figur der (erwachsenen) sexuellen Selbstbestimmung muss im Kontext der "institutionellen Konstruktionen", wie Legendre sagt, gesehen und relativiert werden.             

Donnerstag, 22. März 2012

Das TV-Geschäft mit dem Affekte-Rühren

Gestern, am 21.3.2012, die letzte Nachricht der Tagesschau der A.R.D., kurz vor 20.15 - die Übertragung des Halbfinals Mönchengladbach gegen die Bayern aus München wartet: die Trauerfeier im belgischen Lommel; Eltern erinnern und gedenken ihrer bei dem Busunfall in der Schweiz verstorbenen Kinder; eine Halle wurde dekoriert; die weißen Särge dort aufgebahrt; eine Mutter spricht darüber, wie sie, wenn sie in den Himmel schaut, ihre Tochter dort vermutet. Ihr Schmerz nimmt mich mit. Rumms. Der Wetterbericht wird angesagt - unbarmherzig, geschäftsmäßig. Meine Bewegung des Mitempfindens wird buchstäblich gekappt und läuft gegen die grüne Wand des Wetterberichts. Wenn das Fernsehen einem keinen Raum des Mitempfindens lässt - was soll dann dieser ans Ende der Sendung gehängte Bericht?
Nehmen wir an, dass es die Tagesschau-Redakteure eilig hatten -  Fußball darf sich nicht verspäten - und dass nicht das Geschäft mit der forcierten Rührseligkeit dominierte.

Montag, 19. März 2012

Der digitale Fortschritt ist ein Fortschritt

Heute, am 19. März 2012, lässt die SZ den Göttinger Germanisten Gerhard Lauer zu Wort kommen (S. 14). Nach dem aufgeregten Apokalyptiker Christoph Türke, der in der SZ am 5. März 2012 (S. 12) zu Wort kam, endlich eine nüchterne, informierte  Bestandsaufnahme der elektronischen kulturellen Evolution, an der wir mehr oder weniger gekonnt, mehr oder weniger befangen und ängstlich teilnehmen. Gerhard Lauers Bilanz, schnell zusammen gefasst: Eine gewisse Virtuosität, mit der die digitalen und analogen Medien benutzt und genutzt werden, ist zu beobachten. "Mehr Bücher gehen durch die Köpfe in diesen digitalen Zeiten", schreibt er, "und das nicht nur in historischer Hinsicht". Etwas später in seinem Text: "Die Digitalisierung treibt den Literaturbetrieb an, ja vielleicht vor sich her. Neben die etablierte Rezension treten die Tausenden Laienrezensionen, die mal nur Sternchen vergeben, mal nur ihre Meinung sagen, mal sich durchaus kenntnisreich mit ihrem Buch auseinandersetzen, und das ganz gleich, ob es ein Kochbuch ist, Meyers Romanzen oder Kafkas 'Urteil'".

Das enorme Bedürfnis nach Kontakt und Austausch, nach Beziehungsvielfalt und Beziehungsanregung, nach buchstäblicher Selbst-Erweiterung und Selbst-Erfahrung, das wahrscheinlich schon immer enorm war, findet jetzt seine Foren. Das demokratische Versprechen der Teilhabe wird realisiert. Der Untergang steht uns nicht bevor. Man muss den jungen oder den beweglichen (etwas älteren) Leuten etwas zutrauen, dass sie ihre Chancen gut nützen. Und selber, wenn man zur mittleren oder älteren Generation gehört, muss man sich anstrengen - mehr oder weniger - ,  Anschluss zu halten. Der Apokalyptiker dagegen klagt; er kommt nicht mehr mit; er wird ein- und überholt; der eigene Lebensbogen neigt sich; die Zukunft schmilzt - und die jungen Leuten preschen davon. So war es immer schon. Die eine Generation kommt, die andere geht. Das kulturelle apokalyptische Getöse, dieses gut bezahlte Geschäft mit der Angst vor dem Status-Verlust und dem Ressentiment gegenüber dem, was man nicht richtig versteht und nicht beherrscht, geht mir ziemlich auf den Wecker.  Chapeau bas! für Gerhard Lauer.

