Montag, 21. Oktober 2013

Neues zur Heiligen Kuh III

Die bundesweite Kontrolle der Einhaltung der Geschwindigkeitsbegrenzungen - die übrigens die bayrische Landesregierung fortsetzen will - hat ihre Folgen. Die SZ berichtet heute, am 21.10.2013, auf ihrer letzten Seite (S. 32) unter der Überschrift "Raser des Monats" darüber. Die Stadt Abensberg lieferte den Motorradfahrer, der mit Tempo 113 durch die Stadt schoß, an den Pranger, indem sie ihn facebook auslieferte. Was geschah? Eine riesige Empörung braute sich im elektronischen Netz zusammen, wie Auto- und Motorradfahrer so bloß gestellt und ihre Persönlichkeitsrechte so verletzt werden könnten. Inzwischen zuckte die Stadtverwaltung Abensberg laut Süddeutscher Zeitung zurück.  Verständlicherweise: der Pranger ist ein altes Mittel der Beschämung, keine rechtsstaatliche Intervention. Offenbar ist für die Abendsberger die Stimme des Gesetzes, die den wilden Motorfahrer hätte bremsen können, nicht laut genug. 

Neues zu Heiligen Kuh II

Am Samstag las ich im Kölner-Stadtanzeiger diese Notiz mit der Überschrift:
"Porsche-Konkurrent zum Kampfpreis". Der Text dazu: "Der geplante Mercedes GT AMG wird voraussichtlich 130 000 Euro kosten. Bei ähnlichen Leistungsdaten wie ein Porsche 911 Turbo wäre der Sportwagen damit rund 30 000 Euro günstiger als dieser, wie die Zeitschrift Auto, Motor und Sport berichtet. Der GT AMG wird von einem Biturbo-V8 mit vier Litern Hubraum und 500 PS angegeben". Mit den gesparten 30 000 Euro könnte man jetzt gut den Porsche anzahlen.  Die fünfhundert Pferdestärken machen natürlich etwas her: damit muss man sich im Verkehr nichts mehr sagen lassen. Das ist die  Botschaft dieser Meldung. Damit wird einem der Mund ganz schön wässrig gemacht. Leider fällt einem dann ein, dass  man für diese vielen Pferde kein Geld hat: also muss man sich mit dem eigenen Fahrzeug zufrieden geben, das - verglichen mit diesem Kraft-Bolzen - untermotorisiert ist. Das Leiden am untermotorisierten Fahrzeug, von auto, motor und sport schon in den 70er Jahren häufig diagnostiziert und in den so genannten Test-Berichten, die Berichte zum Fantasieren waren, gepflegt und geteilt von vielen Autofahrern, war einer der Motoren der heutigen automobilen Hochrüstung, über die heute so selbstverständlich berichtet wird wie über das Wetter.

Rennen

Manche Buch-Käufer, sagte mir die Buchhändlerin heute Morgen, wissen nicht, dass der Buchhandel innerhalb von 24 Stunden einen Buchtitel, sofern er beim Grossisten vorliegt, liefern kann: ein gutes Argument für den Buchhandel und gegen den Imperialisten Amazon, der trotz der Bestellung mit einem Klick nicht schneller ist. Das will der Konzern mit einer logistischen Offensive ändern: in gut verstreuten, zahlreichen Zentren will Amazon, erfuhr ich weiter, will er demnächst innerhalb von Stunden die Wünsche der Kunden erfüllen. Klicken und liefern: das Paradies rückt näher, verspricht diese Strategie, die Wünsche müssen nicht mehr lange aufgeschoben werden. Was ist mit der Freude des Wartens, die wir Vorfreude nennen? Möglicherweise ist diese Variation der schlichten Idee von der Beschleunigung zu einfach. 

Freitag, 11. Oktober 2013

Die heilige Kuh kommt nicht von der Stelle

Gestern haben, kann man in Ralf Wiegands Kommentar Komplizen des Alltags. Blitzer-Marathon in der SZ von heute, 11.10.2013 auf Seite 4 nachlesen, "14700 Polizisten an 8600 Stellen 24 Stunden lang gemessen, geblitzt, fotografiert und kassiert". Warum, fragt er, "tun sie's dann nicht öfter?" Ja, warum nicht?  "An die Autofahrer", antwortet er,  "traut sich in Deutschland keiner heran". Welcher Politiker es tut, stellt sich ins Abseits. Wir haben es eben erlebt: Sigmar Gabriel von der SPD kam mit seinem Vorschlag zum Tempo-Limit auf Autobahnen in Schwierigkeiten. Warum?

