Dienstag, 27. Mai 2014

Nachklänge

Wenn ich mich morgens an meinen Schreibtisch setze, arbeitet die Zeitungslektüre (der SZ) in mir weiter; manchmal mehr, manchmal weniger. Heute Morgen (am 27.5.2014):
1. Streiflicht-Spott über Giovanni di Lorenzo, den Chefredakteur der Zeit, der vergangenen Sonntag
zweimal zur Wahl gegangen war: im italienischen Konsulat und in einer Hamburger Grundschule, so die SZ. In der A.R.D.-Sendung mit Günter Jauch hatte er es gestanden oder eingeräumt, wie man will. Es sei ihm nicht bewusst gewesen.
2. Ein Sozialarbeiter war vom Amtsgericht Leipzig zu einer Geldstrafe von 3600 Euro verurteilt worden wegen des Vorwurfs der fahrlässigen Tötung durch Unterlassen (S. 10). Die 26-jährige Mutter eines zweijährigen Kindes verstarb an einer Überdosis, während ihre Tochter neben ihr verdurstete.
3. Die Arbeitslosigkeit greift tief in die Lebensformen der Ausgeschlossenen ein: sie rauchen mehr, trinken mehr, sterben früher und öfter unter psychischen Krankheiten, schreibt Guido Bohsem, der Autor dieses Textes im Wirtschaftsteil (S. 17). Weiter: "Wissenschaftler des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) haben nun herausgefunden, dass auch die Gesundheit der Partner deutlich in Mitleidenschaft gezogen wird und somit die persönlichen und gesellschaftlichen Kosten höher sind als bislang gedacht".
4. Eine 17-jährige Frau hat mit einer Art Textilseil aus Gürteln, Bettlaken und Kleidern aus dem achten Stockwerk eines Hochhauses dem verordneten Hausarrest zu entgehen versucht; aus 25 Metern schlug sie auf dem Betonboden auf und verletzte sich schwer (S.10).
5. Auf der Seite Wissen (S. 16) referiert Werner Bartens eine Studie der Ärzte der Universität von Pennsylvanien, nach der pubertierende Jugendliche eine geringere Durchblutung ihrer Gehirne aufweisen, Jungen stärker als Mädchen. Der Leiter der Studie, der Psychiater Theodore Satterthwaite, wird zitiert: "Alle Eltern wissen, dass Jungen und Mädchen auf unterschiedliche Weise erwachsen werden... unsere Ergebnisse zeigen, wann die Unterschiede im Gehirn beginnen, und vielleicht können wir daraus ableiten, welche Entwicklungsschritte in welchem Alter typisch sind".
6. Der Chef der United Kingdom Independence Party (Ukip), Nigel Farage, der bislang seine großmundige Politik mit einem Pint Bitter (für die Fotografen) begleitete, trinkt nach seinem Wahlerfolg aus einem Pappbecher - Tee (S.3).
7. Die Front Nationale ist mit 25 Prozent als stärkste französische Partei aus den Europawahlen hervorgegangen (S. 7).
8. Das Interview mit der nigerianische Schriftstellerin Lola Shoneyin, das Stefan Klein mit ihr führte (S. 13). "Wie eine riesige Dose voller Würmer", wird sie in der Überschrift zitiert. Die Unter-Überschrift: "Die Schriftstellerin Lola Shoneyin lebte in England. Und in Sicherheit. Dann kehrte sie nach Nigeria zurück. Ein Gespräch über ein Land, in dem 300 Mädchen entführt werden - und nichts passiert".

Disparate Nachrichten zu unterschiedlichen Kontexten zu unserer Lebenswirklichkeit, unterschiedlich (hier und da) in der SZ präsentiert und von mir in (in meiner Orientierungssuche) als ein erdrückendes Narrativ gelesen, das vom alltäglichen, verrückten (moralischen, psychosozialen, wissenschaftlichen und politischen) Elend handelt. Das globale Dorf ist eine hübsche Idee, aber vertreibt nicht das Gefühl von enormer Hilflosigkeit.