Ein Missverhältnis

Am 14. 3.2012 machte die SZ mit den beiden Schlagzeilen auf: "Jeder vierte Beschäftigte erhält nur Niedriglohn. Acht Millionen Menschen verdienen neun Euro brutto je Stunde oder weniger". Tendenz steigend, wurde vermeldet. Das ist der Befund einer Studie des Instituts für Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen.
Die acht Millionen Beschäftigten gehören zu den so genannten Niedrigverdienern. "Von ihnen", berichtete die SZ, "erhielten mehr als 4.1 Millionen weniger als sieben Euro, gut 2.5 Millionen weniger als sechs Euro und knapp 1.4 Millionen sogar nicht einmal fünf Euro die Stunde. Knapp jeder Zweite der niedrig bezahlten Menschen arbeitet dabei voll und nicht Teilzeit".
Was würde es kosten, wenn die vier Millionen Beschäftigten, die eine volle Woche arbeiten (sagen wir: 40 Wochenstunden), 20 Euro pro Stunde verdienen und ausbezahlt bekommen? Ich habe es grob überschlagen: 60 Milliarden Euro pro Jahr. Verglichen mit der Billion Euro, die die Europäische Zentralbank den Kreditinstituten in kurzer Zeit geliehen hat, ist diese riesige Summe nicht so riesig. Zwei Fragen: Wieso benötigen die europäischen Banken so viel Geld? Was würde passieren, wenn die vielen Millionen schlecht bezahlter Beschäftigter  Stundenlöhne erhalten, mit denen sich leben lässt?    

Dienstag, 14. Februar 2012

Die Kanonen von Navarone sind wieder intakt

Heute, am 15.2.2012, in der SZ auf Seite zwei: Peter Bofingers Außenansicht. Die Titel sagen genug: Tödliche Therapie. Die EU zwingt Griechenland blind zum Sparen - und könnte so das Land in den Abgrund stürzen. Liest man seinen Text findet man Erstaunliches:
"Griechenland hat aber nicht versagt. Wer sich die Mühe macht, die umfangreichen 'Reviews' des Internationalen Währungsfonds (IWF) zu lesen, erkennt, dass das Land einen Großteil der vorgegebenen Maßnahmen verwirklich hat". Die Staatsausgaben - ohne Zinsen - seien von 2009 bis 2011 um 17 Prozent gesunken (ein Beispiel). Fazit: "Im Februar 2011 beurteilte der IWF die bis dahin erbrachten Leistungen als auch im internationalen Maßstab eindrucksvoll". Fazit II: "Wenn nicht mehr dabei herausgekommen ist, liegt das an der Therapie. Sie hat die Gefahren für den Kreislauf des Patienten völlig unterschätzt".

Auf Seite 17 (Wirtschaftsteil) der SZ: Franz Fehrenbachs Verdikt "Griechenland hat in der EU nichts zu suchen". Der Chef von Bosch "fordert den Ausschluss des Schuldenstaats". Wie das?  Bosch gilt als klug geführter, menschlicher Konzern. Der Chef äußerst sich herrisch. Haben wir jetzt in der EU das einzige Sagen? Wie passt das zu Peter Bofinger? Gar nicht. Alte, vertraute Töne breiten sich aus. Was hatten wir 1945 in Europa zu suchen? Wieso wurde uns eigentlich auf die Beine geholfen?

Es ist zu vermuten, das die Erinnerung an die Geschichte der Bundesrepublik keine Rolle spielt - offenbar wohl die Erinnerung an die Niederlage und die Kränkung durch die deutsche Katastrophe. Jetzt  wäre die Möglichkeit, etwas zurückzugeben und zu sagen: Wir erinnern uns an 1945. Wir sind dankbar und möchten etwas zurückgeben. Wir werden alles tun, um Griechenland und andere Länder Europas zu unterstützen und zu helfen. Nein,  eine Reihe von Bundesdeutschen vergessen, wer sie sind und wer sie waren. Sie trampeln auf dem Stolz einer alten Nation herum, deren Mitgliedern sie vorzuschreiben versuchen, wie sie leben sollen. Die Bundesdeutschen, die sich jetzt so äußern wie Franz Fehrenbach, sind die pingeligen Krämer, die übersehen, dass sie vom Wohlwollen derer abhängen, die großzügig waren.      

Dienstag, 31. Januar 2012

Ob unsere Politikerinnen und Politiker ausreichend an unsere Geschichte denken?

Gute Tageszeitungen sind ein Segen. Heute, am letzten Tag des Januar 2012, macht die SZ ihre erste und zweite Seite mit Schlagzeilen auf, die einen Subtext ergeben:

Auf der ersten Seite:    "EU-Partner kritisieren Vorschlag der Bundesregierung.
                                     Merkel lenkt ein - kein Sparkommissar für Athen.
                                     Kanzlerin: Dies ist eine Diskussion, die wir nicht führen sollten/Gipfel einigt sich
                                     auf 500-Milliarden-Rettungsschirm".

Auf der zweiten Seite: "Die Frau, die in die Kälte kam.
                                     Kurz nach ihrer Ankunft in Brüssel macht Angela Merkel klar, auf welche
                                     deutsche Forderungen sie verzichten könne"
                                    "Deutschland, der Feind. Die Debatte um einen Kontrolleur aus Brüssel heizt die
                                     Stimmung in Griechenland weiter an - sogar die zerstrittene Regierung ist sich
                                     ihrer Abneigung ausnahmsweise einig".

