Donnerstag, 19. Dezember 2013

Der Aufguss des E

Gestern am Mittwoch, dem 18.12.2013, widmete die Feuilleton-Redaktion der SZ ihre erste Seite (S. 11) ihrem Kollegen Joachim Kaiser, der 85 Jahre alt geworden ist. Vier Autoren gratulierten Joachim Kaiser in diesem großen Forum: Stefan Hunstein, Maurizio Pollini, Fritz J. Raddatz und Botho Strauss. Botho Strauss ließ die 1950er Jahre anklingen mit ihrer strengen Differenz von E und U: als die populäre Kunst noch als Massenvergnügen verachtet wurde. Hier sind einige Sätze von Botho Strauss über Joachim Kaiser - von denen ich gern wüsste, wie die Redakteure des Feuilletons, die Kenner und Liebhaber der populären Kunst sind, sie aufnahmen und für den Druck einrichteten: "Man möchte seine Intelligenz wie eine Melodie notieren können ... Intelligenz im Allgemeinen ist etwas Unleidliches. In der Regel beruht sie auf irgendeinem Charaktermangel oder auf dem Mangel an profunderen Gemüts- und Geistesleistungen ...Man muss es festhalten - und dazu lässt sich der Superlativ nicht vermeiden: Er ist der letzte und vorbildlichste Vertreter einer schöpferischen ästhetischen Reflexion und Bildung in einer Zeit, da die Intelligenz komplett amusisch und, ausschließlich aufs Soziale gerichtet, vom Sozialen vollkommen korrumpiert wurde".

Junge, Junge.  
 

Dienstag, 17. Dezember 2013

Adolf Hitler lesen? Klar, keine Frage!

Am Freitag, den 13.12.2013, verwies Willi Winkler im Feuilleton der SZ auf das Ende der "urheberrechtlichen Schutzfrist" für Adolf Hitlers Text Mein Kampf , die 2015 abläuft - 1948 war nach einem Alliierten-Statut das Vermögen des Verlags Franz Eher, der Mein Kampf publiziert hatte, auf den Freistaat Bayern übertragen worden, der es seitdem "als Landesvermögen vom Finanzminister betreut". Wird der Text des nationalsozialistischen Regierungschefs demnächst jeder  und jedem Interessierten zugänglich sein? Das ist die Frage. Die bayrische Landesregierung hat den Plan, den Text Mein Kampf in einer kritischen, kommentierten Fassung zu veröffentlichen, aufgegeben - der Kosten wegen. Was soll man mit dem Text machen, fragte die SZ im Aufmacher auf ihrer ersten Seite ("wegschließen oder herausgeben"), und machte sich zum Sprachrohr der Ängstlichkeit der 1950er Jahre, als schon das Adjektiv nationalsozialistisch schwer über die Lippen ging und als der Mann aus Braunau als der mächtige Verführer, gegen den kein sprichwörtliches Kraut gewachsen war, in der öffentlichen Diskussion gehandelt wurde.

Das ist jetzt 60 Jahre her. Die bundesdeutsche Dämonisierung des Führers ist eine verdrehte Idolisierung. Sie ist offenbar schwer zu verstehen und aufzugeben (s. meinen Blog vom 11.10.2013). Ich habe Hitlers Mein Kampf nie gelesen. Mir das Buch im Antiquariat zu besorgen, war mir zu teuer; ich dachte, einmal wird es doch preiswert zu haben sein. Jetzt würde ich es gern lesen. Hitlers Reden kenne ich zum Beispiel aus dem Leni Riefenstahl-Film Triumph des Willens. Der Film ist ein schrecklicher Schinken: der Rhythmus von Aufmarsch, (symbolischem) Kniefall vorm Führer, Nicken des Führers - die inszenierte Gestik der nationalsozialistischen Vergewisserung; das Ganze interpunktiert von dessen Hass-Reden - ist enorm strapaziös. Aber er gestattet einen Blick in den deutschen Abgrund. Und das Buch Mein Kampf? Die Lektüre zum Blick in den Abgrund. Sie könnte zur Ernüchterung beitragen. Sie könnte das Interesse an der Frage wecken, wie der weit reichende Prozess der forcierten Idolisierung (wie weit er reichte, können wir leider nicht mehr klären) Adolf Hitler zu Adolf Hitler machte.


Montag, 16. Dezember 2013

Die Melodie des Klagens

Am Samstag druckte der Kölner Stadt-Anzeiger sein Interview mit Hartmut Rosa ab, dem, wie es dort hieß, "Zeitforscher und Soziologieprofessor" (in Jena). Er ist der Verfasser des Buches mit dem Titel Beschleunigung und Entfremdung: Entwurf einer kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit". Der Titel kombiniert Karl Marx mit Theodor Wiesengrund Adorno und der Andeutung eines vagen Zeit-Empfindens.

