Donnerstag, 31. Juli 2014

Monsieur Claudel und seine Schwiegersöhne

Es gibt wieder eine französische Filmkomödie - es gibt wieder etwas zu lachen: Qu'est-ce qu'on fait au bon dieu? (Regie: Philippe de Chaveron; Buch: Philippe de Chaveron und Guy Laurent).  Was haben wir dem lieben Gott bloß angetan?, könnte man den Originaltitel übersetzen. Der deutsche Verleiher brachte den Film mit dem Titel Monsieur Claude und seine Töchter in die Kinos. Die vier Töchter heiraten, wie das ja regelmäßig vorkommt, für die Eltern - Monsieur Claude ist Notar auf dem Land - die Falschen. Hier sind die Schwiegersöhne afrikanischer, arabischer, chinesischer und jüdischer Herkunft. Die Eltern sind entsetzt und fügen sich mit Anstrengung. Die gegenseitigen Klischees oder Vorurteile werden aufgetischt und verursachen einige Empörung und Hitze, aber in der zweiten Hälfte singen drei Schwiegersöhne - der vierte ist noch nicht aufgetaucht - die Marseillaise mit Inbrunst und überraschen den sprachlosen Schwiegervater, der so geneigt gestimmt wird, den letzten Schwiegersohn aufzunehmen; mit dessen Vater streitet er, betrinkt er sich, gerät ins Gefängnis und kommt wieder raus -  so, wie wir das aus dem amerikanischen Kino kennen.

Den Film fand ich entwaffend; als Vater einer Tochter und als Schwiegersohn erkannte ich mich schnell wieder. Es werden Männer-Geschichten erzählt; Männer-Freundschaften, erfahren wir, sind am leichtesten zu regeln; Männer-Umarmungen sind immer Klasse. Die Frauen schauen zuerst konsterniert zu, dann kommen sie auch in Bewegung. Die Kluft existiert; sie wird, wie in Hollywood-Filmen mit den Hochzeits-happy endings (auf den letzten Metern), gekittet. Ich wurde aufgeheitert entlassen.

Alles Lug und Trug? Hat die Bewusstseins- oder Vergnügungsindustrie wieder triumphiert? Werden die psychosozialen Konflikte Frankreichs verniedlicht - in der SZ vom 23.7.2014 berichtete Stefan Ulrich: "Furcht vor Pogromen. In Frankreich schlagen Demonstrationen gegen Israel immer öfter in antisemitische Krawalle um. Die Regierung reagiert mit scharfer Kritik und Verboten"? Die Kinoautoren machen es einem nicht schwer;  der Hass von Ressentiments kommt nicht vor; es wird nicht ernst; sie spielen. Ist das schlimm? Klar, Qu'est-ce qu'on fait au bon dieu? ist ein Märchen. So wie die beiden anderen populären Komödien, deren Protagonisten sich in der Normandie und in Paris (in einem Maserati) tummelten. Ziemlich beste Freunde (Les Untouchables) las ich als eine Art Remake des Kurt Hoffmann-Films Drei Männer im Schnee nach der Vorlage von Erich Kästner, die er 1934 (als seine ironische Kompromissleistung) noch in der Schweiz publizieren konnte. Die Männer-Geschichten leben von der Sehnsucht nach dem guten (institutionellen) Vater. Im Kino kann man ihn leichter finden als in seinem Lebensalltag. Diese Differenz bleibt; der Kinogänger, vermute ich, vergisst sie nicht, wenn er das Kino verlässt.   



  

