Freitag, 19. Oktober 2012

Ein Fußballspiel ist ein Fußballspiel ist ein Fußballspiel

Seit dem 4. Juli 1954, unserem heimlichen Nationalfeiertag - den wahrscheinlich vor allem die männlichen Westdeutschen feiern - , wissen wir, dass der Fußball eine wichtige,  balancierende Funktion für unsere nationale Zufriedenheit hat. Am 4. Juli 1954 schlug die westdeutsche Fußball-Nationalmannschaft die ungarische Nationalmannschaft, die damals einen ähnlichen Ruf hatte wie heute die spanische Nationalmannschaft. An diesem Tag konnten die Westdeutschen schreien, jubeln, feiern und durchatmen. Die düstere Nachkriegszeit schien auf einmal nicht mehr so düster zu sein. Das änderte sich allerdings 1958 mit der Fußballweltmeisterschaft, als die schwedische Nationalmannschaft das westdeutsche Team unter dramatischen Umständen im Halbfinale aus dem Turnier warf. Die Empörung war so riesig, dass einigen Fahrzeugen der schwedischen Besucher des gleichzeitig stattfindenden Aachener Reiturniers die Reifen durchgestochen wurden.

Jetzt sind wir irgendwie knatschig - ich zähle mich natürlich dazu - über unsere Fußball-Nationalmannschaft, die zum ersten Mal richtig Fußball spielt, fast spanisch, aber - nicht gewinnt. Überhaupt gewinnen unsere Fußballmanschaften keine entscheidenden Spiele mehr. Sie spielen einen guten Fußball, aber verlieren mit einem Unentschieden. In Italien stellte der Trainer die falsche Mannschaft zusammen und verlor folgerichtig und richtig. Jetzt führten unsere jungen Fußballer mit einem Vier-Tore-Vorsprung - und brachten den nicht nach Hause, wie man so schön sagt. Früher, beispielsweise 1974, brachten unsere Fußballer ihren mit einem  in der ersten Halbzeit exekutierten, umstrittenen Elfmeter erzielten 2:1 Vorsprung in der zweiten Halbzeit über die Runden - eine Zitterpartie des Nägelkauens - und wurden mit Franz Beckenbauer Weltmeister. Die Erleichterung über das Ende dieses Spiels ließ einen in einen erschöpften Jubel verfallen - bei einem milden schlechten Gewissen.

Und jetzt? Jetzt rätseln wir, was mit unseren jungen, brillianten Leuten los ist. In Italien wurde der Trainer kopflos und vergaß die alte Regel, dass man eine erfolgreiche, gut spielende Mannschaft nicht verändert, jetzt wurden die Spieler kopflos nach ihrem ersten Gegentor. Ich habe noch den ARD-Reporter Tom Bartels im Ohr, der bei jeder Unsicherheit im bundesdeutschen Strafraum die Katastrophe und die Niederlage witterte. Ich fand das übertrieben und erinnerte meine Mutter, die vor jedem Regenguss warnte. Seltsamerweise hatte Tom Bartels die Not unserer Spieler offenbar gespürt. Sie wurden kopflos und verloren ihre Linie. Wieso?

In anderen Sportarten sind Einbrüche normal. Beim Tennis liefert ein Spieler einen glänzenden ersten Satz ab, danach läuft nichts mehr. Steffi Graf konnte im letzten Moment ein Spiel drehen. Manchmal bekamen unsere Fußballer im letzten Moment noch den Ball ins gegnerische Tor. Wovon hängt das ab?         Von der Fähigkeit der Angst-Regulation, die wiederum abhängt von den sich einstellenden Beziehungskonstellationen. Für diesen Kontext hat die psychoanalytische Theorie das Konzept der Übertragung. Was man im Spiel gegen die Schweden sehen konnte, war: Angst. Offenbar war das verlorene Spiel gegen Italien noch nicht verdaut. Offenbar sind unsere Erwartungen so riesig, dass sie enorm belasten. Unsere jungen Leute sollen jetzt besser als die Spanier sein. Das scheint sich aber so schnell nicht realisieren zu lassen. Immerhin spielen jetzt schon Klasse. Aber vor allem ist ein Fußballspiel immer noch ein Fußballspiel.