Was sagt Hartmut Rosa? "Ob in Wirtschaft, Kirchen, Pflege, Bildung - auf jedem Sektor haben ganz viele Menschen das Gefühl, die Beschleunigung betrifft nicht nur ihre Arbeit, sondern die ganze Art des Lebens. Sie ist zur nagenden Erfahrung geworden, die jeder kennt".
Frage: "Woher kommt eigentlich das Gefühl, dass alles schneller wird?"
Hartmut Rosa: "Die Geschwindigkeitssteigerung ist erst einmal real... ein Grundphänomen der modernen Gesellschaft seit 300 Jahren. Durch die technische Steigerung etwa beim Transportwesen oder bei den Kommunikationsprozessen können wir Dinge und Menschen immer schneller in Bewegung setzen. Aber seit 1990 gibt es eine qualitativ neue Beschleunigungswelle. Durch die Digitalisierung, das Internet und die Öffnung der Finanzmärkte".
Frage: "Mit welchen Folgen?"
Hartmut Rosa: "Das setzt eine beschleunigte Veränderung unserer Umwelt in Gang... Die Basis der Beschleunigung ist die Wettbewerbslogik der Gesellschaft: Kapitalismus ist per se steigerungsorientiert.... Im Ergebnis beschleunigen wir alles: Wir stellen mehr her, konsumieren mehr, haben mehr Sozialkontakte. Auf allen Kanälen steigern wir den Takt und die Optionen. Nur die Zeit, die Optionen auszuschöpfen, bleibt immer gleich".

Bei Allaussagen vom Zuschnitt alles oder immer werde ich hellhörig. Beschleunigen wir alles? Natürlich nicht. Der Straßenverkehr wird langsamer, die Staus größer, ein Spielfilm oder ein Fußballspiel dauert noch immer gute 90 Minuten - allerdings die Schulzeit und das Studium werden kürzer, da wurde, könnte man sagen, beschleunigt. Aber auch da muss man fragen: sind die Lernprozesse tatsächlich beschleunigt worden? Sie wurden (in der Schule) verkürzt und  (in der Universität) gestutzt: Umwege sind weniger möglich, Abschweifen (in andere Fächer oder Lektüren) ist nicht zu empfehlen; die Prüfungstakte wurden erhöht. Es ist kompliziert. Am besten sieht man zuerst die eigenen Lebensrealität durch. Ich konsumiere weniger, ich habe weniger Sozialkontakte; ich beschränke mich. Aber das hängt u.a. mit meinem Alter (ich bin 1945 geboren) und meiner veränderten Lebensrealität zusammen. Lebensrealitäten auf den einen Nenner gemeinsamen Zeit-Erlebens zu bringen, halte ich für ein unmögliches Unterfangen. Der Soziologe Hartmut Rosa sieht die großen Einheiten, die weitreichenden Muster. Die Frage ist, wie weit trägt die Beschreibung der Beschleunigung?

Nicht weit. Man müsste sie zuerst deklinieren nach Beruf, Status, Schicht, Lebensverhältnisse. Das wäre die Aufgabe groß angelegter Forschung. Aber auch ohne solche Forschung lässt sich die Beschreibung der Beschleunigung als (soziologische) Gesellschaftsdiagnose durchgehen. Beschleunigung ist das Narrativ einer Klage, die mit den Worten angestimmt wird: man kommt zu nichts; das Leben geht an einem vorbei; die Zeit verfliegt. Es ist die Klage eines Verfehlens. Wir leben in einer Zeit des Missverhältnisses riesiger (buchstäblich globaler) Wahl-Möglichkeiten - Rosa nennt das Optionen - und mächtiger Fantasien des Glücks einerseits und begrenzter eigener, individueller Fähigkeiten und Möglichkeiten. Wer eine Wahl trifft, legt sich fest und schließt viele andere Wahlen aus. Ein Leben offeriert eine begrenzte Auswahl an Wahlen; man kann nicht mit ihnen experimentieren, man muss sie leben. Ein Leben ist begrenzt; um diese Lebenstatsache geht es. An der  Evolution einer Gesellschaft kann man nur eine Lebensspanne teilnehmen; mehr ist nicht drin. Der Aufschrei über unsere Vergänglichkeit beschleunigt unser Klagen.

Donnerstag, 12. Dezember 2013

Die spitzen Finger der öffentlichen Diskussion

Heute in der SZ auf Seite 5: "Die Demokratie der Besserverdienenden. Wer beteiligt sich an Wahlen, wer bleibt lieber daheim? Die Bertelsmann-Stiftung legt eine Studie vor, deren Ergebnisse erschrecken".

