Dienstag, 31. Januar 2012

Ob unsere Politikerinnen und Politiker ausreichend an unsere Geschichte denken?

Gute Tageszeitungen sind ein Segen. Heute, am letzten Tag des Januar 2012, macht die SZ ihre erste und zweite Seite mit Schlagzeilen auf, die einen Subtext ergeben:

Auf der ersten Seite:    "EU-Partner kritisieren Vorschlag der Bundesregierung.
                                     Merkel lenkt ein - kein Sparkommissar für Athen.
                                     Kanzlerin: Dies ist eine Diskussion, die wir nicht führen sollten/Gipfel einigt sich
                                     auf 500-Milliarden-Rettungsschirm".

Auf der zweiten Seite: "Die Frau, die in die Kälte kam.
                                     Kurz nach ihrer Ankunft in Brüssel macht Angela Merkel klar, auf welche
                                     deutsche Forderungen sie verzichten könne"
                                    "Deutschland, der Feind. Die Debatte um einen Kontrolleur aus Brüssel heizt die
                                     Stimmung in Griechenland weiter an - sogar die zerstrittene Regierung ist sich
                                     ihrer Abneigung ausnahmsweise einig".

Schließlich, Joschka Fischers Außenansicht: "Gefährlich selbstzufrieden. Die Umfragen sind gut für Angela Merkel. Doch das könnte die Regierung verführen, unangenehme Wahrheiten zu verschweigen".

Der Subtext lautet: Deutschland dominiert erneut. Die Bundesrepublik Deutschland ist nicht mehr zu erkennen. Der nationalsozialistische Imperialismus kehrt zurück. Wenn dieser offenbar in der EU - vor allem in Griechenland - kursierende, befürchtete Kontext sich durchsetzt, wäre es schrecklich. Der bundesdeutsche Wunsch und die bundesdeutsche Politik der Integration in einen Staaten-Verbund wären zerrieben. Die Bundesrepublik hat von dem Ungleichgewicht der europäischen Staaten enorm profitiert und profitiert von der jetzigen Krise. Anders gesagt: die EU hat unseren Reichtum ermöglicht - und viel wichtiger: die Aufnahme in den europäischen Staaten-Verbund hat unser Selbstgefühl befriedet. Wäre jetzt nicht Zeit für eine bundesdeutsche Politik, die der Großzügigkeit der europäischen Staaten (die natürlich auch ihre Interessen hatten) zurückzugeben versucht, was sie zurückgeben kann? Für eine Wirtschaftspolitik, die die EU als eine wirtschaftliche Gemeinschaft versteht, in der die einzelnen Staaten in einen Topf wirtschaften und Gewinne und Verluste gemeinsam tragen? Ich hoffe, unsere Politikerinnen und Politiker erinnern sich an die Entstehung der Bundesrepublik Deutschland, die kein Deutschland mehr sein wollte.

