Dienstag, 19. August 2014

Differenzieren ist gut

Ulrich Beck, der Soziologe aus München, äußerte sich in der SZ (11.8.2014, Nr. 183, S. 9) zur, wie er es im Titel seines Textes nannte, Globalisierung des Antisemitismus. Er hat, so sagt er, die Unfähigkeit zu unterscheiden beobachtet:

"Wir - viele Deutsche und andere Europäer - setzen deutsche, französische, italienische  Juden mit Israelis gleich. Plötzlich werden die Nachbarn wieder zu Juden gemacht und damit zu Ausländern in ihrem eigenen Land, in Deutschland, Frankreich, Italien und anderenorts. Und diese Unfähigkeit zu unterscheiden - die Tatsache, dass alle Juden mit Israelis gleichgesetzt werden und alle Israelis mit Palästinserkillern - ist ein wesentlicher Hintergrund für die neue Welle des Antisemitismus".

Unterscheiden ist immer gut. Zuerst einmal möchte ich unterscheiden zwischen der israelischen Regierung und der israelischen Politik (auf der einen Seite) und den israelischen Bürgerinnen und Bürgern auf der anderen. Dann stimmt nämlich dieser Satz nicht mehr: "Das gegenwärtige Israel setzt wieder stärker auf militärische Überlegenheit als zuvor". Zwar schränkt Ulrich Beck diesen Satz später wieder ein, indem er vom Ministerpräsidenten spricht und damit die Regierung einführt, aber sein Fokus ist auf "Israel" gerichtet - womit sich das Vorurteil festsetzt: als würde die Politik der israelischen Regierung unisono geteilt. Ich kenne Israelis, die entsetzt sind über die Siedlungspolitik ihrer Regierung.

Zur neuen Welle des Antisemitismus und zur Globalisierung des Antisemitismus. Zwei Stichwörter, die bedrohlich klingen: ein altes Unwetter braut sich zusammen. Das ist die Frage. Die Globalisierung des Antisemitismus ist eine zu schnell formulierte Formel. Das Internet hat riesige, weitreichende Foren zur Verfügung gestellt. Je größer eine Gruppierung, um so mehr beschleunigt sich ihre Dynamik. Das ist nicht neu; wir kennen das aus dem Alltag: sprechen  wir zu zweit, kann man sich Zeit lassen; man wartet aufeinander. Sprechen wir zu viert, wird es eng; man muss sich hier und da beeilen, zu Wort zu kommen. Sind wir zu zwanzig, muss man sich anstrengen. Ein englisches Sprichwort sagt dazu schön: two is company, three is a crowd. Dagegen haben die Internet-Foren gewaltige Größen. Mit der Beschleunigung findet auch ein Nachlassen der Kontrolle statt: kommuniziert werden häufig die ersten Einfälle in ihrer kruden Gedanken-Form (darunter leidet dieser Blog auch; glücklicherweise kann ich nachpolieren). Das ist in einer Psychotherapie nicht schlecht, da ist der nicht kultivierte oder kontrollierte Impuls willkommen im Prozess der Klärung abgewehrter Lebensaspekte. Im interaktiven Austausch ist das schwierig: wir werfen uns dann unsere Vorurteile vor die Füße. Wie in einer (therapeutischen) Gruppe muss man darauf vertrauen, dass die ersten Einfälle auch in einem Internet-Forum nach und nach differenziert werden.

Die gute alte Vorurteilsforschung der Sozialpsychologie ist irgendwie aus der Mode gekommen. Vorurteile sind der Alltag; sie dienen unserer raschen Orientierung: die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen. Vorurteile muss man für sich selbst klugerweise beweglich halten und an der Erfahrung kontrollieren; dann verändert sich das dichotome Schema. Es gibt die (sehr verständliche) Furcht vor Beton-harten Vorurteilen  - der Gegenimpuls des Zurückschreckens heißt dann rassistisch oder antisemitistisch. Aber so lange Vorurteile nicht als Handlungsanweisungen - was sie oft waren und noch sind -  verstanden werden, sind sie kognitiver und affektiver Balllast, der die von ihnen Adressierten kränkt, irritiert, beunruhigt, ängstigt. Antisemitismus ist dann bedrohlich, wenn er als Aufforderung kommuniziert wird, sich auf einen Hass einzustimmen mit einer Fantasie der Vernichtung und  einem mörderischen Impuls.  Für den verbalisierten, kommunizierten Hass haben wir eine genaue Gesetzgebung. Das Problem ist heute - das soll wohl das Stichwort von der Globalisierung besagen - die gewissermaßen blitzartige, verbalisierte und weithin kommunizierte Vermischung von Vorurteilen mit einem (selbstgerechten) affektiven Spektrum, das von Abweisung bis Ekel und Hass reicht. Es ist schwierig sich zurecht zu finden. Es gehört zur Tragödie unserer Zivilisation, dass der Antisemitismus eine kulturelle Konstante darstellt, deren Lautstärke wechselt. Es  gehört zur guten bundesdeutschen Übereinkunft, dass wir seine Melodie nicht hören wollen. Obwohl ich zu meiner Orientierung manchmal ganz gern die Sänger sehen würde.


Montag, 18. August 2014

Kommt ZEIT, vergeht Rat

Ein alter Freund sagte mir diesen Satz, lange bevor ich (vor einigen Jahren) mein Abonnement der Hamburger Wochenzeitung kündigte - seit 1963 war ich dabei. Jetzt griff ich wieder zu und kaufte am Kiosk die Ausgabe mit dem pink unterlegten Aufmacher: "Wann bin ich wirklich ich?". Die zweite Titel-Zeile: "Jeder sucht nach dem Echten, dem Authentischen. Aber was ist das, und wie findet man das?"

Man findet es nicht.