Erschrecken sie? Wen?

Der Autor des Textes, Detlev Esslinger, bilanziert die Studie: "Je prekärer die Lebensverhältnisse, desto eher geht jemand nicht zur Wahl". Beispiel: die Wahlbeteiligung im Kölner Villenviertel Hahnwald lag bei 89 Prozent, im Stadtteil Chorweiler, der als sozialer Brennpunkt gilt, bei 42 Prozent. "In Chorweiler beträgt die Arbeitslosenquote 19 Prozent, in Hahnwald ein Prozent. Dahinter verbirgt sich zudem, dass die Prozent-Abstände zwischen den Bezirken mit den niedrigsten und denen mit der höchsten Beteiligung immer größer werden. Und dahinter verbirgt sich, was man zum Beispiel in Hamburg feststellen kann. In den Stadtteilen mit der niedrigsten Beteiligung finden sich, gemessen an den Stadtteilen mit der höchsten Beteiligung, 36-mal so viele Haushalte aus ökonomisch schwächeren Milieus, doppelt so viele Menschen ohne Schulabschluss, fünfmal so viele Arbeitslose".

Christoph Butterwege ist der Kölner Politikwissenschaftler, der seit langem die psychosozialen und politischen Folgen des Prozesses der Verarmung untersucht - der auch schon für die Außenansicht der SZ Autor und in den TV-Rederunden Fachmann war. Wissenschaftler benutzen aus guten Gründen ein temperiertes Vokabular. Sigmund Freud hatte ja die Hoffnung, dass die leise, aber ständige Stimme der Wahrheit gehört werden würde. Der Prozess der Verarmung ist ein Prozess der psychosozialen Vernichtung -  der Begriff der Exklusion ist dafür ein elegantes (lateinisches), aber ein schwaches Wort - : ein Prozess des selbst-zerstörerischen Rückzugs aus enorm unbefriedigenden, weil permanent kränkenden und demütigenden  Alltags-Beziehungen (im öffentlichen, nicht privaten Kontext) oder Lebensbedingungen. Das Schul-schwänzende Kind, das die familiäre Not austrägt, protestiert noch vergleichsweise laut gegen seine Lebenssituation; der Erwachsene, der nicht wählt, ist verstummt.

Wo ist der öffentlich geführte Protest gegen diesen Prozess des Ausschlusses? Die Dialektik von Einschluss und Ausschluss ist heikel: sie verstärkt die Verteilungsverhältnisse und das Sträuben gegen das Abgeben. Womit wir beim Grundproblem sind und eine Antwort auf die Frage haben, warum die Mittel zur Linderung der Verarmung zu schwer zu etablieren sind.

Immerhin: es gibt gute Nachrichten. Die U.S.A. führen die Volcker-Regel ein (SZ vom 10.12.2013, Nr. 285, S. 29):
"Banken ist nicht gestattet, sich an Hedgefonds und Private-Equity-Fonds zu beteiligen, sie zu besitzen oder zu finanzieren und Eigenhandelsgeschäfte auf eigenes Risiko zu tätigen. Banken müssen ihre Wertpapier-Handelstätigkeit auf Kundenaufträge beschränken und dürfen selbst keine riskanten Positionen aus eigenen spekulativen Motiven eingehen".
Das ist doch Fortschritt. Die Dialektik des Einschlusses und des Ausschlusses wird gebremst. Hoffentlich.

Mittwoch, 11. Dezember 2013

Willy Brandt, Helmut Schmidt und Giscard d'Estaing

Zwei bewegende Sendungen strahlte ARTE gestern Abend aus: die Dokumentation über Willy Brandt und das Gespräch, das zugleich ein vorsichtiges (sich wenig einmischendes) Interview war, zwischen dem 1918 geborenen Helmut Schmidt und dem 1926 geborenen Giscard d'Estaing. Brandt und Schmidt sind die beiden SPD-Kanzler (1969 - 1974 und 1974 - 1982), die die westdeutsche Kluft repräsentierten. Als Primaner nahm ich 1961 zum ersten Mal einen üblen Ausfall des ersten Kanzlers der Bundesrepublik deutlich wahr: Konrad Adenauer nannte seinen Konkurrenten im Wahlkampf den Herrn alias Frahm, spielte auf dessen uneheliche Geburt an und und wunderte sich laut über dessen Leben in Norwegen in den nationalsozialistischen Jahren. Der alte Herr hackte in seiner Not - muss man vermuten - mächtig Holz; wofür sich später meines Wissens kein Mitglied der Union entschuldigte. Wieso auch. Die Politik der Kränkung blieb das Muster des Umgangs. Zähneknirschend nahmen die Abgeordneten der Union im Bundestag die Mitteilung des Bundestagspräsidenten Kai Uwe von Hasselt entgegen, dass Willy Brandt 1973 der Friedensnobelpreis verliehen wurde. Willy Brandt war unser visionärer Politiker, der den 9.11.1989 erlebte und das Wort vom Zusammenwachsen, das zusammen gehört prägte. Seine Bedeutung für westdeutsche Moral, Integrität und Identität war und ist enorm.