Schließlich, Joschka Fischers Außenansicht: "Gefährlich selbstzufrieden. Die Umfragen sind gut für Angela Merkel. Doch das könnte die Regierung verführen, unangenehme Wahrheiten zu verschweigen".

Der Subtext lautet: Deutschland dominiert erneut. Die Bundesrepublik Deutschland ist nicht mehr zu erkennen. Der nationalsozialistische Imperialismus kehrt zurück. Wenn dieser offenbar in der EU - vor allem in Griechenland - kursierende, befürchtete Kontext sich durchsetzt, wäre es schrecklich. Der bundesdeutsche Wunsch und die bundesdeutsche Politik der Integration in einen Staaten-Verbund wären zerrieben. Die Bundesrepublik hat von dem Ungleichgewicht der europäischen Staaten enorm profitiert und profitiert von der jetzigen Krise. Anders gesagt: die EU hat unseren Reichtum ermöglicht - und viel wichtiger: die Aufnahme in den europäischen Staaten-Verbund hat unser Selbstgefühl befriedet. Wäre jetzt nicht Zeit für eine bundesdeutsche Politik, die der Großzügigkeit der europäischen Staaten (die natürlich auch ihre Interessen hatten) zurückzugeben versucht, was sie zurückgeben kann? Für eine Wirtschaftspolitik, die die EU als eine wirtschaftliche Gemeinschaft versteht, in der die einzelnen Staaten in einen Topf wirtschaften und Gewinne und Verluste gemeinsam tragen? Ich hoffe, unsere Politikerinnen und Politiker erinnern sich an die Entstehung der Bundesrepublik Deutschland, die kein Deutschland mehr sein wollte.

Dienstag, 24. Januar 2012

Augen-Reiben

Gestern veröffentlichte die SZ Navid Kermanis Rede, die er im Hamburger Thalia-Theater gehalten hatte, unter dem Titel Vergesst Deutschland. Über Philotas, den wortlosen Terror und die Mitte der Gesellschaft.
Drei Passagen fielen mir auf.
1. "Und selbst wenn Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, wonach es nicht aussieht, am Mittag des 4. Novembers in Panik geraten und sich aus Verzweiflung, Furcht vor dem Gefängnis oder gar Scham spontan umgebracht hätten, so haben sie dennoch subjektiv ein Opfer gebracht, indem sie sich mit letzter Konsequenz für den bewaffneten politischen Kampf entschieden, damit für ein Leben in der Illegalität, für den Bruch mit der eigenen Familie und die Ächtung durch die Gesellschaft, für den Verzicht auf eine bürgerliche Laufbahn und die Unsicherheit einer Existenz im Untergrund, für die permanente Gefahr der Festnahme, der Verletzung oder des Todes".
Woher weiß David Kermani das? Hatte er mit ihnen gesprochen?
Was ist ein bewaffneter politischer Kampf in der Bundesrepublik?
2. Uwe Mundlos entstammt einer gebildeten Familie, schreibt er: "Der Vater von Mundlos auch nach dem Ende der DDR offenbar noch mit Sympathien für den Sozialismus".
Was ist daran so ungewöhnlich? Nichts Neues in Waldhagen, möchte ich mit dem Titel der WDR-Schulfunk-Sendung aus den 50er Jahren antworten. Den nationalsozialistischen Betrieb hielt vor allem die damalige junge akademische Elite am Laufen. S. zum Beispiel Mark Roseman: Die Wannsee-Konferenz. Wie die NS-Bürokratie den Holocaust organisierte. Berlin: Propyläen Verlag 2002. Der Originaltitel der Arbeit von Mark Roseman: The Villa, The Lake, The Meeting.
3. "Dass der größte unter allen Bucherfolgen der letzten Jahre ausgerechnet einer Schrift zukam, die die Überlegenheit des Eigenen und die Bedrohung durch das Fremde nicht mehr nur kulturell erklärt wie im Rechtspopulismus, sondern genetisch festschreibt, ist dabei mehr als nur ein Zufall. Es ist ein Menetekel".
Bangemachen gilt nicht. Das Vergnügen am Ressentiment ist  uralt. Das Ressentiment, da sage ich nichts Neues, ist das Produkt eines projizierten Hasses. Der Hass ist das Problem; er muss verstanden werden. Das unmögliche bundesdeutsche Projekt der Vergangenheitsbewältigung enthielt und enthält den Wunsch, sich des Hasses zu entledigen - mit ihm nichts zu tun haben zu wollen. In den 50er Jahren war der antisemitische Hass - verständlicherweise; die bundesdeutsche Öffentlichkeit fürchtete um ihr Ansehen - tabuisiert. Es half nicht: Jahr für Jahr beschäftigen antisemitische Handlungen die öffentliche Diskussion. Schon das Adjektiv nationalsozialistisch auszusprechen, erforderte Überwindung. In der Öffentlichkeit werden heute noch immer die Abkürzungen bevorzugt -  also, sagen wir, statt nationalsozialistisch - NS. Der mörderische nationalsozialistische Hass ist ein schreckliches Erbe; es ist kaum auszuhalten. Entsorgen können wir ihn nicht; aber ins Gespräch bringen. Er ist mir nicht fremd. Er wartet auf seine Projektions-Objekte. Er findet ständig welche - HARTZ IV-Bedürftige, die Griechen, die Bankiers... die Liste wird schnell lang. Sich die Augen zu reiben ist nicht schlecht. Anschließend muss man aber gut hingucken.