It's easy: wie wir unsere nationalsozialistische Geschichte abschütteln können

"Besetzt, beschützt, bevormundet", mit dieser Alliteration einer (abnehmenden) Passivität verdichtet der Historiker Georg Schöllgen die Geschichte der bundesdeutschen Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten von Amerika. "Für die deutsch-amerikanische Freundschaft hat der Kalte Krieg nie aufgehört" ist der Untertitel seines Textes (SZ vom 29.7.2014, S. 13, Nr. 172). Für einen Historiker argumentiert Georg Schöllgen erstaunlich ahistorisch. Die Geschichte der Bundesrepublik lässt er mit dem 12. Mai 1949 beginnen: mit der von der sowjetischen Regierung zugestandenen Aufhebung der Isolation West-Berlins. Danach hatten "die Westmächte einen Verbündeten", schreibt er, "es war von Anfang an eine ungleiche Partnerschaft. Die Amerikaner gaben die Richtung vor. Die Deutschen folgten ohne Wenn und Aber". Das Stichwort ist die ungleiche Partnerschaft. Es kommt so selbstverständlich daher, aber es klingt ziemlich rührselig. Wann ist eine Partnerschaft gleich? Gibt es das? Im besten Fall haben die Partner ein gleiches oder ähnliches Interesse, aber ihre Motive und ihre Ausgangslagen sind verschieden. Die Bundesrepublik begann als ein zerschlagenes, zerrissenes Land, dessen Regierung (nach innen) eine Rhetorik der Beschwichtigung und (nach außen) eine Politik der Umarmung verfolgte - Konrad Adenauer war der Protagonist der Freundschaft in einer Zeit, als ein Teil der westdeutschen Öffentlichkeit penibel und empört Anzeichen einer (internationalen) Deutschfeinlichkeit aufspürte.

"Mit ihrer Präsenz und ihrer Nukleardoktrin garantierten die Amerikaner alles", so Georg Schöllgen, "was den Deutschen im Westen des geteilten Landes lieb und teuer war: ihre Sicherheit und ihre Freiheit, ihre Währung und ihren Wohlstand. Der Preis, den sie dafür zahlten, war hoch: Die Deutschen wurden entmündigt". Ist Entmündigung die richtige Beschreibung für den Prozess der prekären Balancierung des bundesdeutschen Selbstgefühls? Für den Prozess der Integration - so dass man sich wieder ins Ausland zu reisen traute? Für den tatsächlichen Preis, den wir zahlten? Georg Schöllgen hat unsere die verständlichen Dimensionen von Schuld und Verantwortung überschreitende Last der Beschämung angesichts der nationalsozialistischen mörderischen Orgie nicht im Blick; er spart sie aus. "Denn der Grund für den desaströsen Zustand des deutsch-amerikanischen Verhältnisses", sagt er, "ist nicht in der politischen Wirklichkeit, sondern in der mentalen Befindlichkeit der Beteiligten zu suchen. Solange die Deutschen in der Rolle des Mündels verharren, haben die Amerikaner keine Veranlassung, ihre Besatzermentalität abzulegen. Umgekehrt spricht einiges dafür, dass ein mit angemessenem Selbstbewusstsein auftretender deutscher Partner auch für die USA die attraktivere Alternative ist. Für die Nachbarn, die laut über eine europäische Führungsrolle nachdenken, gilt das ohnehin".

Das mentale Problem ist, wie wir immer wieder in Sportsendungen hören, von Psychologen vergleichsweise leicht zu lösen. Man muss sich nur richtig zusammenreißen, Selbstvertrauen ausstrahlen und seine mit zusammengepressten Lippen kommunizierte Körpersprache sprechen lassen.  Brust raus und Kopf hoch! So einfach ist es nicht. Was wir zur Zeit erleben, ist die Ernüchterung der Illusion der bundesdeutschen Selbst-Beruhigung. Unsere Geschichte ist nicht vergessen und nicht
verschwunden. Sie gehört zu unserer politischen wie psychosozialen Wirklichkeit.

Mittwoch, 30. Juli 2014

Politik-Lektüre IV

"Zum ewigen Unfrieden" überschrieb Stefan Ulrich seinen Kommentar in der SZ (S. 4, 19./20.7.2014; Nr. 164) zur gegenwärtigen beunruhigenden Lage: die Idee des ersten Bush-Präsidenten der Vereinigten Staaten, 1990 kommuniziert, von einer "Welt, die anders ist, als die, die wir bisher kannten", eine Welt des Rechts, die die Herrschaft des Dschungel ersetzen würde, habe sich nicht realisiert. Ewiger Krieg statt ewiger Frieden, lautet Ulrichs Beschreibung unserer Gegenwart. "Wie konnte", fragt er, "das Projekt des Präsidenten Bush scheitern?" Abgesehen davon, dass er den damaligen Präsident Bush idolisiert, wirkt seine jetzt enttäuschte Erwartung blauäugig.