Helmut Schmidt war anders - er musste, würde er vielleicht in seiner Schnodderigkeit sagen, den Laden, der mächtig in Aufruhr geraten war, zusammenhalten. Er pflegte die leisen lauten Töne. Er pflegte eine kollegiale Männer-Freundschaft mit dem französischen Präsidenten. Im Interview konnte man sehen, dass das Wort von der Freundschaft  zutraf - Giscard d'Estaing war der Erste, dem Helmut Schmidt von seinen jüdischen Wurzeln erzählte. Im Gespräch räumte Helmut Schmidt ein, dass er die politische (psychosoziale) Bedeutung der symbolischen Gesten unterschätzt hatte - beispielsweise die Geste des Händchenhaltens von seinem Nachfolger Helmut Kohl mit dem französischen Präsidenten Francois Mitterand - ; vielleicht, deutete er an, hätte er mehr aus seiner Beziehung machen sollen. Zum Glück ist es nicht geschehen: wenn man genau hinguckt, fällt die Inszenierung auf und in sich zusammen. Es war wohltuend zu sehen, dass die beiden Politiker ihre Integrität nicht verraten und sich dem Geschäft der forcierten Intimität nicht überlassen hatten. Bei Angela Merkel und Francois Hollande - in einem kleinen, einmontierten Ausschnitt - konnte man dagegen sehen, wie das betuliche Gerede und das Handeln sich kommentieren:  Angela Merkel bugsierte ihren Kollegen ungeduldig und taktlos in die richtige Position auf dem roten Teppich - wie einen kleinen Jungen, der sich zu langsam bewegt in feiner Gesellschaft.

Freitag, 6. Dezember 2013

Hypothese zur Wut auf den Tourismus

Gestern, am 5.12.2013, hatte die Redaktion der SZ für ihr Reisen-Buch die für den Kinogänger herrliche Idee, Drehorte und Reiseorte zusammen zu bringen; New York City schnitt dabei natürlich gut ab - so gut, dass Fritz Göttler, der Filmkritiker dieser Zeitung, keinen mächtigen Impuls  (oder muss er ihn mächtig in Schach halten?) verspürt, Manhattans Pflaster unter die Füße nehmen. Klar, so wie die Kino-Optik N.Y.C. oder andere nordamerikanische Städte oder Landschaften in den Blick nahm und nimmt, kriegt man das als Tourist nicht hin.

Tourist - diese Vokabel mit der für uns geläufigen negativen Konnotation fiel mir auf in einem anderen Text, in dem der Satz von Hans Magnus Enzensberger zitiert wurde: "Der Tourist zerstört das, was er sucht, indem er es findet". Dieser Satz ging mir nach. Leider konnte ich den Text nicht finden, in den er gehört. Er soll aus dem Jahr 1989 stammen. Also nicht aus Enzensbergers Einzelheiten. Bewusstseins-Industrie aus dem Jahr 1962, als er " Eine Theorie des Tourismus" vorlegte, die eher eine Hypothese des Tourismus war:
"Dies die unberührte Landschaft und die unberührte Geschichte, sind die Leitbilder des Tourismus bis heute geblieben. Er ist nichts anderes als der Versuch, den in die Ferne projizierten Wunschtraum der Romantik leibhaftig zu werden. Je mehr sich die bürgerliche Gesellschaft schloß, desto angestrengter versuchte der Bürger, ihr als Tourist zu entkommen".
Der vorletzte Satz des Textes:
"Der Tourismus zeigt, dass wir uns daran gewöhnt haben, Freiheit als Massenbetrug hinzunehmen, dem wir uns anvertrauen, obschon wir ihn insgeheim durchschauen".

So klang das Enzensbergersche Idiom Anfang der 60er Jahre. Heute würde er (vermutlich) den apodiktischen Tonfall (nichts anderes als, je mehr - desto, entkommen und  Massenbetrug) ironisch unterlaufen - diese Anpassung ans unbarmherzige Frankfurter Gewissen ist passé - , aber die Abneigung, sich einem Touristen zu nähern, ihn zu verachten und sich ins Fäustchen zu lachen über die ausgetretenen Wanderwege, auf denen man ihn (leider) wiederfindet,  kehren heute wieder in dem Zitat des über 20 Jahre alten Satzes vom Tourist, der zerstört, indem er findet.