Mittwoch, 21. Mai 2014

Politik-Lektüre II

Am Samstag, dem 17. Mai 2014, schrieb Günther Nonnenmacher in der FAZ den Kommentar "Erdogans Cäsarenwahn" (Nr. 114, S.1). Was ist ein Cäsarenwahn ? Günther Nonnenmacher: "Das Wort vom 'Cäsarenwahn' ist geprägt worden, um die Allmachtphantasien römischer Imperatoren zu beschreiben, die, nur noch umgeben von verängstigten Hofschranzen und Speichelleckern, jeglichen Kontakt mit der wirklichen Welt verloren hatten".

Erstaunlich, wie gut Günther Nonnenmacher den türkischen Ministerpräsidenten kennt und wie nah er ihm ist und wie gut er Türkisch spricht. Denn über die eigenen Fantasien spricht man im allgemeinen nur ungern. Cäsarenwahn: ein Klischee erzeugt ein weiteres, abfälliges Klischee. Der Autor verbreitet die Illusion, etwas vom türkischen Ministerpräsidenten verstanden zu haben. Wie soll man das nun nennen?  

Freitag, 16. Mai 2014

Angst-Inflation

"Fürchtet euch nicht", lautet der Titel des Textes von Christian Weber in der heutigen SZ (16.5.2014, S. 11, Nr. 112), der Untertitel: "Neue Empfehlungen zur Behandlungen von Angststörungen". Was man den beiden Überschriften entnehmen kann: Christian Weber macht keinen Unterschied zwischen Angst und Furcht; er kennt die phänomenologische Differenz nicht, die darin besteht, dass bei der Furcht die Quelle der Gefahr bekannt ist, bei der Angst nicht - weshalb man jemanden, der Angst verspürt, nicht zu fragen braucht: Wovor?

Die ersten drei Sätze des Textes:
"Eigentlich ist die Angst eine sinnvolle Sache - schließlich kann sie einem das Leben retten. Doch gar nicht selten entgleist diese Reaktion. Betroffene habe eine übertriebene oder grundlose Angst, manchmal wissen sie gar nicht wovor".

Eine übertriebene oder gar grundlose Angst gibt es nicht; wer Angst empfindet, hat einen Grund; er kennt ihn nicht. Auf gut Kölsch heißt das: von nix kütt nix. Übertrieben oder grundlos impliziert eine Zuschreibung von realer Normalität und irrealer Abweichung. Leider hat Sigmund Freud mit seiner Unterscheidung von Real-Angst und neurotischer Angst viel Verwirrung gestiftet. Natürlich ist seine neurotische Angst auch real; das hätte er nicht bestritten. Die Unterscheidung von Angst und Furcht hätte ihm geholfen. Er versuchte zu unterscheiden mit seinem Konzept der Signal-Angst zwischen einer äußeren und einer inneren Gefahr - und natürlich ist die innere Gefahr deshalb schrecklich, weil sie als ein vages Gefühl von milder bis äußerster Bedrohtheit  eher überwältigt (was nicht ausschließt, dass eine äußere Gefahr ebenfalls überwältigen kann). Freud verhedderte sich in seiner Metaphysik einer Innen-Außen-Unterscheidung; denn wie man eine so genannte äußere Gefahr einschätzt und ihr entgegentritt, hängt von der eigenen lebensgeschichtlich gewachsenen Disposition ab, seelische Not regulieren zu können. Innen und Außen stellen (bestenfalls) eine Metapher seelischer Bewegungen dar; sie sind eine Art kommunikativer Kurzschrift.