Mittwoch, 18. Januar 2012

Begriffs-Schmuggelei

"Wir lesen die Träume von Ratten", verkündet Matthew Wilson, Kognitionsforscher am Massachusetts Institute of Technologie, dem Interviewer Hanno Charisius, dessen Gespräch die SZ heute mit dem selben Satz titelt (S. 16). Matthew Wilson liest die Träume der Ratten nicht, räumt er ein, sondern er vergleicht die Aktivitätsmuster der Gehirne der Ratten. Das Aktivitätsmuster der Verfassung, die er als Träumen bezeichnet, ähnelt dem Aktivitätsmuster, das die Ratte erkennen lässt, wenn sie ihren Weg durch das Labor-Labyrinth sucht. Vergleichen ist etwas anderes als Lesen. Vergleiche ich zwei Bücher hinsichtlich ihres Gewichts, habe ich sie noch nicht gelesen. Wie viele Muster neuronaler Aktivität hat Matthew Wilson bislang gefunden? Hat er die Muster neuronaler Aktivität verglichen mit Mustern neuronaler Aktivität außerhalb des Labors? Möglicherweise gibt es Labor-spezifische Muster neuronaler Aktivitäten. Und schließlich: Wie kann man von einem Muster neuronaler Aktivität sagen, es entspreche einer Traum-Verfassung und die Ratte träume? Erwin Straus nannte das Produkt dieser Argumentationstechnik: die Schmuggelware der Erlebnispsychologie. Ein Vorverständnis vom Traum dient zum Verständnis eines Musters neuronaler Aktivität. Wobei man nicht sagen kann, wir könnten uns leicht über eine Traum-Verfassung verständigen. Deren Innenseite ist äußerst schwer zu beschreiben. Was macht man, wenn man die Innenseite nicht erfassen kann? Der Kognitionsforscher, der mit dem Erkennen schludrig umgeht, behilft sich mit einer verbalen Nebelkerze. So kommt Pseudo-Forschung in die Zeitung.

Samstag, 14. Januar 2012

Formen sprachloser Verweigerung

Unter dem Titel Abgehängt, ausgeklinkt und aggressiv berichtet Helmut Frangenberg vom Kölner Stadt-Anzeiger heute (S. 29) über die Befragungsstudie der Meschenicher Einrichtung der Jugendzentren Köln gGmbH. Zwanzig Schulschwänzer, wie wir sagen, wurden befragt; ein Schulmüdigkeitsporträt erstellt. Die Studie ist ein Glücksfall; denn die Jugendlichen, die befragt wurden, sind sonst unerreichbar. Ein Jugendlicher sagte, so Helmut Frangenberg, in der Befragung: "Mich hat gar nicht interessiert, was die Lehrer gesagt haben.Nur wenn die was falsch gesagt haben, bin ich zu denen und habe gesagt: Was labern Sie?"

Wieso handelt dieser (und andere) Jugendliche gegen sein Lebensinteresse, sich in der Schule auszurüsten für sein erwachsenes Leben? Helmut Frangenberg zählt die Erklärungen auf: "Über- und Unterforderung, falsche Rollenzuweisungen in den Familien, schwere seelische Erkrankungen, echte Notlagen". In der Aufzählung kommt die Schule nicht vor. Schulschwänzen ist ein sprachloses Sprechen und ist Ausdruck einer sprachlosen Verweigerung. Etwas an der Schule ist unerträglich, sagt es. Was könnte es sein? Die Schule ist ein Ort schiefer, asymmetrischer Beziehungen. Asymmetrische Beziehungen zu ertragen gehört zu unserem Alltag - in der Familie, auf der Arbeitsstelle, im Gesundheitssystem, in den Beziehungen zu Repräsentanten von Institutionen beispielsweise. Asymmetrische Beziehungen stellen - unausgesprochen - sofort die Frage nach der eigenen Position, dem Status und dem Stolz. Asymmetrische Beziehungen kränken. Kränken sie zu sehr - aus welchen Gründen auch immer - , machen sie wütend, gereizt und leiten den Rückzug von der Anstrengung ein, die eigenen Lebensinteressen zu behaupten. Die Folge ist eine Form sprachloser Verweigerung und aggressiv-depressiver Unzugänglichkeit. Schulschwänzen ist eine alarmierende Form eines wütenden, hilflosen Protests junger Leute, die sich vor ihrer Zukunft fürchten. Die Hilflosigkeit sollten wir in den Blick nehmen und uns von der Wut nicht abschrecken lassen. Das ist nicht einfach. Das Jugendzentrum Meschenich hatte die Pädagogen der umliegenden Schulen mehrmals eingeladen. Sie nahmen die Einladung nicht an.