Die Antwort gibt die Kontrast-Erfahrung. Wer aus dem Ausland in die Republik fährt, sagen wir aus den Niederlanden, muss sich wappnen. Wenige Kilometer hinter der Landesgrenze geht es auf der Autobahn zur Sache: die Abstände zwischen den Fahrzeugen schrumpfen, das Tempo steigt, zum Überholen auf der linken Spur muss man sich  in den Pulk hereinzwängen, fährt man bedächtig, schießt der Hintermann auf einen zu - mit einem Wort: es wird gebolzt. Autofahren auf unseren Autobahnen ist auch ein Macht-Vergnügen - das Fest  der Ungeduld, des Vordrängens, des Status-Ausspielens, der PS-Demonstration. Im Alltag kann man sich das nicht erlauben, im Auto schon. Andererseits: ein zivilisiertes Bewegen des Autos gibt es auch; höfliches Fahren wird honoriert. Dann wird schon einmal mit einem oder mit beiden Blinkern kommuniziert.

Deshalb bin ich mit Ralf Wiegand - fast - d'accord: unsere Politiker müssten sich trauen, das Tempo des Autofahrens auf Autobahnen zu reglementieren. Dafür müssten wir sie unterstützen. Bei der Einführung der Geschwindigkeitsbegrenzung auf Landstraßen gab es einen Aufschrei. Bei der Einführung der Anlegepflicht des Sicherheitsgurts gab es einen Aufschrei. Bei jedem Vorhaben, eine Tempo-Begrenzung auf den Autobahnen einzuführen, gab es einen Aufschrei. Ich glaube, dass viele Autofahrer sie begrüßen würden. Es sind die, die nicht bolzen wollen oder können. Es sind möglicherweise die, die an die unglaubliche Verschwendung unserer Ressourcen denken und daran, dass wir den dicken Bolte abgeben und uns um unsere Nachbarn nicht scheren, dass wir das Sparen verlangen, aber das Prassen pflegen, dass wir an einem Produkt festhalten, das enorm altmodisch ist, dass wir die Rhetorik der Energiewende pflegen, aber nicht handeln.   

 

(Überarbeitung: 21.10.2021)

Was gibt es Neues über Adolf Hitler?

In der ZEIT (Nr. 40 vom 26.9.2013, S. 17 - 20) stellte die Redaktion ihren ehemaligen Kollegen Volker Ullrich mit den Worten vor: "Als Hitler sich selbst erfand. Unser Autor ist der erste deutsche Historiker, der nach Joachim Fests Werk von 1973  eine große Biografie des Diktators gewagt hat. Er zeichnet das Bild eines Menschen, der seine wahren Seiten verbarg und auf dessen Inszenierung wir noch heute hereinfallen".  Volker Ullrich sollte sich bei seinen Kollegen für die Falle mit dem Hereinfallen bedanken. Das Verbum enthält schwierige (naive) Konzepte. 1. Es  stimmt (implizit) das Lied der Rechtfertigung von der manipulativen Interaktion von Betrüger und Opfer und von einer schlichten Schuld-Verteilung an: der Betrogene ist für seinen Schaden nicht verantwortlich. Das müsste man aber im Einzelfall prüfen. 2. Es enthält eine latente Psychologie vom Betrüger: er trägt eine Maske und verbirgt sein wahres Gesicht, wie wir sagen. Die Dichotomie von Maske und Gesicht entspricht der bekannten (entlarvenden) Ontologie von Bühne und Kulisse: dort setzten die Akteure ihre Masken ab. Verstehen oder sehen wir sie dann besser? Der Betrüger, der betrügt, sagt seine Wahrheit - indirekt: zumindest spricht er über seine Fähigkeit zu betrügen; möglicherweise verfolgt er selbstzerstörerische Absichten, indem er vertrauensvolle Beziehungen zerstört und dabei vereinsamt. Christopher Bollas, der kalifornische Psychoanalytiker, hat darauf hingewiesen. Und der Akteur auf der Bühne ist ebenfalls enorm persönlich engagiert. 3. Das Verbum transportiert einen voyeuristischen Wunsch: man begnügt sich nicht mit dem, was man sieht und empfindet; es ist die Frage, welche Erkenntnisabsicht man mit dem Blick hinter die Kulissen verfolgt; das müsste man ebenfalls prüfen.

