Dienstag, 27. August 2013

Von Mutter kommen wir nicht los

Anfang dieses Monats, am 5.8., meldete sich Tilmann Moser in der SZ (S. 2) zur Bundestagswahl zu Wort: Mutti, bleib! Wie sich mithilfe der Bindungsforschung erklären lässt, warum Angela Merkel wiedergewählt wird. Politische, gesellschaftliche Prozesse mit psychoanalytischen Konzepten zu beschreiben und zu deuten, ist seit Sigmund Freud schwierige, umstrittene Praxis. Im Sprechzimmer werden im Rahmen der therapeutischen Begegnung die lebensgeschichtlich gewachsenen interaktiven und kommunikativen Muster einer Patientin oder eines Patienten exploriert und sortiert zu einem neuen Narrativ, das die alte Lebens-Erzählung und die alten Verständnisweisen modifiziert, korrigiert und erweitert zu einem anderen Umgang mit sich selbst in einem größeren inneren Bewegungsspielraum. In diesem therapeutischen Prozess wurden die Konzepte entdeckt und entwickelt; auf diesen Prozess sind sie zugeschnitten. Mit anderen anderen Worten: die psychoanalytischen Konzepte sind Subjekt-zentriert; die Therapeutin oder der Therapeut gewinnt im gegenseitig abgestimmten und geprüften Dialog eine einigermaßen intime Kenntnis der Patientin oder des Patienten.

Bei den politischen Prozessen sind die Therapeutin und der Therapeut entfernte Beobachter, die sich aus dritter, vierter oder fünfter Hand informieren - ihr Status als Beobachter ist unsicher. Was ist das Subjekt der politischen Prozesse? Die Politikerinnen und Politiker? Die Bürgerinnen und Bürger? Eher doch der gesamte dialektische Prozess der Auseinandersetzung, zu dem eine Vielzahl von Akteuren beiträgt, mit seinen Handlungsempfehlungen, Entscheidungen und legislativen Prozeduren, mit seinen internen und externen Rückmeldungen, die ihrerseits Einfluss nehmen. Wie passt das zu den dialogischen psychoanalytischen Konzepten? Gar nicht. Weswegen nur wenige psychoanalytische Autoren Konzepte vorgelegt haben, die die komplexen Prozesse verständlich machen, wie Norbert Elias, Erik Homburger Erikson oder Sigmund Heinrich Foulkes.

Tilmann Moser reduziert das Subjekt des politischen Prozesses auf den oder die Bürger - deren Zahl ist unklar - und auf die Bundeskanzlerin. Der Beziehung von Bürger oder Bürgern zur Kanzlerin wird das familiale Narrativ von Mutti und Kindern zugrunde gelegt. Moser spricht von "Delegation der Verantwortung" und "politischer Regression" - mit leicht einschränkendem Tonfall: "Sie wird es schon richten, glauben ihre Anhänger mit fast kindlicher Hingabe". Drei Voraussetzungen macht Tilman Moser: 1. die (politische) Wahrnehmung der Kanzlerin als eine Mutter-Figur; 2. im so genannten kollektiven Unbewussten gibt es das archaische Bild der schützenden und versorgenden Mutter; 3. von der Mutter kommen wir nicht los. Ist das so? Wahrscheinlich nicht. Der politische Kontext ist ein anderer als der familiäre Kontext. Mami und Papi müssen draußen bleiben. Wie weit sie reinkommen, müssen wir untersuchen.  Weit reichende, unscharfe Extrapolationen kürzen die Verständnis-Versuche ab und schaffen eine Vertrautheit, die nicht existiert.