Was zerstört er? Nimmt man den Satz wörtlich, dann modifiziert der Tourist sein Bild einer Stadt oder einer Landschaft, die sich ihm anders präsentiert. Das kann natürlich ernüchternd sein. Das Schlimmste, was einem passieren kann, sagte Sigmund Freud einmal, wäre die Erfüllung eines Kinderwunsches - eines besonders sehnsüchtig gepflegten Wunsches; er hatte die (mögliche) Begegnung mit Rom schlecht ausgehalten. Aber das meint der Satz vielleicht gar nicht. Das Problem ist der Tourist im Plural. Der oder die Reisende ist nicht mehr allein; der Strand ist besetzt, die Bucht belegt, und vor der Sehenswürdigkeit wartet eine lange Schlange. Die oder der Reisende ist nicht die oder der Erste. Im Plural ist man - bezogen auf die Gruppe der Einheimischen - ein Fremder; man fühlt sich ausgeschlossen. Allein glaubt man, unter den Einheimischen  - vielleicht - nicht aufzufallen und  die Illusion pflegen zu können, dazu zu gehören. Neulich fuhr ich auf den Parkplatz eines kleinen Hotels in Worcestershire: ich ertappte mich dabei, wie ich mir die Nummernschilder der anderen Fahrzeuge anschaute und Ausschau hielt nach einem bundesdeutschen Kennzeichen. Ich fand keins, aber beim Frühstück saß (leider) am Nebentisch ein Deutsch sprechendes Paar mit adoleszenter Tochter.

So verstanden, repräsentiert der  Tourist (auf den ich innerlich mit dem Finger zeige, ohne mit dem Finger auf ihn zu zeigen) die Projektionen der (abgelehnten) Aspekte meines Selbstbildes und meiner Identität. So verstanden, verdichtet die dem Touristen attestierte Zerstörung den eigenen Wunsch, dem Landsmann oder der Landsfrau nicht zu begegnen. Und was ist mit dem so genannten Massen-Tourismus? Den hatte doch wohl Hans Magnus Enzensberger im Sinn? Das ist eine andere Geschichte.  Man kann sie lesen als das Produkt einer von vielen Prozessen der Demokratisierung oder, anders gesagt, der Assimilierung aristokratischer Lebensformen. Das Auto ist das vertraute Beispiel. Es ist ein Kind der Kutsche. Früher war die von Pferden gezogene Kutsche ein wirklich kostspieliges, nur der Oberschicht verfügbares Vergnügen, aus den Kosten ein Spiel zu machen. Heute haben die Pferde-Kutschen unsere Welt und unsere Lebensformen verändert - das touring by car wurde so möglich. Und wie das so ist: eine oder mehrere Industrien realisieren diese Vergnügen und beuten sie aus zu unserem Vergnügen und zu unserem Missfallen.

Schreiben ist übrigens ähnlich wie Reisen in der Hinsicht: jemand war (fast immer) schon vor einem da. In meinem Fall hier war es Joseph von Westfalen, der im TRANSATLANTIK-Heft  8/1984 den Text schrieb: "Der deutsche Stolz. Geschichte einer Kränkung". 

Dienstag, 3. Dezember 2013

Der Aufbruch und der Durst: vom Problem der Deutung unserer Gegenwart

Vor 50 Jahren wurde der nordamerikanische Präsident John Fitzgerald Kennedy am 22.11.1963 in Dalles ermordet. Die SZ erinnerte am 22.11.2013 an die die U.S.-Amerikaner erschütternde und die Welt-Öffentlichkeit bewegende Tragödie. Die Erinnerung ist nicht verblasst; sie arbeitet in den nationalen Öffentlichkeiten unterschiedlich - wie sehr oder wie wenig, wissen wir nicht; wir können das Ausmaß der inneren, nicht der veröffentlichten, sondern der intimen Beschäftigung nicht ausmessen - weiter. Reymer Klüver tat es für die SZ; sein Text hatte den Titel: "Eine Art Held. John F. Kennedy gab der Nation, wonach sie dürstete. Doch auch er hätte die Menschen desillusioniert". Was gab dieser Präsident seiner Nation? Reymer Klüver gab diese dichte Antwort: "Kennedy fing schlicht den Geist der Zeit ein".