Angst ist, wenn wir die phänomenologische Philosophie ernst nehmen, eine komplexe Regulationsform unserer existenziellen Bewegungen. Angst verweist auf nicht gelungene, nicht ausreichend regulierte Lebenskontexte. Sigmund Freud hatte diesen Gedanken für das Gelingen und Misslingen von Träumen systematisiert: der Albtraum ist ein gescheitertes Narrativ, das unsere Lebensnöte nicht zu gestalten imstande ist, weswegen wir alarmiert aufwachen. Was wir nachts leisten müssen, müssen wir auch am Tage können. Die Idee unbewusster Lebenskontexte ist, dass sie ständig mitlaufen - wie auch immer funktional oder dysfunktional reguliert.

Was heißt das für die Psychotherapie so genannter Angststörungen? Die ängstigenden Lebenskontexte müssen in einer therapeutischen Begegnung decodiert, identifiziert und durchgesprochen  werden. Natürlich soll man zuerst mit Psychopharmaka die Not erträglich halten und das Leid der schrecklichen Alarmiertheit lindern. Aber (vermeintliche) Psychotherapien des Schulterklopfens - wird schon, gib dir einen Ruck - oder der so genannten Exposition - ich nehme dich an die Hand und wir gehen durch die ängstigende Situation - oder des Sortierens von Angemessen oder Unangemessen - du quälst dich mit zu vielen Selbst-Zweifeln -  helfen wenig oder gar nicht (langfristig), weil die relevanten existenziellen Lebenskontexte nicht durchgesprochen und geklärt werden, sondern im Kontakt mit dem Verhaltenstherapeuten (vorläufig) beruhigt werden. Weshalb sich wie bei den Vorsorge-Untersuchungen wunderbare, weil ertragreiche Schleifen langfristiger Visiten ergeben. Beim Schlafen - in der Nacht ist der Mensch nicht gern alleine, heißt es im Schlager - sind wir allein und uns ausgeliefert und müssen darauf vertrauen, dass unser Traum uns durch den Schlaf schaukelt. Im Schlaf sind wir mit unseren existenziellen Nöten allein. Am Tag auch. Es gibt keinen einfachen Umgang mit dem eigenen Leben. Die Behandlung von Angststörungen ist die Formel für ein, sagen wir, die Not der Angst beschwichtigendes Versprechen.

Donnerstag, 15. Mai 2014

Talkshow-Politik

Die englische Vokabel talkshow lässt sich nicht übersetzen. Das ist mir gestern noch einmal klar geworden, als ich in der A.R.D. die Sendung Anne Will schaute - nach den Tagesthemen um 22.45 Uhr. Anne Will heißt die Sendung, die Protagonistin der Sendung und die Geschäftsführerin der Firma  Will Media GmbH, die die Sendung in Berlin herstellt, mit 19 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Let's talk, sagt man im Amerikanischen (normalerweise), wenn man etwas Ernstes besprechen muss; die show dagegen zwinkert einem zu: so ernst ist es nicht gemeint - zumindest nicht für das Publikum, wohl für die oder den, die oder den die show packt zum Vergnügen der Unbeteiligten. Bei uns ist es besonders ernst gemeint: für die Beteiligten und die weniger Beteiligten, die im Studio zuschauen, während sich das Fernseh-Publikum vor dem Gerät zurücklehnen kann.

Das Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten war das explizite Thema - das, so Anne Will, "unser Leben erheblich verändern könnte zum Guten oder zum Schlechten". Sie wollte, versprach sie, "ein bisschen genauer hinschauen". Es wurde ein bisschen weniger als ein bisschen. Zuerst machte sie Stimmung: "Wehe, wenn die Chlor-Hähnchen über den Atlantik schwappen". Dann fragte sie die Positionen ab: Martin Riechenberger, der neulich in der SZ zu seiner Arbeit als Chef der erfolgreichen U.S.-Firma (die Geräte für die Landwirtschaft herstellt wie z.B. Trecker) befragt worden war, votierte für ein Abwägen der Vor- und Nachteile; Pia Eberhard betonte die Nachteile; Thomas Strobel, stellvertretender Vorsitzender der CDU, betonte die Vorteile;  Bärbel Höhn kritisierte die Aufnahme der Verhandlungen und warnte vor weiteren Verhandlungen; Martin Schulz versprach, sich von den Nordamerikanern nicht über den Tisch ziehen zu lassen. Sie waren sich einig in der Notwendigkeit, die vernünftigen europäischen Standards zu behaupten. Sie waren sich uneinig im Affekt der Besorgnis. Diskutable Daten wurden nicht erörtert. Pia Eberhard trug Daten (zur Preis- und Lohnentwicklung in Südamerika nach einem Handelsabkommen) vor, die Martin Riechenberger bestritt. Impasse.

