Mittwoch, 25. April 2012

Ein unmöglicher Plan des Gesetzgebers

Heute, am 25.4.2012, machte die SZ mit dieser Schlagzeile auf: "Arme gehen beim Betreuungsgeld leer aus". Die Ober- und Unterzeilen lauteten: "Familienministerium bereitet Gesetzentwurf vor. Koalition will den geplanten Zuschuss von 150 Euro in voller Höhe von der Hartz-IV-Leistung abziehen". Der Kommentar der Zeitung zu diesem Plan einer seltsamen Gesetzgebung sagt einen Sturm der Empörung voraus. Die Empörung wäre zu wenig. Zum xten Mal (ich habe es nicht nachgehalten) kommuniziert unsere Regierungskoalition oder eines ihrer Subsysteme das Desinteresse an unseren Lebensproblemen - dieses Mal an den Leuten, die mit dem, was ihnen der Gesetzgeber als Existenzminimum vorrechnet, leben müssen. Geplant ist, das in der Regierungskoalition als Verhandlungspfand umstrittene Betreuungsgeld von der gesetzlichen Zuwendung abzuziehen, die Hartz IV heißt und  die chronische Kränkung etabliert. Jetzt dreht das Verfahren des Auszahlens und Einkassierens (des Betreuungsgeldes)  die Schraube der staatlichen Kränkung weiter und verursacht neue Kosten, aber vielleicht neue Arbeitsplätze. Das Verfahren verstößt (in meinem Rechtsverständnis) gegen den Gleichheitsgrundsatz, weil denen, die ihr Leben finanzieren können, der Betrag zugestanden wird, aber denen, die es nicht können, nicht.  Das Verfahren unterstellt ein ausschließliches Interesse am Geldbetrag, aber ein Desinteresse an der Entwicklung des Kindes; damit würde das Ressentiment, das eine egozentrische Lebensrealität der ökonomisch bedürftigen Eltern oder Elternteile und deren ungenügende psychosoziale Kompetenz behauptet, gewissermaßen per Gesetz festgeschrieben und zur Praxis erhoben.

Montag, 23. April 2012

Der seltsame Impuls des Unverständnisses

Am vergangenen Samstag, den 21.4.2012, zog Hans Holzhaider auf der stets lesenswerten Seite Drei der SZ nach der ersten Woche der Osloer Verhandlung der Straftaten von Anders Breivik Bilanz - Titel und Untertitel resümieren: "Alles gesagt. Eine Woche in Oslo: Was einen Menschen zu solch einem Verbrechen treibt, kann auch der Prozess gegen Anders Breivik nicht klären. Aber die ganze Erbärmlichkeit eines Massenmörders, die steht vor Gericht".

Der Autor Hans Holzhaider ist ungeduldig. Das Verfahren ist noch nicht beendet, die Gutachter haben ihre Gutachten nicht vorgetragen, aber der Autor erklärt: "Was einen Menschen zu solch einem Verbrechen treibt, kann auch der Prozess nicht klären". Wieso nicht? Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen. Eine Mindestanforderung an unsere forensischen Gutachter besteht darin, eine tragfähige Hypothese für eine lebensgeschichtliche Verortung der Straftaten vorzulegen - also klar zu legen, wie die Straftaten das Produkt der Kumulation spezifischer Erfahrungen der Lebensgeschichte sind. Die norwegischen Gutachter müssen darlegen, jenseits der politisch-philosophisch angestrengten Rationalisierungen, an wen Anders Breiviks offenbar unersättlicher Hass lebensgeschichtlich adressiert war oder ist. Damit würde deutlich, was Anders Breivik bewegte und bewegt.

Zur Erbärmlichkeit. Das Wort ist die Vokabel der Verachtung. Es enthält aber das Wort Erbarmen. Daran muss man erinnern. Es gibt auch die enorme Not Anders Breiviks - für die zumindest das Gericht  ein Verständnis aufbringen muss, will es nicht den Täter mit seinen Taten gleichsetzen und ihn damit  entmenschlichen und die gesetzliche Ordnung so weit korrumpieren, dass das Konzept der Würde des Menschen, auch wenn es schwer fällt, sie zu respektieren, dem merkwürdigen Impuls geopfert wird, das Verstehen zu verweigern.

Montag, 16. April 2012

Forsches Waten in flachen Gewässern

Am 13.3.2012 brachte die SZ auf ihrer ersten Seite diese Nachricht: "Inzest bleibt verboten. Europäische Richter bestätigen deutsche Regeln". Der erste Satz dieser Nachricht lautete: "Inzest darf in Deutschland weiter bestraft werden, ein Verbot der Geschwisterliebe verletzt nicht die Europäische Menschenrechtskonvention". In diesem Satz klingt das Verbum dürfen nach. Es transportiert einen ironischen Ton, eine Missbilligung und ein Missverständnis. Gerichte handeln nicht willkürlich, sondern müssen bestrafen, wenn eine relevante Norm verletzt wurde; wie sie den Strafrahmen auslegen, unterliegt ihrer Prüfung. Die Formel von den deutschen Regeln degradiert das Verbot des Inzests zur nationalen Marotte auf das Niveau der Vorfahrtsregel. André Green, der große, kürzlich verstorbene Mann der französischen Psychoanalyse, nannte einmal die Faustregel, dass in schweren psychotischen Störungen zumeist ein gravierendes inzestuöses Problem der Kern dieser Erkrankungen wäre. Das ist die klinisch-psychiatrische Seite. Pierre Legendre, Jurist, Historiker und Psychoanalytiker, sieht in den Verboten des Inzests und des Mords die für die Kultivierung des Menschen notwendigen institutionalisierten Grenzen; er schreibt in seiner Vorbemerkung zu Das Verbrechen des Gefreiten Lortie:
"Beim Studium der institutionellen Konstruktionen, unter deren Ägide die Menschheit sich reproduziert, begegnet man unausweichlich der Frage des Abgrunds. Ich verstehe darunter die Tragödie, in die sich die Menschenwesen verstricken, wenn die untersagte Grenze überschritten wird, jene Grenze, die von den beiden in hohem Grad juridischen Begriffen des Inzests und des Mordes markiert wird".
Die Figur der (erwachsenen) sexuellen Selbstbestimmung muss im Kontext der "institutionellen Konstruktionen", wie Legendre sagt, gesehen und relativiert werden.