Montag, 16. September 2013

Der Talk und die Quote II

Gestern, in der A.R.D. "bei Günter Jauch": Nachbearbeitung der Resultate der bayrischen Landtagswahl im Kontext der Bundestagswahl - Subtext: welchen Einfluss hat die Mittelfinger-Geste des S.P.D.-Mannes Peer Steinbrück, der viel vor und für die Kamera tut (s. mein Blog vom 9. November 2011)? Der Mittelfinger ist der affektive Kontext, der seit Freitag vergangener Woche (an dem das SZ-Magazin mit dem Peer Steinbrück-Titel erschien), kursiert. Bei mir rockt's, sagte Peer Steinbrück vor kurzem. Tatsächlich. Der Talk bei und mit Günter Jauch war eine Rauferei; leider bekam der Journalist die Kombattanten nicht auseinander. Im Box-Sport hätte wahrscheinlich die Ring-Leitung eingegriffen und den Kampf abgebrochen. Was tat Günter Jauch? Er versuchte es im Guten, wie wir sagen, leider nicht im Bösen. Wieso eigentlich nicht? Was wäre gewesen, er wäre aufgestanden und hätte die Sendung abgebrochen? Wie frei ist Günter Jauch in seinem journalistischen Auftrag vernünftiger Information und Klärung? Die anwesenden Politikerinnen und Politiker gingen so gut wie gar nicht auf seine Fragen ein. Sie gingen aber auch nicht aufeinander ein, nur aufeinander los. Das ist zu wenig. Günter Jauch hätte die Politikerinnen und Politiker vor sich selbst schützen müssen. Ein Ping pong gegenseitiger Kränkungen. Wie wohl die Tontechniker die Schichten sich überlagernder Sätze ausgesteuert haben, hätte ich gern gewusst. Eins habe ich erfahren: vor sechs Jahren hat Ursula von der Leyen im SZ-Magazin (an derselben Stelle: Sagen Sie jetzt nichts) eine Bewegung mit dem Unterarm angedeutet, die eine ähnliche Antwort war wie die von Peer Steinbrück - allerdings elegant und hochgeschlossen realisiert.  

Welche Beschämung ist zumutbar?

Am letzten Donnerstag, dem 12. September 2013, berichtete die SZ auf ihrer ersten Seite: "Muslimische Mädchen müssen zum Schwimmunterricht". Das Leipziger Bundesverwaltungsgericht hatte einen Tag zuvor entschieden: dass muslimische Schülerinnen mit einem als Burkini verkalauerten Badeanzug "ihren religiösen Bekleidungsvorschriften gerecht werden" könnten, schreibt Johann Osel von der SZ. Er zitiert offenbar aus dem Urteil, dass das "Grundrecht der Glaubensfreiheit keinen Anspruch darauf schaffe, in der Schule 'nicht mit Verhaltensgewohnheiten Dritter konfrontiert zu werden, die außerhalb der Schule an vielen Orten beziehungsweise im Alltag verbreitet sind'". Möglicherweise liest sich das komplette Urteil anders. Aber an diesem Satz fällt der selbstgerechte Ton auf, den wir aus den Tagen alter Erziehungspraxis kennen: wenn du deine Füße unter meinen Tisch .... Zu weit gegriffen? Das Argument mit dem Alltag ist auch unscharf: niemand zwingt mich zuzusehen; was ich nicht sehen will, sehe ich nicht. Aber um das Sehen-Müssen geht es gar nicht so sehr, sondern um das erzwungene Gesehen-werden: um die Selbst-Präsentation in Gegenwart junger Männer, der sich manche muslimisch gebundene Schülerinnen nicht aussetzen möchten. Wir sind bei dem Problem der Scham.

Dazu schreibt Johan Schloemann in der SZ einen Tag später auf der zweiten Seite:
"Dieses Gefühl der Scham ist keine 'Ausübung' der Religion im engeren Sinne, schon gar keine rituelle, gottesdienstliche oder sonst wie von der religiösen Gemeinschaft vorgeschriebene und praktizierte Handlung - sondern einfach eine Begegnung des religiös erzogenen oder gestimmten Menschen mit dem säkularen Alltag". Einfach ist zu einfach. Wo gehört die Scham hin? Scham ist eines unserer zentralen affektiven Regulationssysteme, mit dem wir unsere (wahrgenommene) Handlungspraxis mit unseren tiefsten Überzeugungen regulieren. Beschämt zu werden ist eine schreckliche Erfahrung und erschüttert unser Selbst-Gefüge. Die Würde des Menschen ist unantastbar, sagt der erste Artikel unseres Grundgesetzes, sie zu achten und schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Ich dachte immer, der Schutz vor Beschämung gehört dazu.

Montag, 2. September 2013

Der Talk und die Quote

Gestern Abend fand nach und mit viel Getöse der Wettbewerb zwischen Angela Merkel und Per Steinbrück statt. Vorher und Nachher wurden mit demoskopischen Verfahren die Einschätzungen des Verlaufs und des Ausgangs verglichen. Ergebnis - großzügig ausgelegt: unentschieden. Peer Steinbrück holte auf in der Publikums-Gunst, und die Bundeskanzlerin hielt ihre Position. Sie operierte mit dem Modus der Umarmung, er mit dem Modus der Differenzierung; der Hase lief, die Igelin wartete. Das konnte sich sehen lassen; beide hielten ihr Niveau und unterschlugen nicht die Komplexität ihrer Aufgaben. Beide behandelten sich wohlwollend - kollegial. Beide warben für die res publica.

Dagegen waren die vier TV-Repräsentanten eine Katastrophe. Sie waren mit der Aufregung um ihre Sendung zufrieden. Die beiden öffentlich-rechtlichen und die beiden privat-rechtlichen Sender zapften gemeinsam an der Publikumsaufregung. Anders als Angela Merkel und Peer Steinbrück waren sie schlecht vorbereitet, häuften Klischees auf Klischees, die Komplexität der Politik waren ihnen ein Graus. Man sah den Unterschied zwischen denen, die die politische Realität von innen kannten, und denen, die sich mit einer raschen Zeitungslektüre begnügten: Fernseh-Journalismus at its worst. Dafür zahlen wir (meine Frau und ich) im Quartal zweimal € 17 und noch etwas. Wenn Fernseh-Journalisten die Kolleginnen und Kollegen von den Zeitungen abkupfern, wozu brauchen wir sie dann noch? Nur Günter Jauch hielt dagegen und wollte etwas wissen.