Etwas fand ich (im Nachhinein) seltsam: die Intransparenz der Strukturen und damit die Politik dieser Sendung. Wenn wir über Big Data und deren Machtverhältnisse alarmiert sind, wieso gehen die Machtverhältnisse vor unseren Augen wie selbstverständlich durch?  1. Ein Gespräch wird versprochen, aber ein Forum inszeniert. Wie will man mit einem Publikum im Rücken, das sofort mit seinem Klatschen Partei ergreift, einen klaren Gedanken fassen? Ein Gespräch als eine Interaktion des Gebens und Nehmens sollte einen Raum für Nachdenklichkeit zur Verfügung stellen, aber keinen Prüfstand bedeuten. Mit anderen Worten: diese Sendung war am talk desinteressiert. 2. Wie die Redaktion und der Sender zu diesem Thema kamen oder sich darauf verständigten, war unklar. 3. Nach welchen Gesichtspunkten Pia Eberhard, Bärbel Höhn, Martin Riechenberger, Martin Schulz und Thomas Strobel ausgesucht und eingeladen wurden, war unklar. 4. Unklar war, wer eingeladen wurde, aber absagte. 5. Unklar war, weshalb Anne Will von Anfang an die Position des aversiven Affekts einnahm. Wehe, wenn ich auf das Ende sehe, das mit Max und Moritz ging - die übrigens der Witwe Bolte die Hähnchen vom Herd stahlen... oder waren es Hühnchen? Der Tonfall des Schwappens schwappte durch die Sendung. Es ging um den Angst-Affekt. So betrieb Anne Will ihr Geschäft. Es ging nicht ums Abwägen und Klären von Argumenten, sondern ums Einstimmen in diesen kursierenden Affekt. Diese show - keine Rederunde oder  Gesprächsrunde - diente der Angst-Regulation und der Selbst-Vergewisserung im Dienste der Will Media GmbH.

     

Mittwoch, 14. Mai 2014

Politik-Lektüre

Am vergangenen Freitag, dem 9. Mai 2014, veröffentlichten Michael Bauchmüler  und Christoph Hickmann auf der Seite Drei der SZ (Nr. 106) ihren langen Text "Wer wird denn gleich in die Luft gehen? Sigmar Gabriel kann sich plötzlich beherrschen. Über einen Mann, der mit aller Macht mehrheitsfähig sein will - und damit kanzlerfähig". Der Text ging mir nach; er beschäftigte mich ein paar Tage.

Sigmar Gabriel, Bundesminister für Wirtschaft und Umwelt, überrascht die Autoren: er wäre anders als sonst. Im Kreis seiner internationalen Kollegen plädiert er - im Kontext der Frage der Sanktionen gegenüber Russland - für Nachdenklichkeit. Er pflege, wie sie schreiben, die Selbstbeherrschung. Im Kabinett wurde seine Geduld beobachtet. Er realisiere, bilanzieren sie, eine geräuschlose Politik. Aber, so geben sie zu bedenken, "bleibt die Sache mit dem Image" - Gabriels Bild vom Halodri und vom politischen Gebrauchtwagenhändler. Das Bild, folgern sie, wird an ihm kleben bleiben; das kriegt er nicht weg; seine Absicht, sich als kanzlerfähig zu bewähren, wird er schwerlich realisieren.