Stefan Ulrich schreibt: "Der alte Bush hatte darauf vertraut, die Globalmacht USA werden mit ihren Verbündeten die Herrschaft des Rechts und der Vernunft durchsetzen, gestützt auf internationale Organisationen wie die Vereinten Nationen. Stattdessen wurden die USA immer schwächer. Bushs Nachfolger Barack Obama wählt häufig die Rolle des Zuschauers. Die UN haben dramatisch an Bedeutung verloren. Die Europäische Union ist zwischen Schuldenmachern und Sparern, Putin-Verstehern und Putin-Fürchtern, EU-Freunden und EU-Verächtern gespalten. Sie schreckt in ihrer derzeitigen Verfassung niemanden von dem Einsatz von Gewalt ab".

Das ist eine schlichte Auflistung von Polaritäten. Ein Beispiel will ich herausgreifen: Bush handelte, Obama schaut zu. Ich gehe davon aus, dass Stefan Ulrich bislang den nordamerikanischen Präsidenten noch nicht ausführlich zu seinem Arbeitsalltag befragt hat. Der Zuschauer ist das Bild des Abwartens, Zögerns, Nachdenkens und Aufschieben von Entscheidungen. Oder, wie Adam Gopnik in seinem Blog für den New Yorker schrieb (31.7.2014), für den Mann, der sich vor einer handfesten Auseinandersetzung drückt (Adam Gopnik: No More Mr. Tough Guy).  Ein nachdenklicher, geduldig überlegender Staatschef wäre übrigens nicht schlecht. Wir erleben eine Staatschefin, die hier und da blitzartig in eine andere Richtung lenkt - und offenbar nur sehr kurz nachgedacht hat. Gerade schrieb Jeffrey Frank in seinem Blog für  The New Yorker (17.7.2014) über Obama's Unwritten History, weil Obama Kriege nicht führen und cruise missiles nicht abschießen ließ, weshalb eine militärische Geschichte bislang nicht geschrieben wurde. "But unwritten history", so Jeffrey Frank, "may turn out to be Obama's great achievement".

Drei Aspekte fallen mir auf: Stefan Ulrichs Unterschätzung der (nur zu ahnenden) ungeheuren Komplexität unserer internationalen Wirklichkeit, seine Geringschätzung geduldiger (interaktiver) Diplomatie und seine Konzeptionslosigkeit hinsichtlich der Wahrnehmung und der (vielleicht) möglichen Gestaltung der Wirklichkeit - bei einem Liebäugeln mit einer militärischen Intervention. Hinsichtlich einer möglichen erneuten, militärischen Intervention der U.S.A. im Irak schrieb Jessica T. Mathews in The New York Review of Books ( vom 14.8.2014, S. 4, Heft 13) über die "Irak-Illusionen" (vermeintlicher) überschaubarer Wirklichkeiten:
"ISIS to begin, is only one of an almost uncountable mélange of Sunni militant groups. Besides ISIS, the Sunni insurgency that has risen up against the government of Nouri al-Maliki includes another jihadi group, Ansar al-Islam (Supporters of Islam), as well as the Military Council of the Tribes of Iraq, comprising as many as eighty tribes, and the Army of the Men of the Naqshbandi Order, a group that claims to have Shiite and Kurdish members and certainly includes many Sunni Baathists once loyal to Saddam Hussein". Was schlägt sie vor? Eine federale Staatsform. Die lässt sich aber nicht erzwingen; die muss ausgehandelt werden - in vielen Jahren. Das aber setzt eine präzise Kenntnis, Geduld und interaktives Geschick voraus. Eine schnelle, einfache Lösung gibt es - wie in jedem Leben - nicht. 

Sonntag, 13. Juli 2014

Kultur-Befürchtungen

Die Digitalität wühlt sich in unseren Alltag. Jetzt sogar ins so genannte Konsumenten-Verhalten - Frage: wie lange wird ein bestimmtes Buch gelesen?

"Die berechnete Erzählung" lautet der Titel des Textes von Johannes Boie im Feuilleton der SZ (12./13.7.2014, Nr. 158, S. 12) dazu. Der erläuternde Untertitel: "Texte, Musik und Filme, die viel gekauft werden, werden bei Weitem nicht immer zu Ende gelesen, gehört oder gesehen. Die digitale Technik zeigt exakter denn je, welche Werke wirklich beliebt sind. Es wird die Produktion verändern".
Jordan Ellenberg, Mathematiker und Kolummnist, hat aus den Markierungen, die Leser in den E-Books  anlegten, herausgerechnet, wie weit die Texte gelesen wurden, und daraus dann eine Art Liste der kaum oder wenig zu Ende gelesenen Bücher erstellt. Das Verfahren möchte ich hier (in der Eile) nicht vorstellen; ob es vernünftig ist, vermag ich auf die Schnelle nicht zu sagen. Jedenfalls - was wir doch schon längst wussten -: Bücher werden häufig gar nicht zu Ende gelesen; das gleiche gilt für andere Kultur-Produktionen.