Dienstag, 24. Januar 2012

Augen-Reiben

Gestern veröffentlichte die SZ Navid Kermanis Rede, die er im Hamburger Thalia-Theater gehalten hatte, unter dem Titel Vergesst Deutschland. Über Philotas, den wortlosen Terror und die Mitte der Gesellschaft.
Drei Passagen fielen mir auf.
1. "Und selbst wenn Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, wonach es nicht aussieht, am Mittag des 4. Novembers in Panik geraten und sich aus Verzweiflung, Furcht vor dem Gefängnis oder gar Scham spontan umgebracht hätten, so haben sie dennoch subjektiv ein Opfer gebracht, indem sie sich mit letzter Konsequenz für den bewaffneten politischen Kampf entschieden, damit für ein Leben in der Illegalität, für den Bruch mit der eigenen Familie und die Ächtung durch die Gesellschaft, für den Verzicht auf eine bürgerliche Laufbahn und die Unsicherheit einer Existenz im Untergrund, für die permanente Gefahr der Festnahme, der Verletzung oder des Todes".
Woher weiß David Kermani das? Hatte er mit ihnen gesprochen?
Was ist ein bewaffneter politischer Kampf in der Bundesrepublik?
2. Uwe Mundlos entstammt einer gebildeten Familie, schreibt er: "Der Vater von Mundlos auch nach dem Ende der DDR offenbar noch mit Sympathien für den Sozialismus".
Was ist daran so ungewöhnlich? Nichts Neues in Waldhagen, möchte ich mit dem Titel der WDR-Schulfunk-Sendung aus den 50er Jahren antworten. Den nationalsozialistischen Betrieb hielt vor allem die damalige junge akademische Elite am Laufen. S. zum Beispiel Mark Roseman: Die Wannsee-Konferenz. Wie die NS-Bürokratie den Holocaust organisierte. Berlin: Propyläen Verlag 2002. Der Originaltitel der Arbeit von Mark Roseman: The Villa, The Lake, The Meeting.
3. "Dass der größte unter allen Bucherfolgen der letzten Jahre ausgerechnet einer Schrift zukam, die die Überlegenheit des Eigenen und die Bedrohung durch das Fremde nicht mehr nur kulturell erklärt wie im Rechtspopulismus, sondern genetisch festschreibt, ist dabei mehr als nur ein Zufall. Es ist ein Menetekel".
Bangemachen gilt nicht. Das Vergnügen am Ressentiment ist  uralt. Das Ressentiment, da sage ich nichts Neues, ist das Produkt eines projizierten Hasses. Der Hass ist das Problem; er muss verstanden werden. Das unmögliche bundesdeutsche Projekt der Vergangenheitsbewältigung enthielt und enthält den Wunsch, sich des Hasses zu entledigen - mit ihm nichts zu tun haben zu wollen. In den 50er Jahren war der antisemitische Hass - verständlicherweise; die bundesdeutsche Öffentlichkeit fürchtete um ihr Ansehen - tabuisiert. Es half nicht: Jahr für Jahr beschäftigen antisemitische Handlungen die öffentliche Diskussion. Schon das Adjektiv nationalsozialistisch auszusprechen, erforderte Überwindung. In der Öffentlichkeit werden heute noch immer die Abkürzungen bevorzugt -  also, sagen wir, statt nationalsozialistisch - NS. Der mörderische nationalsozialistische Hass ist ein schreckliches Erbe; es ist kaum auszuhalten. Entsorgen können wir ihn nicht; aber ins Gespräch bringen. Er ist mir nicht fremd. Er wartet auf seine Projektions-Objekte. Er findet ständig welche - HARTZ IV-Bedürftige, die Griechen, die Bankiers... die Liste wird schnell lang. Sich die Augen zu reiben ist nicht schlecht. Anschließend muss man aber gut hingucken.

Mittwoch, 18. Januar 2012

Begriffs-Schmuggelei

"Wir lesen die Träume von Ratten", verkündet Matthew Wilson, Kognitionsforscher am Massachusetts Institute of Technologie, dem Interviewer Hanno Charisius, dessen Gespräch die SZ heute mit dem selben Satz titelt (S. 16). Matthew Wilson liest die Träume der Ratten nicht, räumt er ein, sondern er vergleicht die Aktivitätsmuster der Gehirne der Ratten. Das Aktivitätsmuster der Verfassung, die er als Träumen bezeichnet, ähnelt dem Aktivitätsmuster, das die Ratte erkennen lässt, wenn sie ihren Weg durch das Labor-Labyrinth sucht. Vergleichen ist etwas anderes als Lesen. Vergleiche ich zwei Bücher hinsichtlich ihres Gewichts, habe ich sie noch nicht gelesen. Wie viele Muster neuronaler Aktivität hat Matthew Wilson bislang gefunden? Hat er die Muster neuronaler Aktivität verglichen mit Mustern neuronaler Aktivität außerhalb des Labors? Möglicherweise gibt es Labor-spezifische Muster neuronaler Aktivitäten. Und schließlich: Wie kann man von einem Muster neuronaler Aktivität sagen, es entspreche einer Traum-Verfassung und die Ratte träume? Erwin Straus nannte das Produkt dieser Argumentationstechnik: die Schmuggelware der Erlebnispsychologie. Ein Vorverständnis vom Traum dient zum Verständnis eines Musters neuronaler Aktivität. Wobei man nicht sagen kann, wir könnten uns leicht über eine Traum-Verfassung verständigen. Deren Innenseite ist äußerst schwer zu beschreiben. Was macht man, wenn man die Innenseite nicht erfassen kann? Der Kognitionsforscher, der mit dem Erkennen schludrig umgeht, behilft sich mit einer verbalen Nebelkerze. So kommt Pseudo-Forschung in die Zeitung.