Freitag, 13. Januar 2012

Eine Hypothese zu den kognitiven und affektiven Folgen der Sozialisation

Würdest Du den Abfall rausbringen?, sagte neulich meine Frau zu mir. Ein tadelloser Satz - der Konjunktiv als Höflichkeitsform. Das ging mir nach. Wir kommen, dachte ich, mit der Sprache unserer Eltern in die Schule. Was ist mit den Kindern, die ein holpriges Deutsch im Ohr haben? Mir fiel unsere Tochter ein, die, verglichen mit mir, leicht Latein lernte - während ich enorme Mühen hatte. Ich erinnerte mich, dass mir die Verbindungen der Satzteile lange Zeit rätselhaft vorkamen und dass mir Deklination und Konjugation äußerst schwer fielen. Ich erinnerte mich, dass ich erst nach der Schulzeit, während des Studiums, in die DUDEN Grammatik schaute und allmählich begriff.

Schwerfälligkeit im Lernen, vermute ich heute, ist auch ein Sozialisationsprodukt. Der Brite Basil Bernstein entdeckte die Schicht-abhängige Differenz der Sprach-Kompetenz, die er mit den Begriffen des elaborierten und restringierten Codes beschrieb. Wenn ich mich richtig erinnere, berücksichtigte er nicht die affektiven Folgen: die Scham, die Angst und die Unsicherheit, die mit einem restringierten Code oder einem fragilen Sprach-Verständnis verbunden sind. Diese Affekte behindern buchstäblich und machen in dem sozialen Gefüge und in den damit verbundenen Beziehungen einer Klasse - dumm.

Am Ende des vergangenen Jahres berichtete Tanjev Schultz in der SZ (19.12.2011, S. 38) von diesem Problem unter der Überschrift "Ungerechte Noten. Studie zeigt, dass Arbeiterkinder in der Schule weiterhin benachteiligt werden".  Der Befund muss ergänzt werden, denke ich: Arbeiterkinder sind in der Schule in ihrer Leistungsfähigkeit möglicherweise, vorsichtig gesagt, hier und da  behindert. Sie schneiden in standardisierten Leistungstests besser ab, weil diese psychologischen Verfahren andere, eher vergleichbare und balancierte Voraussetzungen und Situationen herstellen als das sehr komplexe Gefüge einer Klasse mit seiner impliziten psychosozialen Hierarchie und seinen sublimen Vergleichsprozessen. "Herkunft wird mitzensiert", bilanziert Tanjev Schultz das Fazit der Studie. Ja, Herkunft wird mitzensiert, weil sie die Leistungsfähigkeit in der Klasse dominiert als der im stabilen oder fragilen Selbstgefühl der Schülerinnen und Schüler strukturelle Niederschlag der unterschiedlichen Sozialisationsbedingungen. Was folgt daraus? Sehr kleine Klasse wären ideal - dann könnten die Pädagogen, wenn sie dafür einen Blick entwickeln, auf die Auswirkungen der Sozialisationsbedingungen auf das Selbstgefühl ihrer Schülerinnen und Schüler und damit auf deren unterschiedliche Verständnis- und Leistungsfähigkeit achten.

Donnerstag, 12. Januar 2012

Die Ohnmacht und die Gruppe

Heute brachte die SZ auf ihrer ersten Feuilleton-Seite (S. 11) den bemerkenswerten Text von Ingo Schulze mit dem Titel: Sich selbst wieder ernst nehmen. Der Titel ist psychotherapeutischer Jargon aus dem Repertoire der Formeln des unscharfen Aufmunterns und deutet das Problem des Textes an. Ingo Schulze beginnt ihn mit diesen Sätzen:
"Seit etwa drei Jahren habe ich keinen Artikel mehr geschrieben, denn ich weiß nicht mehr, was ich noch schreiben soll. Es ist alles so offensichtlich: die Abschaffung der Demokratie, die zunehmende soziale und ökonomische Polarisation in Arm und Reich, der Ruin des Sozialstaates, die Privatisierung und damit Ökonomisierung aller Lebensbereiche (der Bildung, des Gesundheitswesens, des öffentlichen Verkehrssystems usw.), die Blindheit für den Rechtsextremismus, das Geschwafel der Medien, die pausenlos reden, um über die eigentlichen Probleme nicht sprechen zu müssen, die offene und verdeckte Zensur (mal als direkte Ablehnung, mal in Form von 'Quote' oder 'Format') und, und, und...."
Wenn alles so offensichtlich ist, weshalb dann dieses Gefühl einer Ohnmacht und Vergeblichkeit? Ich weiß nicht mehr, was ich noch schreiben soll. Was lähmt Ingo Schulze?