Was folgt daraus? Für Johannes Boie sofort die apokalyptische Version - beispielsweise könnte aus dem so ermittelten Lese-Verhalten "eine große berechnete Erzählung entstehen". Die Folge: "Die wahren Stars werden die diejenigen sein, die die Zahlen der Maschinen, die den Erfolg und den Misserfolg von Produkten dokumentieren, umsetzen können in ein Werk, das genossen wird. Und zwar vom Anfang bis zum Ende".

Nein, das nenne ich eine wilde Extrapolation. Zuerst bewahrheitet sich Ludwig Marcuses Einsicht, dass nicht relevant sei, was einer liest, sondern, was ihn nicht langweilt. Wir kämen zu weniger Kultur-Heuchelei in vielerlei Hinsicht - bis zu jenem vermeintlichen Ausweis von wissenschaftlichem Vorgehen, das sich in einer Bibliografie von hunderten von Titeln dokumentiert, bei der man sich immer fragen kann: wie hat der Autor das alles gelesen? Zweitens: den unbekannten Publikumsgeschmack herauszufinden versuchen die, die Kultur-Produkte auf den Markt bringen, schon seit langem. Wie man weiß: es geht nicht. Das Problem ist: der so genannte Geschmack bildet sich erst in der Auseinandersetzung mit dem jeweiligen neuen Text,  Song oder  Film immer wieder aufs Neue. Drittens: der moderne, ständig wiederholte Fehl-Schluss, vom ermittelten Verhalten auf die subjektive Innenseite zu schließen. Viertens: das Vergnügen der mit der Apokalypse Geschäfte Treibenden -  wozu auch der verstorbene Herausgeber der FAZ Frank Schirrmacher gehörte - , die Zukunft schwarz zu malen, wir könnten dank der digitalen Technik komplett ausgerechnet werden in unseren Sehnsüchten, Fantasien, Wünschen und anderen Impulsen. Können wir nicht. Kann die N.S.A. nicht, kann die G.C.H.Q. nicht. Fünftens: das Vergnügen an und mit der Beschwörung der Apokalypse vermeintlicher Identitäts-Transparenz verdeckt unsere Sorge um die tatsächlichen nationalen wie globalen Gefahren (Armut, Klima, Hass, Entdifferenzierung und Desorientierung).

Marketing-Zuwendungen

Zwei Beispiele.

"Wir eröffnen Kasse Vier für Sie", annonciert die Stimme in der Ladenkette,
die seit vielen Jahren als Aldi auftritt und die ich noch immer als Albrecht adressiere. Ich stand in der Schlange an der Kasse, als mir dieser Satz zum ersten Mal auffiel. Für Sie klingt nett, ist aber falsch:
die weitere Kasse wird in Betrieb genommen, um die Kunden nicht zu vergraulen. Welche Agentur
hat diese Floskel des Einseifens erfunden? Wer glaubt, seine Kunden damit zu erreichen? Dass die Leute vom Albrecht-Konzern dies glauben, sagt doch etwas über ihre Verachtung und über die Unverfrorenheit des Geschäfts.

Funkhaus Wallrafplatz ist eine Sendung des wdr 5: die Hörer und Hörerinnen werden aufgefordert, sich an an einem Gespräch mit einem Fachmann  und Moderator zu einem Thema zu beteiligen. Gestern, am 12.7.2014, wurde angesichts des Urteils des BGH - geklagt hatte ein Arzt, der auf der Identität dessen bestand, der mehrmals negative Voten zu seiner Behandlung abgegeben hatte - zur Anonymität im Internet das damit verbundene Problem erörtert. Das Problem ist kompliziert. Es lässt sich in ein paar Minuten nicht diskutieren. Die Sendung fragt Meinungen ab, aber erörtert das Problem nur indirekt, weil die Meinungen locker aufeinander bezogen und nicht entfaltet werden in dem schwierigen Pro und Contra. Die Einladung zur Teilnahme ist nicht schlecht; geboten wird ein Forum. Aber wer teilnimmt, erhält nicht die Chance zu einem Gespräch: die nächsten Hörerinnen und Hörer warten; sie sollen nicht enttäuscht werden. Die Teilnahme, so das Kalkül des Marketing, soll an den Sender binden. Mich ernüchtert eher eine solche Sendung; vor allem höre ich immer die Anstrengung heraus, die Sendung über die Runden zu bringen; die Substanz ist zweitrangig. Dabei könnte der Hörfunk Gespräche in Gang bringen. Aber das traut man offenbar dem Hörfunk-Publikum nicht zu.