Samstag, 14. Januar 2012

Formen sprachloser Verweigerung

Unter dem Titel Abgehängt, ausgeklinkt und aggressiv berichtet Helmut Frangenberg vom Kölner Stadt-Anzeiger heute (S. 29) über die Befragungsstudie der Meschenicher Einrichtung der Jugendzentren Köln gGmbH. Zwanzig Schulschwänzer, wie wir sagen, wurden befragt; ein Schulmüdigkeitsporträt erstellt. Die Studie ist ein Glücksfall; denn die Jugendlichen, die befragt wurden, sind sonst unerreichbar. Ein Jugendlicher sagte, so Helmut Frangenberg, in der Befragung: "Mich hat gar nicht interessiert, was die Lehrer gesagt haben.Nur wenn die was falsch gesagt haben, bin ich zu denen und habe gesagt: Was labern Sie?"

Wieso handelt dieser (und andere) Jugendliche gegen sein Lebensinteresse, sich in der Schule auszurüsten für sein erwachsenes Leben? Helmut Frangenberg zählt die Erklärungen auf: "Über- und Unterforderung, falsche Rollenzuweisungen in den Familien, schwere seelische Erkrankungen, echte Notlagen". In der Aufzählung kommt die Schule nicht vor. Schulschwänzen ist ein sprachloses Sprechen und ist Ausdruck einer sprachlosen Verweigerung. Etwas an der Schule ist unerträglich, sagt es. Was könnte es sein? Die Schule ist ein Ort schiefer, asymmetrischer Beziehungen. Asymmetrische Beziehungen zu ertragen gehört zu unserem Alltag - in der Familie, auf der Arbeitsstelle, im Gesundheitssystem, in den Beziehungen zu Repräsentanten von Institutionen beispielsweise. Asymmetrische Beziehungen stellen - unausgesprochen - sofort die Frage nach der eigenen Position, dem Status und dem Stolz. Asymmetrische Beziehungen kränken. Kränken sie zu sehr - aus welchen Gründen auch immer - , machen sie wütend, gereizt und leiten den Rückzug von der Anstrengung ein, die eigenen Lebensinteressen zu behaupten. Die Folge ist eine Form sprachloser Verweigerung und aggressiv-depressiver Unzugänglichkeit. Schulschwänzen ist eine alarmierende Form eines wütenden, hilflosen Protests junger Leute, die sich vor ihrer Zukunft fürchten. Die Hilflosigkeit sollten wir in den Blick nehmen und uns von der Wut nicht abschrecken lassen. Das ist nicht einfach. Das Jugendzentrum Meschenich hatte die Pädagogen der umliegenden Schulen mehrmals eingeladen. Sie nahmen die Einladung nicht an.

Freitag, 13. Januar 2012

Eine Hypothese zu den kognitiven und affektiven Folgen der Sozialisation

Würdest Du den Abfall rausbringen?, sagte neulich meine Frau zu mir. Ein tadelloser Satz - der Konjunktiv als Höflichkeitsform. Das ging mir nach. Wir kommen, dachte ich, mit der Sprache unserer Eltern in die Schule. Was ist mit den Kindern, die ein holpriges Deutsch im Ohr haben? Mir fiel unsere Tochter ein, die, verglichen mit mir, leicht Latein lernte - während ich enorme Mühen hatte. Ich erinnerte mich, dass mir die Verbindungen der Satzteile lange Zeit rätselhaft vorkamen und dass mir Deklination und Konjugation äußerst schwer fielen. Ich erinnerte mich, dass ich erst nach der Schulzeit, während des Studiums, in die DUDEN Grammatik schaute und allmählich begriff.

Schwerfälligkeit im Lernen, vermute ich heute, ist auch ein Sozialisationsprodukt. Der Brite Basil Bernstein entdeckte die Schicht-abhängige Differenz der Sprach-Kompetenz, die er mit den Begriffen des elaborierten und restringierten Codes beschrieb. Wenn ich mich richtig erinnere, berücksichtigte er nicht die affektiven Folgen: die Scham, die Angst und die Unsicherheit, die mit einem restringierten Code oder einem fragilen Sprach-Verständnis verbunden sind. Diese Affekte behindern buchstäblich und machen in dem sozialen Gefüge und in den damit verbundenen Beziehungen einer Klasse - dumm.