Das weiß ich nicht. Aber ich kann eine persönliche und eine abstrakte Antwort geben. Ich traue mich (noch) nicht, die Politik des Geschäfts einer Klinik zu beschreiben, weil deren Leitung vermuten wird, dass meine ehemaligen Kollegen - ich bin dort ausgeschieden - mich informiert hätten, und weil ich vermute, dass sie es auszubaden hätten. Also lasse ich es und warte auf meine Gelegenheit. Meine abstrakte Antwort. Ingo Schulzes Liste ist präzis und unpräzis zugleich. Das Problem ist, das seine Beschreibungen weit entfernt sind von unserer Lebenswirklichkeit. Es ist das alte Problem der abstrakten Begriffe. Solange wir allgemein bleiben, reden wir aneinander vorbei oder tun uns nicht weh. Erst die Beschreibung unserer Lebenswirklichkeiten mit ihren vielen widersprüchlichen kognitiven und affektiven Kontexten und Subtexten - bringt Leben in die bundesdeutsche Bude. Das wäre ein (wenn vielleicht auch altmodisches) literarisches Programm. Da gibt es jedenfalls noch enorm viel zu beschreiben.

Wie macht man das Sich-selbst-wieder-ernst-nehmen? Ingo Schulze gibt die Antwort: Den Mund aufmachen, sagt er. Das ist zu wenig. Wer Erfahrungen in Gruppen hat, weiß: Man muss seinen Mut zusammen nehmen und persönlich werden. Wie wird man persönlich? Indem man vor allem seine innere Welt beschreibt und sich um die Abstrakta möglichst wenig schert. Sigmund Freud gab das Programm und den Rahmen vor: Sagen Sie alles, was Ihnen einfällt - hier, in diesen 50 Minuten. Was man innerhalb der (psychoanalytisch orientierten) Psychotherapie sagen kann, kann man schlecht so einfach außerhalb der Psychotherapie sagen. Im Alltag muss man sich den Raum für den Rahmen erobern - also Beziehungen herstellen, in deren Kreis man sich traut, persönlich zu werden. Erst dann wird man lebendig und fühlt sich nicht mehr so gelähmt.  Leicht gesagt, schwer getan.    

Mittwoch, 11. Januar 2012

Ist Hass ein politisches Argument?

Auf der Seite Drei der SZ berichtet Gunnar Herrmann heute von der norwegischen öffentlichen Diskussion der Diagnosen des psychiatrischen Gutachtens zur Verfassung von Anders Breivik: "Verrückte Welt. Bei Anders Breivik waren sich die Gutachter schnell einig: Er ist unzurechnungsfähig.  Doch jetzt wird der Befund zerpflückt. In dieser Woche will das Gericht klären, ob der Massenmörder neu untersucht werden muss. Der Streit spaltet Norwegen". Es ist verständlich, aber unglücklich, dass die öffentliche Diskussion der Gerichtsverhandlung vorgreift - es ist Sache des Gerichts, die Plausibilität der von den psychiatrischen Sachverständigen gefundenen Diagnosen zu prüfen. Öffentlich diskutiert wird die Plausibilität der Diagnose einer paranoiden Schizophrenie und der Diagnose einer schweren Persönlichkeitsstörung. Den beiden Diagnosen liegen unterschiedliche theoretische Konzeptionen der Genese von psychischer Erkrankung zu Grunde. Insofern ist es nicht schlecht, wenn Diagnosen hinsichtlich ihrer expliziten und impliziten Hypothesen sowie ihrer empirischen Belege überprüft werden. Dass Anders Breivik unter einer schweren psychischen Erkrankung leidet, die wahrscheinlich in dem mörderischen Überfall kumulierte, ist offenbar der Konsensus der Sachverständigen.