Montag, 7. Juli 2014

Ist eine mechanische Idee hilfreich?

"Zeit für einen Schnitt" ist Christian Guths Text getitelt (SZ vom 13.6.2014, Nr. 134, S. 16). Der Untertitel: "Magenverkleinerungen lindern Übergewicht und Diabetes besser als herkömmliche Therapien. Doch wegen Nebenwirkungen und hoher Kosten bleibt die Adipositaschirurgie umstritten".
Nicht nur wegen der Nebenwirkungen und der Kosten. Sondern wegen der fragwürdigen Konzeption dieses chirurgischen Eingriffs, den Magen einer oder eines stark Übergewichtigen zu verkleinern. "Ab einem gewissen Ausmaß der Überernährung haben sich Magenumfang, Hormonhaushalt und Sättigungsgrad im Gehirn fest darauf eingestellt", lautet die These eines Propagandisten dieser Chirurgie. Statt des großen Magens den kleinen Magen. Wir kennen die Idee aus einem technischen Kontext: statt des Achtzylinder-Motors der Vier-Zylinder-Motor. In der Motorentechnik verfügt heutzutage ein (aufwändiges) Aggregat über ein Regulationssystem, das je nach Last die Zahl der Zylinder reduziert. Der Magen ist aber keine Maschine; er muss anders reguliert werden. Übergewichtigkeit ist zuerst und vor allem eine Lebensform mit dysfunktionalen Selbst-Regulationen; sie verändert sich nicht automatisch mit einem massiven, aggressiven Eingriff einer Verkleinerung. Das ist natürlich bekannt; weshalb Patienten nachher gut betreut werden müssen. Warum nicht vorher? Warum wird eine intensive Psychotherapie nicht ausprobiert? Weil die Überzeugung der Wirksamkeit langfristiger psychotherapeutischer Verfahren fehlt, weil die Idee oder Fantasie der schnellen Veränderbarkeit dominiert und der medizinisch orientierte Eingriff als eine punktuelle reparative Intervention so nahe liegt in unserer Zeit der raschen Profit-Maximierung.

Die Wirksamkeit dieser Art chirurgischen Eingriffs muss gründlich geprüft werden. "Auf längere Zeit", führt Christian Guth aus, "relativieren sich die beeindruckenden Ergebnisse. Der durchschnittliche Gewichtsverlust liegt nach zehn Jahren lediglich bei gut 20 Prozent des Ausgangsgewichts. Die schwedische SOS-Studie zeigt eine nicht unbeträchtliche Rückfallquote bei operierten Diabetikern: Normalisierte sich anfangs mehr als 70 Prozent von ihnen der Blutzuckerspiegel, fiel der Anteil der Geheilten in den folgenden 15 Jahren auf 30 Prozent zurück. 'Das sind trotzdem gute Ergebnisse', stellt Jürgen Ordemann, Leiter des Zentrums für Adipositas und Metabolische Chirurgie an der Berliner Charité, klar, 'immerhin lässt sich so eine chronische Stoffwechselerkrankung in den meisten Fällen deutlich aufhalten - besser als mit jeder anderen Therapie'". Wenn man einer mechanischen Fantasie folgt und die aggressiven Kosten nicht scheut, kann man das behaupten.

Nachtrag am 30.7.2014:
Man kann natürlich fragen: wer kommt warum auf diese Idee der Amputation eines gesunden Organs? Das Wer lässt sich nicht beantworten: ich kenne den Erfinder dieser aggressiven operativen Intervention nicht. Aber zum Warum kann man Motive vermuten: 1. der oder die stark Übergewichtige muss büßen und zahlen für den Hunger; 2. das schlechte Selbstbild des oder der stark Übergewichtigen wird bestätigt und damit beruhigt. Ein seltsamer interaktiver deal: die Amputation als Buße. 