Am Ende des vergangenen Jahres berichtete Tanjev Schultz in der SZ (19.12.2011, S. 38) von diesem Problem unter der Überschrift "Ungerechte Noten. Studie zeigt, dass Arbeiterkinder in der Schule weiterhin benachteiligt werden".  Der Befund muss ergänzt werden, denke ich: Arbeiterkinder sind in der Schule in ihrer Leistungsfähigkeit möglicherweise, vorsichtig gesagt, hier und da  behindert. Sie schneiden in standardisierten Leistungstests besser ab, weil diese psychologischen Verfahren andere, eher vergleichbare und balancierte Voraussetzungen und Situationen herstellen als das sehr komplexe Gefüge einer Klasse mit seiner impliziten psychosozialen Hierarchie und seinen sublimen Vergleichsprozessen. "Herkunft wird mitzensiert", bilanziert Tanjev Schultz das Fazit der Studie. Ja, Herkunft wird mitzensiert, weil sie die Leistungsfähigkeit in der Klasse dominiert als der im stabilen oder fragilen Selbstgefühl der Schülerinnen und Schüler strukturelle Niederschlag der unterschiedlichen Sozialisationsbedingungen. Was folgt daraus? Sehr kleine Klasse wären ideal - dann könnten die Pädagogen, wenn sie dafür einen Blick entwickeln, auf die Auswirkungen der Sozialisationsbedingungen auf das Selbstgefühl ihrer Schülerinnen und Schüler und damit auf deren unterschiedliche Verständnis- und Leistungsfähigkeit achten.

Donnerstag, 12. Januar 2012

Die Ohnmacht und die Gruppe

Heute brachte die SZ auf ihrer ersten Feuilleton-Seite (S. 11) den bemerkenswerten Text von Ingo Schulze mit dem Titel: Sich selbst wieder ernst nehmen. Der Titel ist psychotherapeutischer Jargon aus dem Repertoire der Formeln des unscharfen Aufmunterns und deutet das Problem des Textes an. Ingo Schulze beginnt ihn mit diesen Sätzen:
"Seit etwa drei Jahren habe ich keinen Artikel mehr geschrieben, denn ich weiß nicht mehr, was ich noch schreiben soll. Es ist alles so offensichtlich: die Abschaffung der Demokratie, die zunehmende soziale und ökonomische Polarisation in Arm und Reich, der Ruin des Sozialstaates, die Privatisierung und damit Ökonomisierung aller Lebensbereiche (der Bildung, des Gesundheitswesens, des öffentlichen Verkehrssystems usw.), die Blindheit für den Rechtsextremismus, das Geschwafel der Medien, die pausenlos reden, um über die eigentlichen Probleme nicht sprechen zu müssen, die offene und verdeckte Zensur (mal als direkte Ablehnung, mal in Form von 'Quote' oder 'Format') und, und, und...."
Wenn alles so offensichtlich ist, weshalb dann dieses Gefühl einer Ohnmacht und Vergeblichkeit? Ich weiß nicht mehr, was ich noch schreiben soll. Was lähmt Ingo Schulze?

Das weiß ich nicht. Aber ich kann eine persönliche und eine abstrakte Antwort geben. Ich traue mich (noch) nicht, die Politik des Geschäfts einer Klinik zu beschreiben, weil deren Leitung vermuten wird, dass meine ehemaligen Kollegen - ich bin dort ausgeschieden - mich informiert hätten, und weil ich vermute, dass sie es auszubaden hätten. Also lasse ich es und warte auf meine Gelegenheit. Meine abstrakte Antwort. Ingo Schulzes Liste ist präzis und unpräzis zugleich. Das Problem ist, das seine Beschreibungen weit entfernt sind von unserer Lebenswirklichkeit. Es ist das alte Problem der abstrakten Begriffe. Solange wir allgemein bleiben, reden wir aneinander vorbei oder tun uns nicht weh. Erst die Beschreibung unserer Lebenswirklichkeiten mit ihren vielen widersprüchlichen kognitiven und affektiven Kontexten und Subtexten - bringt Leben in die bundesdeutsche Bude. Das wäre ein (wenn vielleicht auch altmodisches) literarisches Programm. Da gibt es jedenfalls noch enorm viel zu beschreiben.