Später im Blatt dann: "Mein wahres Gesicht? Heute ist das Echte, das Authentische gefragt. Doch was ist das? Und wie findet man es?" Der  Autor des Textes ist Ulrich Schnabel. Er beendet ihn mit dem Blick in den Spiegel: da muss man seinen Blick aushalten und mit sich (einigermaßen) einverstanden sein können. Das war's? Das war's (DIE ZEIT, Nr. 34 vom 14.8.2014, S. 27).

Das eigene wahre Gesicht kann man nicht sehen. Morgens machen wir im Badezimmer ein Badezimmer-Spiegel-Gesicht. Im inneren Dialog, den wir nur hören können, können wir uns fragen, ob wir mit uns einverstanden sind oder nicht. Wie sieht das unwahre Gesicht aus? Das wissen wir auch nicht. Auf einem Foto, finde ich, sehe ich immer anders aus als ich dachte: die Innenseite passt nicht zur imaginierten, fotografierten Außenseite. Heißt das, dass ich etwas zurückhalte? Vielleicht. Gibt es Situationen, in denen ich es nicht tue? Dann lasse ich mich (vielleicht) gehen - mehr als nach meiner Verfassung angemessen ist. Kann ich das auf einem Foto sehen? Dann erkenne ich mich auch nicht wieder. Der Blick des anderen macht unfrei, sagte Sartre. Bin ich frei, wenn der Andere abwesend ist? Nein, denn Freiheit oder das Gefühl von Freiheit/Lebendigkeit ist ein Beziehungsprodukt. Es geht um Bewegungsspielräume - in Beziehungen. In ihnen erleben wir uns - unterschiedlich. Jede Beziehung ist auf ihre Weise wahr; wenn sie liebevoll erlebt wird, ist sie wahr; wenn sie verlogen ist, ist sie wahr und offenbart meine Unterwerfung (oder etwas anderes). Es geht nicht ohne die oder den anderen; ohne sie oder ihn sind wir ein unbeschriebenes Blatt. Das wahre Gesicht, könnte man mit Sigmund Freud sagen, ist die Illusion vom Abstreifen der Kultur. Unser Gefühl für unseren Lebenszusammenhang, was Erik Homburger Erikson Identität nannte, die später als Selbst bekannt wurde, ist ein Rätsel: sie wirkt konstant und ist flexibel; wir können sie nicht greifen und doch richten wir uns nach ihr aus.

"Wann bin ich wirklich ich?"

Immer. Auch wenn ich nicht wahr bin.

Zum Glück höre ich diesen alten deutschen Rigorismus nicht mehr: Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht. Wer diesen Satz erfand, verstand die Lüge nicht - und huldigte einem Authentizitätswahn oder, besser, einem Geständniswahn, den manche TV-Leute immer noch pflegen, wenn sie ihre Interviewten überfallartig konfrontieren und sich wundern, wenn sie eine echte Abfuhr erhalten.

Nachtrag vom 19.8.2014.
Manche Texte schreiben sich weiter. Das Konzept der Wahrheit ist ein riesiger Stein, den ich nicht aufnehmen kann. Wahrheit empfinde ich in den Kontexten als Terror, in denen vom falschen Bewusstsein, von falschen Gefühlen  und vom richtigen und falschen Leben (das eine irgendwie im anderen oder auch nicht)  gesprochen wird. Wer weiß, was richtig ist? Es gibt die persönliche Wahrheit: die Gewissheit eigener Überzeugungen und Wahrnehmungen - wobei man sich mächtig irren kann. Es gibt die uralte, kulturelle, gesellschaftlich ausgehandelte und einsozialisierte Wahrheit: die Sicherheit des Gefühls für Moral, Fairness und Anstand. Es gibt die Wahrheit der Rekonstruktion einer (Straf-) Tat oder Lebensgeschichte im Gerichtssaal oder im Sprechzimmer. Es gibt die wissenschaftliche Wahrheit als eine bewegliche, überprüfbare Annäherung an einen Sachverhalt. Es gibt die Wahrheit von Beziehungen. In diesem Sinne verstehe ich Wahrheit: als Form von Wirklichkeit.

Die Frage nach dem wahren Gesicht gehört in den Kontext der alten Frage: wer bin ich? Bin ich das so genannte autonome Individuum oder das Produkt meiner Beziehungserfahrungen in den unzähligen Kontexten eines Lebens? Die Frage heißt auch: Anlage oder Umwelt? Wahrscheinlich ist die Umwelt die Antwort. Oder die Gesellschaft oder Kultur. Das erscheint mir plausibel.  Gibt es den wahren Kern? Donald Woods Winnicott, der englische Psychoanalytiker und Pädiater,  hat darauf (für mich) eine glänzende (praktische) Antwort gegeben: er sprach (nüchtern) vom wahren Selbst und meinte die Kontexte, die wir nicht mitteilen können - also Kontexte, die zu Beziehungserfahrungen gehören. Vielleicht beziehen wir daraus unsere Individualität - wer weiß? Sein Konzept des falschen Selbst ist bezogen auf unsere im weitesten kommunikative Seite, die ist wahr insofern, als sie das Produkt unserer Anpassungsleistung ist. Sein Konzept von wahrem und falschem Selbst verstehe ich als seine coole Antwort auf die Frage von Anlage und Umwelt. Und Authentizität - dieses schwer auszusprechende Fremdwort gehört zur modernen Unsicherheit, in den realen wie beobachteten (imaginierten) Beziehungen (zur Chefin unserer Regierung beispielsweise) sich zurecht zu finden und seinen Wahrnehmungen zu vertrauen. Inszenierungen gehören zum Lebensalltag. So wie wir andere zu gewinnen suchen, unternehmen andere diese Anstrengung auch - aus welchen Motiven auch immer.