Das ist aber nicht der Konsensus in Norwegens öffentlicher Diskussion. Was ist mit Anders Breiviks Welt-Bild, mit seinen Einstellungen und Überzeugungen? "Wenn Breiviks politische Vorstellungen geisteskrank sind, dann gibt es eine Menge schizophrener Menschen in Europa", zitert Gunnar Herrmann den Experten Daniel Poohl. Kann man Breiviks Einstellungen und Überzeugungen politisch nennen? Politisch kann man eine integrative Haltung nennen, die an dem Prosperieren einer Gemeinschaft interessiert ist, die sich an den von uns geteilten zentralen Werten orientiert. Eine Haltung, die diese Gemeinschaft zu zerstören beabsichtigt, ist kriminell. Breiviks Vorstellungen sind, wenn ich richtig sehe, von einem enormen Hass gespeist. Es ist unklar, wem sein Hass gilt. Aber der Hass, der Wunsch, das verfolgte Objekt zu vernichten, ist kein politisches Motiv und kein politisches Argument. Mord ist das Überschreiten, führte Pierre Legendre in seiner Arbeit über den Gefreiten Lortie aus, unserer zivilisatorischen Grenze. Mord ist der Angriff auf unsere gesetzliche Ordnung - psychoanalytisch könnte man wie Legendre sagen: Mord ist der Angriff auf den symbolischen Vater. Mord ist ein Vater-Mord. Das Adjektiv politisch adelt die Wucht des Hasses mit einem ehrenwerten Motiv, die Adjektive rechtsextremistisch wie auch linksextremistisch kalmieren die Wucht des Hasses. Der Hass muss, politisch gesehen, in ein Gespräch kommen; er muss verstanden werden. Wer hasst, hat seine Gründe zu hassen. Sie gehören in eine Gerichtshandlung und später in die öffentliche Diskussion.

Die Politik der Klischees

Gestern war auf der Seite 16 der SZ zu lesen: "Der Keim des Radikalen. Kinder mit geringerem IQ neigen später eher Rassismus zu". Jetzt wird die Welt wieder übersichtlich: Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen. Die Idee ist uralt; Platon hatte sie schon politisch gewendet; Thilo Sarrazin war der letzte Autor, der mit dem Intelligenzquotienten argumentierte. Sebastian Herrmann, Autor des Textes, zitiert britische, nordamerikanische und kanadische Studien, die die Vorurteilsbereitschaft mit IQ-Werten korrelierten. Korrelationsstudien beschreiben statistisch auffällige Regelmäßigkeiten zweier Variablen, aber liefern keinen Erklärungszusammenhang für deren Zusammentreffen. Inwieweit der korrelative Kontext relevant ist, hängt von der zuvor kontrollierten Gültigkeit der in die Variablen eingegangen Hypothesen ab. Wie die Forscher dabei vorgingen, erläutert Sebastian Herrmann nicht. Offensichtlich prüfte er die theoretischen und methodischen Voraussetzungen der Studien nicht. Er ist auch nicht informiert, wie die IQ-Werte verstanden werden müssen. Er schreibt: "Wer sich darin (in einer Studie, G.B.) als 'sehr konservativ' bezeichnete, erzielte im Schnitt einen IQ von 95, also fünf Punkte unter dem Durchschnitt. Wer sich hingegen als politisch 'sehr progressiv' bezeichnete, kam im Schnitt auf einen IQ von 106". Das aber ist ein Missverständnis; beide Werte liegen gemäß ihrer Verteilung im Bereich durchschnittlicher IQ-Werte. IQ- Werte sind Rangplätze; man kann sie nicht so verrechnen wie die Zentimeter eines Zollstocks.

Was hat Sebastian Herrmann zu diesem Text "Der Keim des Radikalen" bewogen? Und wieso lässt er die Studien ungeprüft durchgehen? Zwei Vermutungen, die zusammen gehören: 1. der IQ-Wert reduziert die Komplexität der Genese politischer Einstellungen und Haltungen; 2. deren Genese hängt von der Qualität der Sozialisationsbedingungen, die wiederum vor allem, aber nicht nur abhängen vom sozioökonomischen, psychosozialen Status der Mitglieder eines Familiensystems. Hass entsteht in dysfunktionalen familiären Systemen. Worin sie nicht funktionieren, muss man prüfen. Wir nähern uns mit dieser Frage der lästigen Frage unserer Geschichte: Worin bestand und wogegen richtete sich der nationalsozialistische Hass?