Michael Buchmüller und Christoph Hickmann legten ihre Lektüre politischer Prozesse vor. Geräuschlose Politik ist die Formel ihrer Selbst-Beschreibung als ausgeschlossene Beobachter politischer Prozesse. Wir kriegen nichts mit, lautet der Subtext ihrer klagenden Bedenken. Wie kompensierten sie ihren Nachteil? 1. Durch Personalisierung: der politische Prozess wurde in einem Protagonisten verdichtet. 2. Die öffentliche Präsentation des Protagonisten wurde ausgewertet und psychologisiert. 3. Das öffentliche Bild der Selbst-Präsentation wurde als (inneres) Strukturmerkmal verstanden und extrapoliert. Einmal  Gebrauchtwagenhändler, bleibt man wahrscheinlich Gebrauchtwagenhändler. 4. Die Macht, die das öffentliche Amt bereit stellt, galt als das entscheidende, vermutete Motiv. Aber: 1. Die Psychologie des öffentlichen Bildes enthält eine naive Erkenntnistheorie, nach der die Auswertung der Selbst-Präsentation einen raschen Einblick in die innere Welt des Beobachteten gestattet; sie folgt der Prämisse und dem Erfassungstrend, man könnte seelische Bewegungen sehen (mit dem bloßen Auge oder mit irgendwelchen Apparaturen; beliebt ist die Röhre mit dem komplizierten Namen). 2. Der Fokus auf den vermuteten Protagonisten politischer Prozesse blendet die Prozesse, deren Substanz und deren Strukturen (Beziehungsrealiäten, Gruppierungen, Hierarchien, Funktionen, Abläufe) aus.

Mittwoch, 7. Mai 2014

"Schnee von gestern" (Farewell, Herr Schwarz)

Auf dem Israelischen Workshop Away From Auschwitz (in Nahsholim) sah ich vor ein paar Tagen
Yael Reuvenys Film Farewell, Herr Schwarz. Yael Reuveny beschreibt in ihrem Dokumentarfilm ihre  Öffnungsbewegung, die eine vorsichtige Integration und eine skeptische Annäherung ihrer  familiären Linien etabliert -  Farewell, Herr Schwarz ist ein unglaublich bewegender und rührender Film über die erschütternde Komplexität der Lebensbewegungen und Lebensverhältnisse, die die nationalsozialistische Mord-Orgie bewirkte.

Yael Reuvenys Großmutter Michla und ihr Onkel Feiv'ke überlebten als die einzigen Mitglieder ihrer Familie. Sie hatten sich verabredet, sich nach dem Krieg am Bahnhof im polnischen Lodz zu treffen. Aber sie trafen sich nicht: die Großmutter suchte den Treffpunkt nicht auf. Die Geschwister gingen, ohne voneinander zu wissen, eigene Wege. Michla richtete ihr Leben in Tel Aviv ein; Feiv'kes Existenz war unbekannt.

Yael Reuveny, so erzählt ihr Film,  reiste in die Bundesrepublik und lebte in Berlin auf; sie riskierte, könnte man sagen, einen Ausbruch. Ihre Eltern verstanden sie nicht und beargwöhnten den Ortswechsel. Was willst du in Deutschland?, fragte sie ihr Vater. Ihre Mutter kündigte an, Yael nicht in Berlin zu besuchen. Yael ging, ohne es zu wissen, ihren Weg der  Integration. Sie folgte den Spuren ihres Onkels. Sie fand heraus: Feiv'ke lebte mit einer neuen Identität (als Peter Schwarz) und eigener Familie im ostdeutschen Schlieben, wo er zuvor in einer Fabrik die nationalsozialistische Hardware des Krieges herzustellen hatte; dort lebte er vermutlich mit seinen ehemaligen Aufsehern zusammen. Ihre Großmutter hätte ihrem Bruder diesen Verrat nicht verziehen. Yael folgte nicht dem unausgesprochenen Auftrag der Großmutter nach deutlicher Trennung. Sie suchte Schlieben auf - wo die Baracken des Terrors umgebaut worden waren zu Wohnhäusern der Nachkriegsnot. Sie fand und sprach die Kinder ihres Onkels. Sie fand und sprach die Freunde ihres Onkels. Aber gehörten die neuen fremden ostdeutschen Verwandten zu ihrer Familie? Für ihren Cousin Uwe war das keine Frage; er wollte dazu gehören. Geht das?