"Hitler ist ein Rätsel", schreibt Volker Ullrich, "er war es sogar für seine nächsten Gefolgsleute". Klingt vertraut, aber stimmt es auch? Adolf Hitler hat seinen zur Politik transformierten mörderischen Hass  nie verschwiegen; regelmäßig redete er er sich in Rage; er etablierte, sobald er sein politisches Amt inne hatte, mit Hilfe der Ministerien und Apparate und Gruppierungen sofort die Praxis der symbolischen, der psychischen und bald der physischen Vernichtung. Wo ist das Rätsel? Ich finde es ein Rätsel, nach dem Rätsel Adolf Hitler zu fragen. Wenn man allerdings den miserablen Chaplin-Film über den großen Diktator - den übrigens Ullrich favorisiert - daraufhin ansieht, bleibt man tatsächlich irritiert zurück. Aber wenn man die von geneigten Juristen formulierte Gesetzgebung  im Frühjahr 1933 und später verfolgt, weiß man Bescheid. Man muss die Absichten zusammenzählen. Vielleicht klangen sie damals so monströs, dass Viele sich buchstäblich wegduckten. Vielleicht sympathisierten auch Viele mit dem angekündigten Mord-Programm. Wir wissen es nicht genau. Das Rätsel sind die von Ullrich genannten Gefolgsleute: was dachten sie sich? was fantasierten sie? was erträumten sie? was ließ sie folgen? Folgten sie überhaupt? Das Wort von den Gefolgsleuten impliziert eine Beziehung der Unterwerfung. War das so?  Welche Beziehungen hatten die Beamten und Berater zu ihrem Regierungschef und alle die anderen, die ihm oder den anderen nationalsozialistischen Repräsentanten und Funktionären für den deutschen Gruß den rechten Arm entgegen streckten?  Welche Projektionen, Fantasien, Wünsche prägten diese Beziehungen? Wir wissen es nicht. Noch immer sind Joseph Goebbels' Tagebücher die einzige relevante Quelle für diese Fragen. Die anderen Parteigänger, Funktionäre, Berater, Mitglieder der Stäbe gaben keine oder ungefähre, geschönte Auskunft. Deshalb sind die Beziehungsgefüge ungeklärt.  Nur nach Adolf Hitler zu fragen, wie es Volker Ullrich sich vornimmt, blendet die Beziehungsgefüge aus, die Adolf Hitler zu Adolf Hitler machten. Zudem, ich weiß nicht, ob Volker Ullrich das ausreichend bedacht hat, perpetuiert die Frage nach dem Rätsel Adolf Hitler dessen seltsame Faszination und macht ebenfalls Adolf Hitler zu Adolf Hitler und verhindert eine nüchterne Sicht.

"Hitlers Charakter zu entschlüsseln wie einen Gencode - das bleibt vielleicht eine Unmöglichkeit, so unmöglich wie eine nachgetragene Psychoanalyse oder faschismustheoretisch bewehrte Pathogenese. Möglich aber ist, die erhaltenen Fragmente zu einem Persönlichkeitsbild zusammenzusetzen", verspricht Volker Ullrich. Ein Persönlichkeitsbild, keine nachgetragene Psychoanalyse - was Theorie-los zu sein ankündigt wird (wieso eigentlich?), ist natürlich nicht Theorie-los. Wenig später schreibt er: "Das Minderwertigkeitsgefühl des früh Gescheiterten saß tief". Minderwertigkeitskomplex lautet das Konzept des Psychoanalytikers Alfred Adler. Die Diagnose der Tiefe setzt eine intime Kenntnis voraus.  Volker Ullrich tut das, was er nicht zu tun beabsichtigte. Übrigens existieren sorgfältige Explorationen  bereits - Ullrich hat sie nur nicht zur Kenntnis genommen, sah ich in einem Exemplar seines Buches auf der Frankfurter Messe: Norbert Brombergs und Verna Volz Smalls "Hitler's Psychopathology" (von 1983) taucht (beispielsweise) im Literaturverzeichnis nicht auf. So kann er sich nicht mit einem psychoanalytischen Versuch auseinandersetzen. Aber auch die Kenntnis der Persönlichkeit erklärt nicht den schrecklichen Zerstörungsprozess der Jahre 1933 - 1945 und die fürchterliche mörderische Orgie der letzten sechs Jahre.  Wahrscheinlich werden wir darüber, befürchte ich, kaum Neues erfahren. Es wird bei der bekannten indirekten, heimlichen Idolisierung des Mannes aus Braunau bleiben.

Unser Vokabularium I

Heute fiel mir ein Wort in einem Satz auf, das ich noch nie gehört habe: "Die Energiewende ist im Moment für Unternehmer nicht bepreisbar". Den Satz sagte Lutz Diederichs (SZ vom 11.10.2013, S. 18), Vorstand der Hypovereinsbank. Bepreisbar. Das Wort hat einen schneidigen Tonfall. Es ist das Produkt einer enormen sprachlichen Verdichtungsleistung des Prozesses, Kosten zu kalkulieren und in Preisen anzugeben - man könnte auch sagen: es ist eine rücksichtslose Wort-Bildung.

Wo sind wir zu Hause?

In der Sprache, sagt Otto Kronsteiner in der SZ auf der Leserbrief-Seite (S. 15, 11.10.2013). Er meint das Boarische hoid. Ich denke an das Gemisch aus Berliner und Ruhrgebiets-Idiom und -Tonfall mit französischem Vokabular meiner Eltern und Großeltern und an die Rührung, wenn ich davon etwas wieder höre. Du machst mich ganz kolone - hörte ich vor einiger Zeit, aber hatte ich Jahrzehnte nicht mehr gehört. Oder: Billet statt Ticket. Wo bleiben die alten Redewendungen? Die alten Melodien? Es ist die Sprache der Kindheit, die die Erinnerungen an unsere Wurzeln konserviert und die wir vielleicht erhalten haben im inneren Dialog - im einsamen Sprechen und Suchen. Es ist wahrscheinlich nicht die einzige Heimat, die wir uns erhalten.