Donnerstag, 22. März 2012

Das TV-Geschäft mit dem Affekte-Rühren

Gestern, am 21.3.2012, die letzte Nachricht der Tagesschau der A.R.D., kurz vor 20.15 - die Übertragung des Halbfinals Mönchengladbach gegen die Bayern aus München wartet: die Trauerfeier im belgischen Lommel; Eltern erinnern und gedenken ihrer bei dem Busunfall in der Schweiz verstorbenen Kinder; eine Halle wurde dekoriert; die weißen Särge dort aufgebahrt; eine Mutter spricht darüber, wie sie, wenn sie in den Himmel schaut, ihre Tochter dort vermutet. Ihr Schmerz nimmt mich mit. Rumms. Der Wetterbericht wird angesagt - unbarmherzig, geschäftsmäßig. Meine Bewegung des Mitempfindens wird buchstäblich gekappt und läuft gegen die grüne Wand des Wetterberichts. Wenn das Fernsehen einem keinen Raum des Mitempfindens lässt - was soll dann dieser ans Ende der Sendung gehängte Bericht?
Nehmen wir an, dass es die Tagesschau-Redakteure eilig hatten -  Fußball darf sich nicht verspäten - und dass nicht das Geschäft mit der forcierten Rührseligkeit dominierte.

Montag, 19. März 2012

Der digitale Fortschritt ist ein Fortschritt

Heute, am 19. März 2012, lässt die SZ den Göttinger Germanisten Gerhard Lauer zu Wort kommen (S. 14). Nach dem aufgeregten Apokalyptiker Christoph Türke, der in der SZ am 5. März 2012 (S. 12) zu Wort kam, endlich eine nüchterne, informierte  Bestandsaufnahme der elektronischen kulturellen Evolution, an der wir mehr oder weniger gekonnt, mehr oder weniger befangen und ängstlich teilnehmen. Gerhard Lauers Bilanz, schnell zusammen gefasst: Eine gewisse Virtuosität, mit der die digitalen und analogen Medien benutzt und genutzt werden, ist zu beobachten. "Mehr Bücher gehen durch die Köpfe in diesen digitalen Zeiten", schreibt er, "und das nicht nur in historischer Hinsicht". Etwas später in seinem Text: "Die Digitalisierung treibt den Literaturbetrieb an, ja vielleicht vor sich her. Neben die etablierte Rezension treten die Tausenden Laienrezensionen, die mal nur Sternchen vergeben, mal nur ihre Meinung sagen, mal sich durchaus kenntnisreich mit ihrem Buch auseinandersetzen, und das ganz gleich, ob es ein Kochbuch ist, Meyers Romanzen oder Kafkas 'Urteil'".

Das enorme Bedürfnis nach Kontakt und Austausch, nach Beziehungsvielfalt und Beziehungsanregung, nach buchstäblicher Selbst-Erweiterung und Selbst-Erfahrung, das wahrscheinlich schon immer enorm war, findet jetzt seine Foren. Das demokratische Versprechen der Teilhabe wird realisiert. Der Untergang steht uns nicht bevor. Man muss den jungen oder den beweglichen (etwas älteren) Leuten etwas zutrauen, dass sie ihre Chancen gut nützen. Und selber, wenn man zur mittleren oder älteren Generation gehört, muss man sich anstrengen - mehr oder weniger - ,  Anschluss zu halten. Der Apokalyptiker dagegen klagt; er kommt nicht mehr mit; er wird ein- und überholt; der eigene Lebensbogen neigt sich; die Zukunft schmilzt - und die jungen Leuten preschen davon. So war es immer schon. Die eine Generation kommt, die andere geht. Das kulturelle apokalyptische Getöse, dieses gut bezahlte Geschäft mit der Angst vor dem Status-Verlust und dem Ressentiment gegenüber dem, was man nicht richtig versteht und nicht beherrscht, geht mir ziemlich auf den Wecker.  Chapeau bas! für Gerhard Lauer.

Ein Missverhältnis

Am 14. 3.2012 machte die SZ mit den beiden Schlagzeilen auf: "Jeder vierte Beschäftigte erhält nur Niedriglohn. Acht Millionen Menschen verdienen neun Euro brutto je Stunde oder weniger". Tendenz steigend, wurde vermeldet. Das ist der Befund einer Studie des Instituts für Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen.
Die acht Millionen Beschäftigten gehören zu den so genannten Niedrigverdienern. "Von ihnen", berichtete die SZ, "erhielten mehr als 4.1 Millionen weniger als sieben Euro, gut 2.5 Millionen weniger als sechs Euro und knapp 1.4 Millionen sogar nicht einmal fünf Euro die Stunde. Knapp jeder Zweite der niedrig bezahlten Menschen arbeitet dabei voll und nicht Teilzeit".
Was würde es kosten, wenn die vier Millionen Beschäftigten, die eine volle Woche arbeiten (sagen wir: 40 Wochenstunden), 20 Euro pro Stunde verdienen und ausbezahlt bekommen? Ich habe es grob überschlagen: 60 Milliarden Euro pro Jahr. Verglichen mit der Billion Euro, die die Europäische Zentralbank den Kreditinstituten in kurzer Zeit geliehen hat, ist diese riesige Summe nicht so riesig. Zwei Fragen: Wieso benötigen die europäischen Banken so viel Geld? Was würde passieren, wenn die vielen Millionen schlecht bezahlter Beschäftigter  Stundenlöhne erhalten, mit denen sich leben lässt?