Zum ambivalenten Interesse am Maßregelvollzug

Die Wiederaufnahme des Verfahrens gegen Gustl Mollath vor dem Landesgericht Regensburg ist verhandelt. Gustl Mollath wurde freigesprochen; er wird für die Dauer seiner Unterbringung in den so genannten Maßregelvollzug entschädigt. Das Gericht hat die Tatsache seiner Straftaten bestätigt - aber nicht seine im ersten Verfahren festgestellte (eingeschränkte) Schuldunfähigkeit und seine fortbestehende Gefährlichkeit. Weil im ersten Verfahren Gustl Mollath von Schuld freigesprochen wurde, konnte er im zweiten Verfahren nicht für schuldig befunden werden; der Wahrheitsgehalt des ersten Urteils besteht weiter, die daraus abgeleitete Prognose nicht. Das ist auf den ersten Blick vielleicht kompliziert; jedenfalls hat die Unterbringung von Gustl Mollath auf die Zweizügigkeit unseres Rechtssystems aufmerksam gemacht - Strafvollzug auf der einen, Maßregelvollzug auf der anderen Seite. Der Strafvollzug dient der Vorbereitung auf ein straffreies Leben, der Maßregelvollzug der im weitesten Sinne therapeutischen Veränderung des oder der Beschuldigten mit dem Ziel der Vorbereitung auf ein Leben ohne erhebliche Straftaten (so das Gesetz). Heilung, wie dieses Gesetz oft missverstanden wird, ist nicht beabsichtigt. Strafvollzug und Maßregelvollzug, das ist eine der juristischen Implikationen, haben mit Straftätern unterschiedlicher Struktur zu tun; der Paragraf 20 StGB hat diese Struktur umschrieben.

Mit Gustl Mollath stand aber auch in der öffentlichen Diskussion - explizit oder implizit - das System des Maßregelvollzugs zur Debatte. Dieses System ist weitgehend unbekannt. Es beginnt damit, dass von der Psychiatrie gesprochen wird, ohne zwischen den Strukturen der Abteilungen (eines psychiatrischen Krankenhauses) und deren klinischen Aufgaben zu unterscheiden; evoziert wird das Bild eines großen Backsteinhauses, das von einer riesigen Backsteinmauer umgeben ist: einmal drin, kommt man nicht mehr raus. Deshalb muss man den in das Verlies der forensischen Psychiatrie Eingesperrten - mit diesem Verbum operierte Heribert Prantl in seinem Kommentar Glanz und Elend eines Freispruchs in der SZ (vom 16./17.8.2014, S. 4; Nr. 187) - befreien: der häufig repetierte Subtext der Berichterstattung. Das Problem des Maßregelvollzugs ist die Prognose der fortbestehenden Gefährlichkeit eines forensischen Patienten. Sie hängt von der Konzeption der Begutachtenden ab. Im ersten Verfahren, das die Juristen das Erkenntnisverfahren nennen, leistet ein Gutachter oder eine Gutachterin ein Vorverständnis, dem ein Gericht seinem eigenen Verständnis nach folgt (oder nicht folgt) und die Unterbringung anordnet (oder verwirft). Die nachfolgenden Begutachtungen der therapeutischen Teams liefern die Einschätzungen des Behandlungsverlaufs (meistens einmal innerhalb eines ganzen Jahres) und prognostizieren im Hinblick auf die Frage einer möglichen Entlassung die nachlassende oder fortbestehende Gefährlichkeit des untergebrachten Patienten.

Die Prognosen sind entscheidend. Sie sind das Produkt eines gelungenen oder misslungenen therapeutischen Prozesses. Wovon hängt er ab? Er hängt von dem Verständnis und damit von der Hoffnung ab, die Mitglieder des Systems des Maßregelvollzugs (vor allem die therapeutischen Teams) dem späteren Patienten oder der späteren Patientin entgegenbringen. Verständnis und Hoffnung hängen von den psychologischen, soziologischen und politischen Konzeptionen der Beteiligten ab. "Die Justiz hat ihn  misshandelt", schreibt Heribert Prantl zu Gustl Mollath. Das kann man so nicht sagen. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz - dass die Dauer der Unterbringung in einem angemessenen Verhältnis zur Straftat (verglichen mit dafür vorgesehenen Freiheitsstrafen) steht -  existiert als strenge Forderung an den Maßregelvollzug seit den 80er Jahren; er wurde aufgegeben zugunsten des zunehmenden Sicherheitsbedürfnisses, das in dem Wort des ehemaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder (eines gelernten Juristen) gipfelte, bestimmte forensischen Patienten ein für alle Mal einzuschließen. Der juristische Rahmen des Maßregelvollzugs ist großzügig und nobel ausgelegt; er wurde nach und nach verengt. Dieser Prozess ist weitreichend. Er gehört in den bundesdeutschen Kontext einer schnellen Angstbereitschaft bei einem Desinteresse an ausreichender Berücksichtung und Erforschung schwerer dysfunktionaler oder pathologischer Sozialisationsverhältnisse.  Eine Pauperisierung der psychosozialen Theorien ist zu beobachten. Psychoanalytische Theorien sind nicht out, aber marginal. Sie dienen in der öffentlichen Diskussion (wenn überhaupt) vor allem dem Feuilleton - im klinischen Alltag ist es anders - , aber keinem systematischen Erkenntnisinteresse. Psychoanalytisch orientierte Gutachterinnen und Gutachter sind rar. Das psychoanalytisch orientierte Frankfurter Institut für Sexualwissenschaft wurde nicht weiter geführt.  Neurologisch orientierte oder sich als biologisch gerierende Vorgehensweisen dominieren (s. meinen Blog Ein seltsamer Imperialismus vom 13.8.2014) die öffentliche Wahrnehmung, folgen einem Maschinen-Bild vom Menschen und versprechen einfache, kurative Interventionen. Die Reduktion der Komplexität ist ein weitereichendes Interesse an Kontrolle und Macht. Der Maßregelvollzug ist vor allem interessant als die Exotik des fremden Unverständlichen, nicht als ein Ort der Klärung schwerer traumatisierter und gescheiterter Lebensverläufe.      