Wie macht man das Sich-selbst-wieder-ernst-nehmen? Ingo Schulze gibt die Antwort: Den Mund aufmachen, sagt er. Das ist zu wenig. Wer Erfahrungen in Gruppen hat, weiß: Man muss seinen Mut zusammen nehmen und persönlich werden. Wie wird man persönlich? Indem man vor allem seine innere Welt beschreibt und sich um die Abstrakta möglichst wenig schert. Sigmund Freud gab das Programm und den Rahmen vor: Sagen Sie alles, was Ihnen einfällt - hier, in diesen 50 Minuten. Was man innerhalb der (psychoanalytisch orientierten) Psychotherapie sagen kann, kann man schlecht so einfach außerhalb der Psychotherapie sagen. Im Alltag muss man sich den Raum für den Rahmen erobern - also Beziehungen herstellen, in deren Kreis man sich traut, persönlich zu werden. Erst dann wird man lebendig und fühlt sich nicht mehr so gelähmt.  Leicht gesagt, schwer getan.    

Mittwoch, 11. Januar 2012

Ist Hass ein politisches Argument?

Auf der Seite Drei der SZ berichtet Gunnar Herrmann heute von der norwegischen öffentlichen Diskussion der Diagnosen des psychiatrischen Gutachtens zur Verfassung von Anders Breivik: "Verrückte Welt. Bei Anders Breivik waren sich die Gutachter schnell einig: Er ist unzurechnungsfähig.  Doch jetzt wird der Befund zerpflückt. In dieser Woche will das Gericht klären, ob der Massenmörder neu untersucht werden muss. Der Streit spaltet Norwegen". Es ist verständlich, aber unglücklich, dass die öffentliche Diskussion der Gerichtsverhandlung vorgreift - es ist Sache des Gerichts, die Plausibilität der von den psychiatrischen Sachverständigen gefundenen Diagnosen zu prüfen. Öffentlich diskutiert wird die Plausibilität der Diagnose einer paranoiden Schizophrenie und der Diagnose einer schweren Persönlichkeitsstörung. Den beiden Diagnosen liegen unterschiedliche theoretische Konzeptionen der Genese von psychischer Erkrankung zu Grunde. Insofern ist es nicht schlecht, wenn Diagnosen hinsichtlich ihrer expliziten und impliziten Hypothesen sowie ihrer empirischen Belege überprüft werden. Dass Anders Breivik unter einer schweren psychischen Erkrankung leidet, die wahrscheinlich in dem mörderischen Überfall kumulierte, ist offenbar der Konsensus der Sachverständigen.

Das ist aber nicht der Konsensus in Norwegens öffentlicher Diskussion. Was ist mit Anders Breiviks Welt-Bild, mit seinen Einstellungen und Überzeugungen? "Wenn Breiviks politische Vorstellungen geisteskrank sind, dann gibt es eine Menge schizophrener Menschen in Europa", zitert Gunnar Herrmann den Experten Daniel Poohl. Kann man Breiviks Einstellungen und Überzeugungen politisch nennen? Politisch kann man eine integrative Haltung nennen, die an dem Prosperieren einer Gemeinschaft interessiert ist, die sich an den von uns geteilten zentralen Werten orientiert. Eine Haltung, die diese Gemeinschaft zu zerstören beabsichtigt, ist kriminell. Breiviks Vorstellungen sind, wenn ich richtig sehe, von einem enormen Hass gespeist. Es ist unklar, wem sein Hass gilt. Aber der Hass, der Wunsch, das verfolgte Objekt zu vernichten, ist kein politisches Motiv und kein politisches Argument. Mord ist das Überschreiten, führte Pierre Legendre in seiner Arbeit über den Gefreiten Lortie aus, unserer zivilisatorischen Grenze. Mord ist der Angriff auf unsere gesetzliche Ordnung - psychoanalytisch könnte man wie Legendre sagen: Mord ist der Angriff auf den symbolischen Vater. Mord ist ein Vater-Mord. Das Adjektiv politisch adelt die Wucht des Hasses mit einem ehrenwerten Motiv, die Adjektive rechtsextremistisch wie auch linksextremistisch kalmieren die Wucht des Hasses. Der Hass muss, politisch gesehen, in ein Gespräch kommen; er muss verstanden werden. Wer hasst, hat seine Gründe zu hassen. Sie gehören in eine Gerichtshandlung und später in die öffentliche Diskussion.