Hart, aber lustig

Vorgestern, am Montag, saßen in der Kölner Rede-Runde des WDR bei Frank Plasberg: Frau Andrea Nahles, Herr  Hermann Gröhe, Herr Hans Leyendecker, Herr Fritz Pleitgen und Herr Hajo Schumacher. Das Verhalten unseres Bundespräsidenten hinsichtlich seiner Kredite und seiner Telefonate stand zur Debatte und damit die Frage, ob er das Amt auszuüben imstande ist. Fritz Pleitgen räumte ihm, gemäß des Titels des Wolfgang Petersen-Films, die zweite Chance ein, Hans Leyendecker nicht. Es wurden die Ärmel aufgekrempelt. Es wurde gescherzt. Hans Leyendecker sprach seinen Unmut aus, dass er der BILD-Zeitung den Triumph der Selbstgerechtigkeit übel nehmen würde. Das fand ich gekonnt und freimütig. Er bestätigte gewissermaßen mein Jahrzehnte-laufendes Abonnement der SZ. Nur Fritz Pleitgen tat sich schwer. Er versuchte, den Ernst des Gesprächs zu verteidigen und nicht einzustimmen in den alt bekannten Unernst der Empörung mit dem Subtext: Was haben wir bloß für einen Bundespräsidenten? Bei Heinrich Lübke konnten wir mit dem Schenkelklopfen nicht aufhören; das war noch am besten. Henri Nannen saß Heinrich Lübke im ARD-Studio gegenüber und nahm das sprichwörtliche Blatt nicht vor den Mund.  Mit anderen Worten: Hart, aber fair war wieder eine Lektion in dem Fach bundesdeutsche Ambivalenz gegenüber den bundesdeutschen Instituten. Es ist der Subtext, den die Angehörigen der Jahrgänge 1940 - 1949 so gut kennen und der von Mal zu Mal weiter gereicht wird und den man so übersetzen kann: Sollen wir uns über die Repräsentanten des bundesdeutschen Staates ausschütten oder sie respektieren? Der Subtext ist unterhaltsam, bringt Quote und Auflage und wird ständig wiederholt. Irgendwann ist genug.

Kurze Nachlese zur Neujahrsansprache der Bundeskanzlerin

Was möchte ich von Angela Merkel zum Jahresende hören? Eine persönliche Ansprache, in der ich mich wiederfinde mit meiner Lebenswirklichkeit des Ringens um Sorgen und Hoffnungen. Es war eine unpersönliche Ansprache, ein Schulterklopfen aus weiter Ferne: Ja, es ist schwierig, aber uns geht es gut und wir werden es gut machen, lautete die TV-Beruhigung. Sie blieb seltsam vage. Die Europäer müssten mehr zusammenarbeiten, sagte sie. Mehr zusammenarbeiten? Es geht darum, dass die Zusammenarbeit institutionalisiert wird. Zusammenarbeit klingt nach freiwilliger, willkürlicher, gewissermaßen Struktur-loser Beteiligung. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Die bundesdeutsche Regierung gibt den Takt vor. Warum sagte sie nicht, was sie beabsichtigt?  Schließlich dankte sie allen, die zum Erfolg der Bundesrepublik beigetragen hätten. Wer war damit gemeint? Offenbar nur die, deren Arbeit etwas zum Bruttoinlandsprodukt beigetragen hatte. Die anderen waren nicht angesprochen, sondern ausgeschlossen. Das waren die Jungen und die Alten und die, die abhängig waren von der Unterstützung staatlicher Institute, und die, deren Arbeit nicht vergütet wurde.

Ich dachte: selbst für die Jahresansprache nimmt sich unsere Regierung wenig Zeit zur Ausarbeitung. Wer war der Autor oder die Autorin dieser Rede? Ist unsere Regierung überlastet oder desinteressiert? Möglicherweise beides. Die Rede verspricht ein unerfreuliches Jahr.     

Wer hört meine Verzweiflung?

In der Hückelhovener Filiale der Telekom zwischen Weihnachten und Neujahr. Ein Herr, verwittertes Gesicht, Ende 50 oder Anfang 60, wütet sich in eine anklagende Rage: Mit ihm, dem Arbeitslosen, könnte man es ja machen, bei denen, die der Staat mit Milliarden unterstützt, würde man es nie machen - sagte er sinngemäß. Offenbar hatte man ihm den Anschluss, den er möglicherweise nicht bezahlt hatte, gekappt. Er sagte es nicht in seiner Empörung. Er wütete seine Verzweiflung heraus. Er hatte Recht. Mit seinem ökonomischen Status muss er mit robusten, nicht angekündigten staatlichen oder nicht-staatlichen Interventionen rechnen. Sein ökonomischer Status befriedet nicht, sondern beschämt und macht gereizt, so dass das Aushandeln von Spielräumen unmöglich wird. Er hatte Recht, dass er eine unglaubliche Diskrepanz sah - zwischen seinem unbezahlten Betrag und den Milliardenbeträgen, die die EU aufzubringen versucht, zwischen seiner Armut und der unglaublichen Verschwendung, der langsam Grenzen gezogen werden. Die Würde des Menschen ist unantastbar, sagt unser Grundgesetz. Aber es gibt bei uns Lebensbedingungen, die in diesen Grundsatz mächtig eingreifen.

Der junge Mann hinter der Telekom-Theke schwieg und hörte zu. Ein paar Mal machte er eine Bemerkung, dass er nicht zuständig sei. Meine Frau und ich schwiegen und hörten zu. Ein Unrecht war zu konstatieren. Wir blieben stumm. Der Mann wütete und wütete; er wollte nicht aufhören. Nach mehreren Minuten fügte er sich und ging. Wie kann man das Unrecht beheben?