Freitag, 4. Juli 2014

Wiederkäuen

Daniel Kehlmann hat das Jahr 1959 entdeckt. Die FAZ (4.6.2014 ) und die SZ (3.7.2014, S. 14, Nr. 150) berichteten darüber. In seiner Frankfurter Poetikvorlesung kontrastierte er, entnehme ich den Berichten, vier Ereignisse dieses Jahres: Ingeborg Bachmanns erste Frankfurter Vorlesung, Theodor Wiesengrund Adornos Vortrag Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit (1963 bei Suhrkamp veröffentlicht), Fritz Bauers enorm umstrittene Vorbereitungen des ersten so genannten Auschwitz-Prozesses (der vom 20. Dezember 1963 bis zum 20. August 1965 geführt wurde) und Geza von Chiffras inszenierten und von Arthur Brauner produzierten Film Peter schießt den Vogel ab mit Peter Alexander in der Hauptrolle.

1959 war ich in der Obertertia, wurde ich konformiert, verliebte mich heftig und sah drei Filme, in deren Protagonistinnen ich mich ebenfalls verliebte: in Angie Dickinson aus Howard Hawks' Rio Bravo, in Eva Marie Saint (der heute in der SZ vom 4.7.2014 um 90. Geburtstag gratuliert wird) aus Alfred Hitchcocks North By Northwest  und Marilyn Monroe aus Billy Wilders Some like it hot (der ab 18 freigegeben war und in den ich mich als 14-Jähriger hineinschmuggeln musste). Mit diesen drei Filmen bin ich buchstäblich alt geworden - oder die mit mir. In selben Jahr kam bei uns auch Alle lieben Peter ins Kino mit Peter Kraus und der (wie ich) gleich alten Christine Kaufmann. Der Film war für den jugendlichen Kinogänger natürlich auch ein Ereignis. Peter schießt den Vogel ab verpasste ich damals. Allerdings sah ich damals Ich bin kein Casanova - ebenfalls von Geza von Chiffra inszeniert und mit Peter Alexander.

Peter schießt den Vogel ab bekam also jetzt die Daniel Kehlmannsche Breitseite ab. Unter sportlichen Gesichtspunkten ist das unfair: ungleiche Kaliber. Kehlmann konstatierte: eine "gespenstische Schattenwelt", den "geheimen Schauder der Vergnügungsindustrie" und eine "giftige, alles durchdringende Falschheit". Was war falsch an diesen häufig wie Kindergeburtstage aufgekratzten Filmen? Und was ist: alles? Natürlich kann man Vieles entdecken - ich habe es gerade in meinem Buch "Nachkriegskino" versucht. Man kann einen Nachhall heraushören: die forcierte Fröhlichkeit im Anblick der nationalsozialistischen Katastrophe - in einem solchen affektiven Kontext wurde ich im Sommer 1944 im Sauerland gezeugt. Man kann einen Überlebenswunsch heraushören. Man kann einen Wunsch des Vergessens heraushören. Was ist daran falsch?

Falsch ist: diese Wünsche als Verdrängungsanstrengung zu etikettieren - und zu verwechseln, dass Verdrängung ein psychoanalytisches Konzept ist, das für ein Subjekt, aber nicht für ein Kollektiv konzipiert wurde. Eine öffentliche Diskussion verdrängt nicht; Kontexte und Subtexte sind stets gegenwärtig. 1959 - als ein Gegenbeispiel, das Daniel Kehlmanns Argumentation empirisch widerlegt -  war auch das Jahr des Wolfgang Staudte-Films Rosen für den Staatsanwalt. In den 50er Jahren wurde nicht verdrängt. Sie waren eine äußerst turbulente Dekade (man muss nur die Bundestagsdebatten erinnern) der tief zerrissenen Bevölkerung eines um seine Identität ringenden, demokratisch verfassten, aber nicht etablierten Landes. Wohl wurde über die Explikation der nationalsozialistischen Zerstörungsorgie gerungen - gegen die Versuche, sich auf Zehenspitzen davonzustehlen, ohne die eigene strafrechtliche oder ethisch-moralische Verantwortung zügig zu klären. Mit anderen Worten: Daniel Kehlmann repetiert die Klischees unser vermeintlichen Vergangenheitsbewältigung, von der inzwischen klar geworden ist, dass sie nicht zu bewältigen ist, und verdeckt mit seiner Empörung und Verachtung die enorme Komplexität der Transformation unseres Landes.