Es geht - etwas. Yaels Eltern besuchten sie in Berlin. Auf dem in Tel Aviv aufgenommen Foto (mit dem der Film zu Ende geht) stand Uwes Sohn, der jüdische  Theologie studierte und sich damit der Familie seines Großvaters annäherte, in der letzte Reihe der Verwandten und Freunde. Eine rührselige Umarmung gibt es in Yael Reuvenys Film nicht; die Fremdheit bleibt; die Trennungslinie zwischen jüdischer und deutscher Verwandtschaft ist fein, aber scharf gezogen; die Integration hat eine Qualität der Distanz und der Reserviertheit. Peter Schwarz ist zurückgekehrt als Peter Feiv'ke Schwarz.

Montag, 5. Mai 2014

Bundesdeutsches Armutszeugnis

"L-e-s-e-n  l-e-r-n-en", lautet die Überschrift dieser Nachricht:
"Fast jeder fünfte Erwachsene gilt mehr oder weniger als Alphabet. Nun sollen es die Volkshochschulen richten - doch so einfach funktioniert das nicht" (SZ vom 3./4.5.2014, S. 6, Nr. 191). Diese Nachricht ist eine Katastrophe.

Was sind "politisch motivierte Gewalttaten" in der Bundesrepublik?

Die Nachricht in derAusgabe der  SZ vom 30.4./1.5.2014 (S. 5, Nr. 99):
"Immer brutaler. Politisch motivierte Gewalttaten in Deutschland nehmen stark zu - von links und rechts". Welche Gewalttaten sind gemeint? "Angriffe gegen Polizisten und Rettungshelfer, aber auch gegen Ausländer". Der erste Typ von Aggression wird als links kategorisiert, der zweite als rechts. Was ist daran links und rechts? Das ist unklar. Mit Ernst Jandl könnte man auch sagen: lechts und rinks. Was ist daran politisch motiviert? Das ist unklar. Unklar ist das Konzept der Motivation. Eine Richtung motiviert nicht, sondern eine Intention. In dem Fall der strafrechtlich relevanten Gewalttaten: ein Hass. Was ist an ihm - für die Bundesrepublik gesehen - politisch? Gar nichts (s. meinen Blog vom 11.1.2012). Ein Hass fantasiert oder betreibt die Vernichtung eines Objekts. Wie es gefunden wurde und wie es festgehalten wird in den Vergeltungsfantasien, wissen wir nicht. Ein Hass beruhigt sich mit Projektionen. Man muss die Projektionen nicht wörtlich nehmen, sondern zu verstehen versuchen.

"Politische Gewalt muss geächtet werden", sagt unser Innenminister Thomas des Maizière. Nein, sie muss nicht mit dem Adjektiv politisch rationalisiert (und geadelt), sondern verstanden werden. "Worte, Worte, nichts als Worte", überschrieb Heribert Prantl in der SZ (26./27.4.2014, S. 4, Nr. 96) seinen Kommentar Gesetz gegen Hasskriminalität. Doppelt gemoppelt, hält besser, sagt man: die Motive zur Kriminalität sind vielfältig, der Hass dürfte das zentrale Motiv sein. Aber jetzt beabsichtigt der Bundesjustizminister mit seinem Entwurf zur Strafzumessung: dass die Untersuchung der "rassistische(n), fremdenfeindliche(n) oder sonstige(n) menschenverachtende(n)" Absichten der Beschuldigten explizit betrieben werden soll für die Urteilsfindung. Der Rahmen der Motiv-Exploration soll erweitert werden; es besteht eher die Gefahr, dass die angemessene Exploration des Hasses abgekürzt wird zugunsten vertrauter Verständnis-Klischees, die die Rationalisierungen und Kostümierungen des Hasses für bare Münze nehmen.