Die Politik der Klischees

Gestern war auf der Seite 16 der SZ zu lesen: "Der Keim des Radikalen. Kinder mit geringerem IQ neigen später eher Rassismus zu". Jetzt wird die Welt wieder übersichtlich: Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen. Die Idee ist uralt; Platon hatte sie schon politisch gewendet; Thilo Sarrazin war der letzte Autor, der mit dem Intelligenzquotienten argumentierte. Sebastian Herrmann, Autor des Textes, zitiert britische, nordamerikanische und kanadische Studien, die die Vorurteilsbereitschaft mit IQ-Werten korrelierten. Korrelationsstudien beschreiben statistisch auffällige Regelmäßigkeiten zweier Variablen, aber liefern keinen Erklärungszusammenhang für deren Zusammentreffen. Inwieweit der korrelative Kontext relevant ist, hängt von der zuvor kontrollierten Gültigkeit der in die Variablen eingegangen Hypothesen ab. Wie die Forscher dabei vorgingen, erläutert Sebastian Herrmann nicht. Offensichtlich prüfte er die theoretischen und methodischen Voraussetzungen der Studien nicht. Er ist auch nicht informiert, wie die IQ-Werte verstanden werden müssen. Er schreibt: "Wer sich darin (in einer Studie, G.B.) als 'sehr konservativ' bezeichnete, erzielte im Schnitt einen IQ von 95, also fünf Punkte unter dem Durchschnitt. Wer sich hingegen als politisch 'sehr progressiv' bezeichnete, kam im Schnitt auf einen IQ von 106". Das aber ist ein Missverständnis; beide Werte liegen gemäß ihrer Verteilung im Bereich durchschnittlicher IQ-Werte. IQ- Werte sind Rangplätze; man kann sie nicht so verrechnen wie die Zentimeter eines Zollstocks.

Was hat Sebastian Herrmann zu diesem Text "Der Keim des Radikalen" bewogen? Und wieso lässt er die Studien ungeprüft durchgehen? Zwei Vermutungen, die zusammen gehören: 1. der IQ-Wert reduziert die Komplexität der Genese politischer Einstellungen und Haltungen; 2. deren Genese hängt von der Qualität der Sozialisationsbedingungen, die wiederum vor allem, aber nicht nur abhängen vom sozioökonomischen, psychosozialen Status der Mitglieder eines Familiensystems. Hass entsteht in dysfunktionalen familiären Systemen. Worin sie nicht funktionieren, muss man prüfen. Wir nähern uns mit dieser Frage der lästigen Frage unserer Geschichte: Worin bestand und wogegen richtete sich der nationalsozialistische Hass?

Hart, aber lustig

Vorgestern, am Montag, saßen in der Kölner Rede-Runde des WDR bei Frank Plasberg: Frau Andrea Nahles, Herr  Hermann Gröhe, Herr Hans Leyendecker, Herr Fritz Pleitgen und Herr Hajo Schumacher. Das Verhalten unseres Bundespräsidenten hinsichtlich seiner Kredite und seiner Telefonate stand zur Debatte und damit die Frage, ob er das Amt auszuüben imstande ist. Fritz Pleitgen räumte ihm, gemäß des Titels des Wolfgang Petersen-Films, die zweite Chance ein, Hans Leyendecker nicht. Es wurden die Ärmel aufgekrempelt. Es wurde gescherzt. Hans Leyendecker sprach seinen Unmut aus, dass er der BILD-Zeitung den Triumph der Selbstgerechtigkeit übel nehmen würde. Das fand ich gekonnt und freimütig. Er bestätigte gewissermaßen mein Jahrzehnte-laufendes Abonnement der SZ. Nur Fritz Pleitgen tat sich schwer. Er versuchte, den Ernst des Gesprächs zu verteidigen und nicht einzustimmen in den alt bekannten Unernst der Empörung mit dem Subtext: Was haben wir bloß für einen Bundespräsidenten? Bei Heinrich Lübke konnten wir mit dem Schenkelklopfen nicht aufhören; das war noch am besten. Henri Nannen saß Heinrich Lübke im ARD-Studio gegenüber und nahm das sprichwörtliche Blatt nicht vor den Mund.  Mit anderen Worten: Hart, aber fair war wieder eine Lektion in dem Fach bundesdeutsche Ambivalenz gegenüber den bundesdeutschen Instituten. Es ist der Subtext, den die Angehörigen der Jahrgänge 1940 - 1949 so gut kennen und der von Mal zu Mal weiter gereicht wird und den man so übersetzen kann: Sollen wir uns über die Repräsentanten des bundesdeutschen Staates ausschütten oder sie respektieren? Der Subtext ist unterhaltsam, bringt Quote und Auflage und wird ständig wiederholt. Irgendwann ist genug.