Mittwoch, 13. August 2014

Ein seltsamer Imperialismus

Vergangenen Samstag, am 9.10.2014, war in der SZ das Interview abgedruckt, das Christina Berndt mit Elisabeth Binder, der Direktorin am Münchener Max-Planck-Institut, geführt hatte (Beilage Wochenende, S. 10, Nr. 182). Titel: Elisabeth Binder über die Seele. Die Seele kam aber nicht vor - Elisabeth Binder sprach einmal über die "menschliche Psyche", das andere Mal über "psychische Gesundheit"; ansonsten sprach sie über Gene und Moleküle als die "biologischen Grundlagen". Das Interview könnte man zur Grundlage eines Seminars machen oder eines langen Textes. Das geht hier nicht.

1. Der Auftakt des Gesprächs. Christina Berndt: "Frau Binder, wie ist denn eigentlich Ihr persönlicher FKBP5-Status? Elisabeth Binder: "Oh, ich weiß gar nicht, ob ich das je überprüft habe". Christina Berndt: "Aber das ist doch Ihr liebstes Seelen-Molekül!" Elisabeth Binder: "Die Effekte von FKBP5 auf die menschliche Psyche sind faszinierend, ja. Wir haben zum Beispiel festgestellt, dass Menschen mit einer Variante dieses Gens nach einem Trauma leichter seelisch krank werden. Wenn Sie als Kind missbraucht wurden oder etwas anderes Schreckliches erlebt haben, entwickeln Sie leichter Depressionen oder eine Posttraumatische Belastungsstörung als Menschen mit einem anderen FKBP5-Gen. Es gibt also eine Risiko-Variante und eine schützende Variante von dieser Erbanlage".

Das FKBP5 wurde in dem gesamten Interview nicht erläutert - es ist ein Eiweiß, das der Immunregulation zugeordnet wird - ; es wurde auch nicht erläutert, in welchem Untersuchungsprozess es wie identifiziert wurde.  Frau Binder machte keinen Versuch der Übersetzung und der Klärung.

2. Unklare Ableitungen. Gene sind die Träger der Erbinformation; sie machen unsere Grundausstattung aus; sie enthalten auch die Information zur so genannten Transkription, die notwendig ist für die Herstellung der Eiweiße. Transkription, könnte man sagen, ist auch der komplizierte Prozess der Weitergabe der Erbinformationen im Prozess des Lebens; dass die Transkription nicht immer identisch ausfällt, ist eine Lebenstatsache; so verändern sich die molekularen Informationen; so verändern sich die Individuen; so verändern sich die Arten. Wenn die Erbinformationen nicht konstant bleiben, kann man sie dann noch Erbinformationen nennen? Und wie kann man ihre Konstanz feststellen? Wann sind sie konstant? Im Moment der Konzeption? Im fünften Monat der Schwangerschaft? Im Moment der Geburt? Man kann es nicht; die Konstanz ist eine grundlegende Annahme. Die Inkonstanz ist gewissermaßen der Normalfall. Wie kann die Dialektik von Konstanz und Inkonstanz, von Struktur und Prozess, untersucht und konstatiert werden? Die Genetik hat für dieses Problem die Differenz von Genotypus und Phänotypus eingeführt. Das Problem der Bestimmung der Grundstruktur bleibt.

Christina Berndt: "Fasziniert es Sie noch, dass Gene unser Verhalten verändern können?" Elisabeth Binder: "Ja, unbedingt. Als junge Wissenschaftlerin habe ich das bei Mäusen gesehen. Dort wirken sich genetische Veränderungen darauf aus, ob die Tiere ängstlich oder mutig sind. Mutige Mäuse erkunden eine neue Umgebung, ängstliche verkriechen sich dort". Mäuse - keine Individuen. Das ist ein grundlegendes methodisches Problem: bei Mäusen kann man die Lebensbedingungen und die zu untersuchenden Variablen reduzieren. Die Reduktion ist notwendig, weil anderenfalls die Experimente zu komplex werden. Kann man von mutigen und ängstlichen Mäusen sprechen? Empfinden Mäuse Mut? Wir wissen es nicht. Unser von unserem Erleben abgeleitetes Vorverständnis ist ebenfalls eine (hineingeschmuggelte) Annahme für die Anlage und die Interpretation des Experiments. Die Mäuse sind unsere wie selbstverständlich eingeführten Stellvertreter.

3. Die unergiebige Fragestellung. Christina Berndt: "Gene oder Umwelt: Was beeinflusst unser Seelenheil denn nun stärker?" Elisabeth Binder: "Wir gehen davon aus, dass es so in etwa fifty-fifty ist. Früher hieß es immer: Umweltfaktoren, die frühe Kindheit zum Beispiel, sind ganz wichtig. In den Anfängen der Genetik glaubte manche dagegen, gegen den Einfluss der Gene komme nichts an. Jetzt wird immer klarer, wie stark der gegenseitige Einfluss ist. Natürlich ist die Umwelt wichtig. Aber wir gehen wegen unserer Gene mit unserer Umwelt unterschiedlich um. Und die Umwelt kann sogar unsere Gene verändern".

Fifty-fifty heißt: wir wissen es nicht. Wie auch? Mit dem Beginn des Lebens (der Zeitpunkt ist umstritten) setzt der interaktive Austausch mit der jeweiligen Umwelt ein, in der man lebt; die erste Umwelt erweitert sich zu vielen Umwelten. Mit anderen Wort: die geerbte Grundinformation wird sofort beeinflusst, modifiziert, ergänzt - wie auch immer. Man kann, wenn überhaupt, nur eine interaktiv geformte genetische Information erfassen, aus der man die Struktur gewissermaßen herausliest oder intuitiv erfindet wie damals James D. Watson und Francis Crick mit der Doppel-Helix (die sich dann als ein hypothetisches Bild bewährte). Die Frage, welche Strukturen  überwiegen, ist nicht zu entscheiden, weil der für die psychische Struktur entscheidende Prozess der Integration der Identifikationen und Introjektionen - der Niederschlag der Beziehungserfahrungen - nicht zu übersehen ist: buchstäblich.  Hat der 6-jährige Junge, der manchmal wie sein Vater blickt, diesen Blick geerbt oder übernommen? Es lässt sich nicht entscheiden. Aber es lässt sich annäherungsweise in einem psychotherapeutischen Prozess rekonstruieren. Wir sind das Produkt unserer Beziehungserfahrungen. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm - sagt eine wie selbstverständliche Alltagsweisheit. Die Frage ist immer, wie weit er vom Stamm weg fällt. Wahrscheinlich ist man gut beraten, wenn man einen sehr komplexen Erfahrungsprozess annimmt.