Das Adverb schlicht fungierte im Text als eine Art Selbst-Vergewisserung des Autors, der darum bat, seine Formel vom Geist der Zeit als eine Erklärung zu akzeptieren. Worin bestand er? "Die Amerikaner sehnten sich damals nach einem Aufbruch. Und er gab der Nation, wonach sie dürstete. Er versprach die Schande der Rassentrennung zu beenden, er schuf den Peace Corps, er verordnete die Landung auf dem Mond, er gab ihr das uramerikanische Gefühl zurück: dass die Zukunft grenzenlos ist und die Probleme lösbar sind, wenn man sie nur angeht". Waren das die damaligen Subtexte - die zentralen Wünsche und Fantasien der U.S.-Amerikaner? Der Aufbruch und der Durst - was war das in den nationalen Kontexten? Schwer zu sagen. Es sind so ungenaue Texte oder Narrative unbekannter Reichweite. Der aus einem offenbar tiefen Ressentiment gespeiste Hass auf den jetzigen  U.S.-Präsidenten, der in einer milden Form als Verachtung des gescheiterten, ehemals messianischen Politikers bei uns mittlerweile kursiert  - sein Ausmaß und seine Qualität sind sicherlich nicht abzuschätzen - ist enorm; gewissermaßen schlecht gefiltert schafft er heute in einem (für mich) unvertrauten Ausmaß seine politischen Realitäten; die U.S.A. wirken zerrissen. Diesen erschreckenden Eindruck hatte ich das letzte Mal am 3. 10.1995, als die Geschworenen im Mordprozess Orenthal James Simpson, den Football- und Schauspieler, freisprachen - und Fotos vom Jubel und vom Entsetzen bei uns erschienen und eine tiefe Kluft der nordamerikanischen Bevölkerung illustrierten.

Mit anderen Worten: welche Kontexte werden für die Deutung einer Gegenwart herangezogen und ausgewertet? Im Falle von JFK kann man sagen: er wird lebendig gehalten. Weshalb? In welchen Tagträumen? In welchen Fantasien? In welchen Gedanken und Erinnerungen? Who knows?
Am besten fängt man mit Beschreibungen der nationalen Zerrissenheiten in vielfältige, geschichtete Kontexte an - und hütet sich vor den vertrauten Kontexten, die der Beruhigung dienen.

Neues zur Heiligen Kuh IV

Joschka Fischer hat seinen von einem Elektromotor angetriebenen BMW i 3 in Leipzig abgeholt - im Rahmen einer stattlichen Inszenierung des Autos, berichtet heute die SZ (3.12.2013, Nr. 279, S. 18). Die Botschaft sei, schrieb der SZ-Journalist, "Fischer war einst Grünen-Politiker und ist jetzt Werbefigur für die deutsche Automobilindustrie". D'accord. Die Autobranche kämpft und kämpft. Jeder kämpft mit seinen Mitteln. Ob die Freude am Fahren sich auch im Elektroauto erhält? Keine Motorgeräusche mehr? Nur noch noch Lauf - und Fahrgeräusche? Wo bleibt die geräuschvolle Entfaltung der Kilowatt-Macht? Davon abgesehen: wo kommt der Strom für die (geplanten) vielen Fahrzeuge her? wo die vielen Batterien? Auf jeden Fall muss Joschka Fischer regelmäßig befragt werden, wie oft er seinen neuen i3 bewegt.

Nachschlag zur Manege des TV-Journalismus

Heute Morgen in der SZ (3.12.2013, Nr. 279, S. 5): "Er kann auch anders. Sigmar Gabriel gibt ein versöhnliches ZDF-Interview - sagt aber auch rätselhafte Dinge". Christoph Hickmann ist der SZ-Autor, der das Gespräch der ZDF-Journalistin Bettina Schausten und ihres Kollegen Peter Frey mit Sigmar Gabriel bilanziert. Er kann auch anders ist die Beschreibung, die (wiederum: s. Blog vom 2.12.2013) die Interaktion nicht in den Blick nimmt: die inszenierte Situation der Sendung Was nun, Herr Gabriel? war anders. Bettina Schausten schlug mit ihrer ersten Fragen einen anderen Ton (als ihre Kollegin Marietta Slomka) an:
"Was nun, Herr Gabriel - ein Interview, zu dem wir uns schon vor zehn Tagen verabredet haben. Ihr letzter Auftritt im ZDF vergangenen Donnerstag im Heute Journal hat ja für ordentlich Furore gesorgt wegen des Schlagabtauschs mit Marietta Schlomka. Mein Eindruck  war: die Nerven lagen schon ziemlich blank bei Ihnen. Ist das so eng mit dem Mitgliederentscheid?"

Der erste Unterschied zum vergangenen Donnerstag: der damalige Subtext war hier der Text der Frage Ist das so eng?, die sich direkt nach Sigmar Gabriels Verfassung erkundigte. Dessen Antwort war: "Ich bin jetzt gar nicht so sicher, bei wem von uns beiden die Nerven blank lagen - aber das war ja eine Veranstaltung, dass die Zustimmung sehr groß geworden ist zum Koalitionsvertrag. Ich glaube, wir werden eine breite Zustimmung bekommen". Der zweite Unterschied: Sigmar Gabriel räumte seine prekäre Verfassung ein, gab Frau Schausten Recht und relativierte sein Zugeständnis mit dem Hinweis auf die ZDF-Kollegin.