Kurze Nachlese zur Neujahrsansprache der Bundeskanzlerin

Was möchte ich von Angela Merkel zum Jahresende hören? Eine persönliche Ansprache, in der ich mich wiederfinde mit meiner Lebenswirklichkeit des Ringens um Sorgen und Hoffnungen. Es war eine unpersönliche Ansprache, ein Schulterklopfen aus weiter Ferne: Ja, es ist schwierig, aber uns geht es gut und wir werden es gut machen, lautete die TV-Beruhigung. Sie blieb seltsam vage. Die Europäer müssten mehr zusammenarbeiten, sagte sie. Mehr zusammenarbeiten? Es geht darum, dass die Zusammenarbeit institutionalisiert wird. Zusammenarbeit klingt nach freiwilliger, willkürlicher, gewissermaßen Struktur-loser Beteiligung. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Die bundesdeutsche Regierung gibt den Takt vor. Warum sagte sie nicht, was sie beabsichtigt?  Schließlich dankte sie allen, die zum Erfolg der Bundesrepublik beigetragen hätten. Wer war damit gemeint? Offenbar nur die, deren Arbeit etwas zum Bruttoinlandsprodukt beigetragen hatte. Die anderen waren nicht angesprochen, sondern ausgeschlossen. Das waren die Jungen und die Alten und die, die abhängig waren von der Unterstützung staatlicher Institute, und die, deren Arbeit nicht vergütet wurde.

Ich dachte: selbst für die Jahresansprache nimmt sich unsere Regierung wenig Zeit zur Ausarbeitung. Wer war der Autor oder die Autorin dieser Rede? Ist unsere Regierung überlastet oder desinteressiert? Möglicherweise beides. Die Rede verspricht ein unerfreuliches Jahr.     

Wer hört meine Verzweiflung?

In der Hückelhovener Filiale der Telekom zwischen Weihnachten und Neujahr. Ein Herr, verwittertes Gesicht, Ende 50 oder Anfang 60, wütet sich in eine anklagende Rage: Mit ihm, dem Arbeitslosen, könnte man es ja machen, bei denen, die der Staat mit Milliarden unterstützt, würde man es nie machen - sagte er sinngemäß. Offenbar hatte man ihm den Anschluss, den er möglicherweise nicht bezahlt hatte, gekappt. Er sagte es nicht in seiner Empörung. Er wütete seine Verzweiflung heraus. Er hatte Recht. Mit seinem ökonomischen Status muss er mit robusten, nicht angekündigten staatlichen oder nicht-staatlichen Interventionen rechnen. Sein ökonomischer Status befriedet nicht, sondern beschämt und macht gereizt, so dass das Aushandeln von Spielräumen unmöglich wird. Er hatte Recht, dass er eine unglaubliche Diskrepanz sah - zwischen seinem unbezahlten Betrag und den Milliardenbeträgen, die die EU aufzubringen versucht, zwischen seiner Armut und der unglaublichen Verschwendung, der langsam Grenzen gezogen werden. Die Würde des Menschen ist unantastbar, sagt unser Grundgesetz. Aber es gibt bei uns Lebensbedingungen, die in diesen Grundsatz mächtig eingreifen.

Der junge Mann hinter der Telekom-Theke schwieg und hörte zu. Ein paar Mal machte er eine Bemerkung, dass er nicht zuständig sei. Meine Frau und ich schwiegen und hörten zu. Ein Unrecht war zu konstatieren. Wir blieben stumm. Der Mann wütete und wütete; er wollte nicht aufhören. Nach mehreren Minuten fügte er sich und ging. Wie kann man das Unrecht beheben?