4. Heimlicher Imperialismus.  Elisabeth Binder, nach ihrer Überzeugung gefragt, sagte: "Meine Hoffnung ist, dass sich diese Dichotomie - Psychiatrie und der Rest der Medizin - auflöst, weil wir die biologischen Grundlagen dieser Erkrankungen immer besser verstehen und die Gesellschaft die Risikofaktoren immer besser eindämmt". Die biologischen Grundlagen entscheiden; von ihnen muss man ausgehen, sagt sie. Aber wenn man an der Dichotomie von Psyche und Soma festhält, dann sind Psychische Erkrankungen  ein unproduktiver, vereinseitigender Begriff; man sollte eher von Erkrankungen des Kerns eines Menschen oder, weniger medizinisch gesagt, von schweren Lebenskrisen sprechen und sie diagnostizieren - den tiefen Erschütterungen des Selbst-Gefüges; sie betreffen unsere gesamte Existenz; sie  einer somatischen oder  einer psychischen Dimension zuzuschlagen, unterschätzt das Gewicht dieser Erkrankungen und führt zu konzeptionellen Schieflagen.

5. Ironie als Gegenargument. Christina Berndt schlug einen, wie ich finde, ironischen Ton an. Das beginnt mit dem Titel ihres Interviews, in dem die Seele angekündigt wird, aber nicht richtig auftaucht. Ironisch liest sich das in den Fließtext eingeschobene Zitat: "Endlich ist bekannt: Gehirn, Geist und Körper gehören zu einem Organismus". Vielleicht war Christina Berndt enttäuscht von den vielen unscharfen, unbelegten Allgemeinheiten; vielleicht kam sie nicht richtig gegen diese Art von defensiver Wissenschaftspolitik, die Elisabeth Binder pflegte, an. Vielleicht ist auch der Redaktion des Interview-Textes Einiges zum Opfer gefallen. Es kam kein Gespräch - kein Austausch - zustande.
Wissenschaft ist  - der Idee der Falsifikation einer überprüfbaren Hypothese nach -  ein kritisches Geschäft; kritische Fragen sollten willkommen sein. Das war hier nicht der Fall. Natürlich ist die Erforschung der molekularen, genetisch begründeten Regulationsprozesse  relevant. Schwierig wird es, wenn sie die Erforschung anderer Regulationsprozesse zu ersetzen beabsichtigt. Dass die "Psychiatrie", wie Elisabeth Binder sagt, "immer mehr zur Naturwissenschaft wird", ist kein Fortschritt, sondern der Versuch, Wissenschaftspolitik zu machen, indem andere Konzepte implizit zur Makulatur erklärt werden. Die Seele ist damit verschwunden. Die Forschungsmittel wandern in die Labors, während die als naturwissenschaftlich deklarierte Psychiatrie Versprechungen einfacher Eingriffe in menschliche Systeme macht. Aldous Huxley, könnte er es, würde grüßen: brave, new world.

Dienstag, 12. August 2014

Encore

Endlich hat die SZ Josef Foschepoth Platz in ihrem Forum eingeräumt (11.8.2014, Nr. 183, S. 10) - Josef Foschepoth ist Freiburger Professor für Zeitgeschichte und Autor der Studie Überwachtes Deutschland. Post- und Telefonüberwachung in der alten Bundesrepublik. Foschepoths Buch wurde 2012 veröffentlich, die SZ besprach es, danach kaufte ich es und erwähnte die Arbeit in meinem Blog "Ziemlich beste Friends"(12.11.2014). Josef Foschepoths jetziger Text hat den Titel In Deutschland gilt auch US-Recht. Warum Edward Snowdon nicht in die Bundesrepublik kommen darf. Der Titel sagt genug. Die bundesdeutsche Regierung ist an die Verträge mit den U.S.A. gebunden. Josef Foschepoth: "Immer wieder musste sich die Bundesrepublik in der Vergangenheit verpflichten, Verwaltungsabkommen und Vereinbarungen mit den USA zu treffen, die die Sicherheit der USA und ihrer Truppen in Deutschland gewährleisten". Auch nach 1989. Jetzt ist ein Amtsrichter beteiligt, der über die Auslieferung entscheidet. Aber offenbar ist er nicht frei zu entscheiden. Foschepoth resümiert: "Es ist nicht vorzustellen, dass die USA ausgerechnet bei einem so prominenten 'Spion' und 'Verräter', den sie in Edward Snowden sehen, auf ihre Rechte und Möglichkeiten verzichten, die ihnen nach amerikanischem Recht zustehen - dessen Gültigkeit die Bundesrepublik ausdrücklich anerkannt hat".

Bleibt die Frage, weshalb die Bundesregierung (wie alle anderen Regierungen vor ihr) kein klares Wort zu ihrer Abhängigkeit sagt, den Untersuchungssauschuss zappeln lässt - oder wissen die alle längst Bescheid? - und sich für die Kameras vor den Kameras empört über die Perversion einer Freundschaft.

Freitag, 8. August 2014

Die angewiderte Rezensentin

In der SZ vom 29.7.2014 (Nr. 172, S. 15) besprach Dorion Weickmann die von Katrin Himmler und Michael Wildt herausgegebene Korrespondenz der Eheleute Marga und Heinrich Himmler. Sie quälte sich durch die Briefe: "Wäre Himmler nicht einer der größten Menschheitsverbrecher aller Zeiten, so hätten die papiernen Zeugnisse seiner Ehe-Allianz nicht die mindeste Notiz verdient". - Ihr Resümee: "Am 17. April 1945 verfasst Himmler eine Art Abschiedsepistel, setzt ein 'Heil Hitler!' darunter, zu dem sich 'viel viel liebe Bussi' gesellen. Keinen Monat später bringt er sich um. Marga überlebt ihn um gut zwanzig Jahre. Bleibt als Fazit: Diese beiden hatten einander vollauf verdient".