"Verstehe ich Sie richtig", fragte Frau Schausten nach, "war das so kalkulierte Pampigkeit bei Ihnen - denn in Hofheim selbst, da haben Sie die Reihen ja geschlossen". Der dritte Unterschied: Frau Schausten explorierte die Verfassung des SPD-Vorsitzenden weiter, indem sie ihr Verständnis anbot. Sigmar Gabriel antwortete: "Frau Schausten - Sie wissen, das wäre mir doch wesensfremd. Nein, das war ein spontanes Interview - Frau Slomka hat mich mit verstärkter Höflichkeit gefragt und ich habe mit verstärkter Höflichkeit geantwortet". Der vierte Unterschied: Sigmar Gabriel gelang eine selbstironische, humorvolle Geste. Der fünfte Unterschied: Er konnte von einer symmetrischen Interaktion (wie du mir, so ich dir) sprechen. Der sechste Unterschied - in einem Wort: Es fand ein Gespräch statt. 

Die Manege wurde nicht inszeniert. Bettina Schausten und Peter Frey hatten sich eine Haltung des Gebens und Nehmens, die zu einem Gespräch gehört, vorgenommen; sie hatten offenbar keine Gesprächs-fremden Interessen - abgesehen (vielleicht) von der Absicht, einen entgleisten Machtkampf im Dienste des Bildes ihres Senders zu reparieren, um sich später wieder in die Augen sehen zu können. Sigmar Gabriel hatte sich (offenbar) beraten lassen, besonnen zu reagieren und zu argumentieren. TV-Journalismus lebt nämlich von der Beziehungsfähigkeit und dem Beziehungsvertrauen der Beteiligten - ein Kontakt im Fernseh-Studio ist ein interaktiver, wenn auch öffentlicher, aber auch sehr intimer Prozess, bei dem die Integrität und Fairness der Beteiligten getestet wird, nicht bloß ein gegenseitiges, zynisches Geschäft mit Einschaltquote und Wählerzustimmung, mit kalkuliertem Exhibitionismus und forciertem Voyeurismus.

Montag, 2. Dezember 2013

Wenn man ins Schwarze trifft, hat man noch nicht gewonnen: die Manege des Fernseh-Journalismus am Donnerstag, den 28.11.2013, Uhr 21.45

Am Donnerstagsabend, den 28.11.2013, führten die ZDF-Journalistin Marietta Slomka und der SPD-Parteivorsitzende Sigmar Gabriel in der Sendung Heute Journal ein Gespräch, das kein Gespräch war.
Sigmar Gabriel hatte in Hofheim (Taunus) vor 900 Parteimitgliedern gesprochen und wahrscheinlich (ich war nicht dabei) für die Koalition mit der Union geworben im Kontext des Mitglieder-Votums.
Die erste Frage der Fernseh-Journalistin erkundete den vermuteten "Gegenwind", dem Sigmar Gabriel jetzt ausgesetzt wäre - die Frage war: "Ein Selbstläufer wird das wohl nicht. Oder?"

Mit dem Selbstläufer war der Ausgang des Votums gemeint. Der Subtext ihrer Frage zielte auf die Verfassung des Parteivorsitzenden; man könnte ihn so übersetzen: Sie müssen ja jetzt ganz schön Manschetten haben. Wie geht's Ihnen damit?Wir kennen die Texte dieser Frage aus dem Sport: einen Tag zuvor hatte die Leverkusener Mannschaft im europäischen Wettbewerb 5:0 verloren. Die Spieler wurden natürlich auch gefragt, wie es ihnen nach dieser Katastrophe ging. Katastrophal, war die Antwort, die der mit dem Fußball Vertraute schon längst wusste. Aber natürlich ist es immer interessant, das Gesicht des Spielers zu sehen. Im Sport kann man die affektiven Folgen einer Niederlage zugeben; allerdings würde niemand einer vermuteten, antizipierten Niederlage zustimmen. Im Fußball ist alles möglich, das wissen wir.