Die Kostümierung des Hasses

Am letzten Dienstag, den 29.4.2014, zogen Annette Ramelsberger und Tanjev Schultz in der SZ (Nr. 98, S.2) Bilanz: "Das Mord-Mosaik". Die Unter-Überschrift: "Nur in kleinen Schritten geht der Prozess voran. Weil die Hauptangeklagte so beharrlich schweigt, muss die Verbrechensserie des NSU mühevoll rekonstruiert werden. Erst dann kann ein Urteil fallen". Die Beschuldigte Beate Zschäpe schweigt; die Tatumstände müssen indirekt (durch Zeugenaussagen und Indizien) erschlossen und rekonstruiert werden, um die Vorwürfe zu belegen. Das stellt sich in diesem Verfahren als besonders schwierig heraus, weil nicht nur die Beschuldigte auf ihrem Recht besteht, sondern auch die anderen relevanten Zeugen, die angesichts ausstehender Verfahren sich nicht belasten und deshalb keine genaue Auskunft geben müssen. Diese Komplikationen beschreibt der SZ-Text ordentlich. Allerdings finde ich den selbstverständlichen Gebrauch des Akronyms NSU seltsam: von ihm und vom NSU-Prozess ist mehrfach die Rede.

Mit NSU sind nicht die seit langem vom Markt verschwundenen Fahrzeuge aus Neckarsulm gemeint (die drei Buchstaben dieses Orts bildeten dieses Akronym), sondern der so genannte nationalsozialistische Untergrund. Ich wüsste gern, wer diesen Ausdruck in die Welt gesetzt hat und wie es dazu kam, dass sich die drei Buchstaben in unserer öffentlichen Diskussion festsetzten. Es ist mir entgangen.  Wir wissen: damit sind Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos gemeint. Die waren in Erfurt-Winzerla bekannt; die beiden Uwe genossen Anfang dieses Jahrhunderts offenbar in selbst geschneiderten Uniformen der alten Herren von der Schutzstaffel ihren Auftritt in Schwarz als eine Art elektrisierender Provokation, mit der sie ihren Hass zur Schau stellten.

Heute wissen wir: ihr Hass war mörderisch. Wem galt er? An wen war er adressiert? Das wissen wir nicht. Wir kennen nur die Opfer seiner Projektion (s. mein Blog vom 11.1.2012 und vom 7.11.2012 ). Der Nationalsozialismus der Jahre 1933 - 1945 existiert nicht mehr. Es leben allerdings weiter: die Vergnügen der Erinnerung an seine Hass-Rhetorik, an seine Macht-Auftritte, vor allem in Schwarz (schwarze Karossen, schwarzes Tuch und schwarzes Leder), an seine Mord-Orgie. Die Artikulation oder Inszenierung der Bilder dieser Hass-Rhetorik ist verboten; weshalb sie außerhalb unserer Öffentlichkeiten gepflegt wurde und möglicherweise gepflegt wird. Müssen wir deshalb einen nationalsozialistischen Untergrund vermuten? Das Kostüm gibt keine Auskunft über die innere Welt dieses Hasses; wir kennen seine Identifizierungen nicht. Die Formel suggeriert ein Verständnis. Wir wissen nicht, welche Gemeinsamkeiten diese Gruppe verband. Ihr Hass ist unverstanden. Wir kennen nur dessen Kostümierung und die von den Anstrengungen der Ermittlungsbehörden ausgeschlossenen Opfer. Auf seltsame Weise wird der Nationalsozialismus am Leben gehalten. Das macht nicht klug, sondern blind.