Was wissen wir aus dieser Besprechung von den Eheleuten, die Dorion Weickmann ausgemachte Gefühlsautisten nennt? Mehr nicht. Sie hat ihre Ekel-Reaktion nicht weiter ausgewertet. Sie hat die Diskussion um Hannah Arendts umstrittenes Wort von der (vermeintlichen) Banalität des Bösen nicht aufgegriffen und weiter diskutiert. Das ist erstaunlich, weil Katrin Himmler und Michael Wildt sich auf Hannah Arendt beziehen, aber deren Konzeption bestreiten: "Es ist nicht die 'Banalität des Bösen', die in diesen Briefen aufscheint. Himmler war keineswegs, wie Hannah Arendt fälschlicherweise in Adolf Eichmann zu erkennen glaubte, ein Rädchen in einem arbeitsteiligen, totalitären Getriebe, ein Mensch, der keine Vorstellung mehr davon zu entwickeln imstande war, was seine Tätigkeit anrichtete". Das aber hatte Hannah Arendt nicht gemeint; die Rezeption ihres Konzepts von der Banalität leidet unter der wörtlichen Übersetzung des englischen banality. Sie meinte damit: die Unfähigkeit der Einfühlung, den kompletten Mangel an Fantasie, die Unfähigkeit zu denken und die fürchterlich normale Monstrosität einer rührselig kommunizierten, mörderischen Gefühllosigkeit. Ohne es zu realisieren, bestätigen Katrin Himmler und Michael Wildt die Arendtsche Konzeption - sie schreiben: "Diese Deformierung der Normalität, die Gewalt, die sich in der Harmlosigkeit verbirgt, die Eiseskälte, die mit der vordergründigen Fürsorglichkeit einhergeht, und die unbeirrbare moralische Selbstgewissheit noch beim Massenmord geben diese Briefe zu erkennen" (S. 22 - 23).

Mit der Banalität, die ich mit der Gewöhnlichkeit des Normalen übersetze, ist ein schwerer Sozialisationsschaden verbunden; die Abstumpfung eines Menschen ist ein gravierender Defekt. Warum hat es Hannah Arendts Konzeption so schwer? Weil man sich der entleerten Gefühlslosigkeit, die ein tiefer Hass bewegt, nicht nähern kann oder nicht nähern möchte. Und weil man sich nicht vorstellen kann oder sich nicht vorstellen möchte, dass die nationalsozialistischen Cliquen  monströse Gruppierungen des Hassens waren, deren Ämter, Funktionen, Organisationen und öffentliche Inszenierungen ihre innere Realität gewissermaßen einnebelten. Man muss nicht von der Größe des Feuers auf die Größe des Brandstifters schließen.    

Wie überlebt man als verurteilter Mörder?

Willi Winkler lese ich im Feuilleton der SZ gern. Heute (8.8.2014) fand ich in seinem Text Die zweite Erleuchtung. Ein Mitglied der Manson-Bande meldet sich aus dem Gefängnis (Nr. 181, S. 10) die Formulierung, die mir nachging: er schrieb von einem "Amerika" - "das begeistert eine vulgärfreudianische Dauerselbsterforschung betreibt". Eine vulgärfreudianische Dauerselbsterforschung. Das ist nicht schlecht - und vielleicht auch nicht falsch. Woody Allen hat sie regelmäßig in seinen Filmen nicht vulgär karikiert. Sicher, man kann sich fragen: was hat jemand von sich verstanden, wenn er oder sie das eigene Missgeschick als Fehlleistung oder als  Verdrängung kommuniziert? Man muss es im Einzelfall prüfen.

Aber psychoanalytische Konzepte wie Fehlleistung oder Verdrängung können auch Anregungen für eigene selbstreflexive Suchbewegungen, wie systematisch oder unsystematisch auch immer, sein; sie geben eine Richtung vor. Sie weisen auf die inneren Welten und darauf, dass wir uns in ihnen nicht auskennen. Das ist doch nicht schlecht. Willi Winkler bringt die vulgärfreudianische Dauerselbsterforschung in den Kontext der Lebensgeschichte von Patricia Krenwinkel, die 1970 wegen mehrfacher Morde verurteilt worden war und seitdem, weil in Kalifornien die Todesstrafe ausgesetzt worden war, ihre Freiheitsstrafe verbüßt. Patricia Krenwinkel hat vor kurzem ein Interview gegeben, das die New York Times auf ihrer Website zur Verfügung gestellt hat. Willi Winkler geht auf dieses Interview ein:
"Sie habe sich am Wertvollsten vergangen, am Leben, sagt nun Patricia Krenwinkel, die alte Frau mit einem Schaubühnengesicht, als wäre sie Edith Clever. 1970 im Prozess war sie noch ganz und gar von Charles Manson erleuchtet. Krenwinkel hat sich dann von ihm losgesagt, sie hat im Gefängnis, wo sie anderen hilft und selber malt, einen Universitätsabschluss gemacht, sie hat sich gefunden. Es ist wieder die Selbstfeier, der reine Horror".

Der reine Horror? Ich habe das Interview vor ein paar Tagen gesehen. Ich dachte: Patricia Krenwinkel rechtfertigt sich. Die Sprache, die Begründungen kamen mir bekannt vor: wie übernommen. Ja, vielleicht. Aber sie hat offenbar in ihrer Haft jemanden gefunden, dem oder der sie vertraut und sich an ihm oder an ihr orientiert. Sie hat ein - ihr - Narrativ gefunden. Ist das schlecht? Horror? Max Frisch sagte sehr klug (im Gantenbein): "Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält, oder eine Reihe von Geschichten". Da wir uns auf die Veränderfähigkeit von Menschen verständigt und die Rache ausgeschlossen haben, steht dies auch Patricia Krenwinkel zu - wie immer unsere Zweifel sind.

