Dienstag, 28. August 2012

Die seltsame Idee vom Reset der Seele

"Stromschlag ins Gehirn", titelte die SZ gestern vom 27.8.2012 auf ihrer Seite 14 (Wissen), "die Elektrokrampftherapie kann schwerste Depressionen lindern. Doch Patienten mit Stromstößen zu behandeln, weckt Ängste und beschwört das Bild einer menschenverachtenden Psychiatrie. Deshalb wird die Methode nur selten eingesetzt". Vielleicht gibt es noch andere Gründe als den der Abneigung, dieses Verfahren nicht einzusetzen. Zuerst fällt auf, dass der Autor Thomas Wagner-Nagy nicht zwischen Methode und Verfahren unterschied. Eine Methode ist Theorie-geleitetes Handeln und folgt einem Erkenntnis-Interesse. Die Elektrokrampftherapie ist Theorie-loses Handeln. Sie folgt einigen schlichten Ideen. 1. Der lebensgeschichtliche Kontext eines oder einer an einer Depression Erkrankten hat sich in neurologischen Mustern etabliert. 2. Die Funktionsweise und Struktur dieser Muster sind, obgleich sie nur in Umrissen bekannt sind, beeinflussbar. 3. Weil die neuronale Erregungsleitung - ohne dass bekannt ist, was die Erregungen (an lebensgeschichtlichen Kontexten) vermitteln - auf elektro-chemischen Prozessen basiert, kann sie mit elektrischen Impulsen beeinflusst werden. 4. Der Eingriff erfolgt nach dem von elektronischen Systemen bekannten Prinzip des Reset.

Der Autor schrieb: "In der Tat ist über den eigentlichen Wirkmechanismus der EKT so gut wie nichts bekannt...Mittlerweile wissen Forscher, dass manche Hirnareale bei depressiven Patienten stärker vernetzt sind und miteinander kommunizieren als bei gesunden Menschen. Diese Hyperkonnektivität zu reduzieren, verspricht also Erfolg bei der Therapie von Depressionen". Hyperkonnektivität, ein hübsches Fremdwort, ist die Beschreibung einer Verdichtung, keine Erklärung; was sie für eine depressive Erkrankung bedeutet, ist unklar. Das Verfahren der Stromstöße ist ein massiver, unglaublich schmerzhafter Eingriff, der sorgfältig betäubt werden muss; er ähnelt einem epileptischen Anfall. Die empirische Basis für den Erfolg dieses Verfahrens ist schmal. Der Autor berichtete von einer Studie, an der neun Patienten teilnahmen, wie er schrieb, die sich "hinterher besser fühlten" - abhängig davon, wie stark der Eingriff "die Überaktivität senken konnte". Der Effekt hält offenbar nur Monate. "Spätestens nach sechs Monaten, so Thomas Wagner-Nagy, "müssen sich vier von fünf Patienten einer neuen Therapie unterziehen". Diese Erfolgsquote erreicht die Erfolgsquote mancher Sucht-Therapien.

Bleibt die Frage, was der Text vom Stromschlag gestern in der SZ sollte. Er gehört in den Kontext einer Wissenschaftspolitik, die die Komplexität psychischer Erkrankungen zu reduzieren versucht und zu helfen verspricht, ohne zu wissen, worin die Hilfe besteht. Er spricht die Sprache der Akquisition.