Im politischen Kontext, wenn er in einer so genannten Nachrichten-Sendung inszeniert wird, offenbar nicht: da kann man nicht abwarten; da muss man Auskunft geben können über ein Ereignis, das noch gar nicht statt gefunden hat. Ein Selbstläufer wird das wohl nicht. Oder? Der zweite Subtext lautet übersetzt: Das wird ganz schön knapp. Denken Sie an Ihre Ablösung als Vorsitzender? Im Fußball antwortet üblicherweise auf diese Frage ein Trainer: Warten wir das nächste Spiel ab. Wie antwortete Sigmar Gabriel? "Da haben Sie aber eben hier nicht zugehört", sagte er. Er gab Marietta Slomka Recht, indem er den affektiven Subtext ihrer Frage bestritt. 1:0 für Marietta Slomka.

"Doch", sagte sie, obwohl sie gar nicht in Hofheim, sondern in Mainz war. Woanders, führte sie aus, ohne zu sagen, wo, hätte sie gehört, dass einige Mitglieder nicht einverstanden wären mit den ausgehandelten Koalitionsbedingungen; außerdem hätte man sich nicht so viel Mühe geben müssen mit den Parteimitgliedern, wäre der Ausgang längst klar gewesen. 2:0 für Marietta Slomka: Sigmar Gabriel ließ ihr doch  durchgehen. Den dritten Punkt erzielte Marietta Slomka mit dem Argument, Sigmar Gabriel eine Selbstverständlichkeit zum Nachteil auszulegen: dass sein Werben für die  Position der Zustimmung über seine Unsicherheit Auskunft geben würde.

Wie reagierte Sigmar Gabriel auf diesen Spielverlauf? Er erläuterte das Partei-interne Verfahren des Votums. "Ich finde gut, was wir machen". Ein weiteres Mal musste er den Ball aus dem Netz herausholen: 0:4.

Das letzte Mal musste er sich nach dem Ball im Netz bücken, als er auf die Abseitsregel vertraute, die im Heute Journal allerdings nicht angewandt wurde. Die Journalistin führte die verfassungsrechtlichen Bedenken mit der Frage ein: "Haben Sie sich solche verfassungsrechtliche Gedanken eigentlich gemacht?" Eigentlich. Das Adjektiv eigentlich, in einer Frage verwandt, kommunizierte den Vorwurf: Der Parteivorsitzende der SPD hat sich keine Gedanken gemacht. Den konnte Sigmar Gabriel nicht auf sich sitzen lassen. Also erläuterte er sein Politik-Verständnis. Er überzeugte die Journalistin nicht. Er widerlegte ihren Vorwurf nicht. Er gab ihm Recht, als er ihn für nichtig erklärte: "Quatsch" und "Blödsinn", sagte er. Er hatte sich Gedanken gemacht, aber er hatte sich nicht genügend Gedanken gemacht. Das Abseits der verfassungsrechtlichen Bedenken hatte er zu wörtlich genommen. Er brach den Machtkampf ab - fünf Gegentore waren eine Menge.

In der Samstagsausgabe der SZ (30.11./1.12.2013, S. 3) wurde Sigmar Gabriels Verhalten so gelesen:
"Das war der alte Gabriel, pur zu jeder Eskalation bereit. Der Mann, der in seinen heikelsten Momenten zur größten Gefahr für sich, die Partei und wohl auch eine Regierung werden kann (...) Die Frage ist, wie oft der alte Gabriel in der Regierung herauskommen wird. Und wie Merkel dann mit ihm umgehen wird... (...) ... schließlich hat Gabriel eher wie ein Raufbold gewirkt, der sich ganz gut selbst zu helfen versteht". Interessant an dieser Kollegen-Lektüre ist, dass sie die Interaktion dieser TV-Befragung nicht berücksichtigten - abgesehen davon, dass sie  die ZDF-Journalistin ungenau zitierten und die Untertöne
nicht beschrieben. Vor allem aber: wozu diente diese Art von Nicht-Gespräch? Es war der Fernseh-typische Voyeurismus, jemanden mit einer Kränkung zu konfrontieren und zu schauen, wie er reagiert. Es war, vielleicht, der Wunsch der Journalistin, echte, nicht taktische Auskünfte zu bekommen. Aber sie fragte eine Selbstverständlichkeit ab. Ich hatte den Eindruck: sie hatte sich etwas vorgenommen; sie war aufgeregt. Um was ging es? Als Zuschauer fällt einem sofort das Geschäft ein: die Konkurrenz von ARD und ZDF, das das älteste Publikum hat. Vielleicht steht die Redaktion des Heute Journal unter dem Druck miserabler Einschaltquoten und will, wie das heute so schön heißt, Profil gewinnen und Boden gutmachen. Die Zeiten, als beide Institute ihre Programme abstimmten, liegt Jahrzehnte zurück. TV-Journalismus lebt (zum Teil) von der Fantasie der schnellen Zugeständnisse, weshalb die direkte Konfrontation gesucht wird. Verhökert wird dabei die Idee des Gesprächs. Politik wird zu einem schlechten Fußballspiel.