Komische psychologische Forschung

Rotationsdrucker nennen die Teile einer Tageszeitung (Politik, Feuilleton, Wirtschaft, Sport): Bücher.
Die letzte Seite des Feuilleton-Buches der SZ hat den Titel Wissen. Leider vermittelt das Wissen manchmal wenig Wissen. Qualitative Psychologie geisteswissenschaftlichen Zuschnitts (oder Paradigmas) hat schlechte Karten -  psychoanalytische Konzepte haben ein sehr gemischtes Blatt. Meine Großmutter kommentierte ihr schlechtes Blatt beim Rommé regelmäßig mit: Von jedem Dorf 'n Hund. Im Wissen werden hier und da die komischen Hunde durchgetrieben. Letztes Beispiel: Sebastian Herrmanns Text Was bin ich gut. Narzissten räumen ihren Wesenszug freizügig ein (SZ vom 6.8.2014, Nr. 179, S. 14).

Um was geht es? Um die Studie von Sara Konrath, Brian P. Meier und Brad J. Bushman Development and Validation of the Single Item Narcissism Scale (SINS). Im Internet kann man sie nachlesen unter Plos one. Die Autoren entwickelten ein Befragungsinstrument, das aus einer Frage und einer Skalierung bestehen sollte. In elf Studien prüften sie die Zuverlässigkeit und Trennschärfe - was die Konstrukteure psychologischer Tests Reliabilität und Validität nennen -  der einen Frage in etwa dieser Form (sie wurde im Laufe der Untersuchung modifiziert): "To what extent do you agree with this statement: I am a narcissist (note: The word ' narcissist' means egotistical, self-focused, and vain)". 838 Studenten und 1330 Erwachsene waren gebeten worden, das Ausmaß ihrer Zustimmung zu dieser Fragevorgabe auf einer Skala von 1 bis 11 (später von 1 bis 7) einzuschätzen. Gleichzeitig waren ihnen (in jenen elf Einzelstudien) andere, aufwändigere Verfahren zur Selbsteinschätzung vorgelegt worden. Die verschiedenen Befunde wurden dann mit den Skalenwerten des SINS  korreliert, um zu überprüfen, ob das SINS-Verfahren erfasst, was die Forscher zu erfassen beabsichtigen.

Fazit: die Befunde des SINS-Verfahrens lassen sich vergleichen mit den Resultaten der anderen Verfahren; Korrelationen sind häufig signifikant, aber niedrig; es gibt widersprüchliche Resultate. Das Verfahren eignet sich nicht für die klinische Praxis; das zugrunde liegende Konzept einer narzisstischen Persönlichkeit ist eindimensional und schlicht und berücksichtigt nicht das prekäre Gefüge (narzisstischer) Selbst-Regulationen. Die Autoren vermischen ein Alltagsverständnis von "Narzissmus" mit einem klinischen Verständnis, bei dem unterschieden wird zwischen einem Spektrum eines notwendig stabilen Selbstgefühls und einem Spektrum eines pathologisch empfindlichen Selbstgefühls. Sebastian Herrmann greift das nicht auf. Er ist auch nicht informiert über die Evolution des Narzissmus-Konzepts, das zuerst Sigmund Freud vorlegte als eine Dimension seelischer Regulation (mit einer etwas negativen Konnotation), dann Heinz Kohut modifizierte mit seinem Konzept eines gesunden Narzissmus, das Otto Kernberg dann mit seinem Konzept eines pathologischen Narzissmus erweiterte; eine nordamerikanische Zeitdiagnose lieferte Christopher Lasch mit seinem viel beachteten Buch "The Culture of Narcissism. American Life in An Age of Diminishing Expectations" (1978).

Aber seine im Titel seines Textes angedeutete Verwunderung - wie kann ich nur... so etwas zugeben -, die er wenig später ausformuliert mit dem Satz: "Sind sie obendrein bescheuert, dass sie ihr Wissen wie einen Orden vor sich hertragen?", belegt seine Unkenntnis der Studie und der benutzten statistischen Verfahren. Schaut man sich die Durchschnitte der Antworten in den elf Studien an, dann variieren sie im Durchschnitt im mittleren Bereich der Skala (andere Werte geben die Autoren nicht an). Mit anderen Worten: die 2168 Befragten gaben bedächtige, überlegte Antworten. Würde Sebastian Herrmann recht haben mit seiner Lesart freizügigen Einräumens, müssten die Durchschnittswerte weitaus höher liegen. Sein Text pflegt den abfälligen Ton der Verachtung. Ich bin kein Freund dieser Art von statistisch (naturwissenschaftlich) orientierter Forschung. Aber bevor man lacht, sollte man prüfen, worüber man lacht.

Donnerstag, 7. August 2014

Es geht den Bach runter

Dienstags nach den Tagesthemen hat die A.R.D. ihren Sendeplatz für Dokumentarfilme, die häufig unter der Rubrik Die Story präsentiert werden - Fernsehen, wie ich manchmal finde, at its best. Am 29.7. war Marc Bauders Master of the Universe zu sehen. Der erste Master of the Universe aus der Welt der Banken war  der von Tom Wolfe erfundene Sherman McCoy, Wall street bond-trader with a salary like a telephone number (Tom Wolf aus Fegefeuer der Eitelkeiten, 1987). Jetzt ist es Rainer Voss, der Auskunft gab über die Frankfurter Welt der Finanzwirtschaft. Innenansichten sind selten. Gillian Tett beschrieb in ihrem Buch Fool's Gold. How the Bold Dream of a Small Tribe at J.P. Morgan Was Corrupted by Wall Street Greed and Unleashed a Catastrophe das manische Geschäft mit so genannten Finanzprodukten, die nur wenige verstanden. JC Chandor beschrieb in seinem Finanz-Thriller Margin Call (Der große Crash) die tief gekühlte Unbarmherzigkeit, mit der das Geschäft, auch wenn es mächtig schlingert, exekutiert wird.

Rainer Voss, von Marc Bauder befragt (dessen Stimme ganz selten zu hören ist), erinnert sich, während wir ihn in einer leer stehenden, stattlichen Büro-Etage sehen mit dem Blick nach draußen auf die anderen gläsernen Bank-Paläste. Finanzwirtschaft, lernte ich, ist ein anderes Geschäft als das der so treuherzig etikettierten Realwirtschaft. Finanzwirtschaft ist sehr real und sehr schnell. Während in den 70er Jahren, so Rainer Voss, Aktien im Schnitt gut vier Jahre behalten wurden, sind es jetzt zweiundzwanzig Sekunden. Finanzwirtschaft ist der Wettbewerb um buchstäblich jeden Preis. Die Akteure sind von Angst getrieben. Die Finanzwirtschaft wirkt wie ein hermetisches System. Rainer Voss hat wenig Hoffnung auf dessen Veränderbarkeit. Er rechnet mit einem Scheitern der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Nach einander würden die Wirtschaftssysteme der europäischen Länder zerbröseln. Frankreich sieht er am Horizont der Krise auftauchen.

Düstere Aussichten. Marc Bauders Master of the Universe beschäftigte mich sehr; was ich imaginiert hatte, bestätigte er: die Attraktion und die Macht des riesigen Reichtums und die Bilder seiner Repräsentationen von Status und Glück treiben das System an. Auf fünf Billionen Euro schätzt Hans-Ulrich Wehler (Die Deutschen und der Kapitalismus, 2014) das "Nettovermögen beim obersten Dezil der Bevölkerung" bei uns (S. 13). Einhundert Millionen Dollar kostete Bernie Ecclestone der Deal mit dem Münchener Gericht. Die beiden Zahlen gehören nicht zusammen. Aber vielleicht doch.

Beziehungssehnsucht: Die Wohnung der Großmutter von Arnon Goldfinger

Zusammen mit seiner Mutter löst der Filmemacher Arnon Goldfinger die Wohnung seiner verstorbenen Großmutter in Tel Aviv auf. Er entdeckt Belege - Briefe, Dokumente und Zeitungsausschnitte - einer für ihn unglaublichen Freundschaft seiner Großeltern mit dem hochrangigen Funktionär der Schutzstaffel, Baron Leopold von Mildenstein, und dessen Frau; von Mildenstein war der Vorgesetzte und Vorgänger von Adolf Eichmann. Arnon Goldfingers Großeltern pflegten ihre Kontakte von 1933 bis 1936; nach 1945 nahmen sie sie mit ihren regelmäßigen Reisen in die junge Bundesrepublik wieder auf. Arnon Goldfinger unternimmt - gegen das erste Sträuben seiner Mutter - den Versuch der Rekonstruktion. Sein Film Die Wohnung ist das Dokument seiner Verständnissuche. Was seine Großeltern mit den von Mildensteins verband, bleibt unklar. Aber sie hielten ihre offenbar gute Beziehung nach ihrer Emigration zu ihnen fest und schützten sie vor ihren Kindern, indem sie sie verschwiegen. Die Wohnung ist ein Film über die komplizierten, widersprüchlichen deutsch-jüdischen Lebensgeschichten, über die Not verschiedener (nicht synthetisierter) Identitäten (der Großeltern Arno Goldfingers) und über den tiefen Wunsch, die guten Bilder von Beziehungen zu erhalten und nicht aufzugeben. Arnon Goldfingers Die Wohnung ist ein eindrucksvoller, enormer Film, der vertraute, übersichtliche Gewissheiten erschüttert; er liegt als DVD vor; wer ihn am Dienstag, dem 5.8., in der A.R.D. verpasste, kann ihn sehen.

Mittwoch, 6. August 2014

Zwei Szenen einer kontaminierten, gewalttätigen Begegnung in Berlin (Graefekiez)

"Jeder in Israel erzählt dir, Berlin ist die offenste, toleranteste und coolste Stadt der Welt": mit diesem Bild und dieser Erwartung zog Yoni Yahav mit seiner Freundin Rotem Ariav von Tel Aviv auf den Berliner Graefekiez. Superlative übertreiben. Thorsten Schmitz erzählte die Geschichte des jüdischen Paares auf der Seite Drei der SZ (23.7.2014; Nr. 167) mit diesen Überschriften: "Der Krieg in den Köpfen. Nahost in Kreuzberg: Junge Männer aus palästinensischen Familien schlagen einen Israeli in Berlin. Das geschah im April. Und nun, mit dem Krieg in Gaza ist da auch eine Front in Deutschland".

Yoni Yahav, ist 31 Jahre alt, "spricht fließend Arabisch", so Thorsten Schmitz, "trägt keine Kippa und verfolgt mit Entsetzen den Gaza-Krieg". Am 24. April kamen abends, als er sein Rad abschloss, junge palästinensische Männer auf ihn zu und gingen ihn mit sehr robusten arabischen Formeln familiärer Beschimpfungen an. Yoni Yahav antwortete: "Wie könnt ihr so etwas sagen. Ihr kennt meine Familie gar nicht". Die jungen Männer waren überrascht. Ob er palästinensischer Israeli wäre, wollten sie wissen. Er wäre Jude, sagte er. Sein Einspruch beruhigte nicht. "Hau ab!", forderten sie Yoni Yahav auf, "wir wollen dich hier nicht. Wir wissen, dass Deutschland hinter euch Juden steht, aber wir hassen euch". Yoni Yahav widersprach: "Ihr kennt mich nicht. Ich bin gegen die Besatzung, ich bin auch gegen Netanjahu". Das Eingeständnis des Hassens wurde wiederholt, Yoni Yahav wurde nicht weiter behelligt. Die Begegnung arbeitete in den Beteiligten weiter. Denn als Yoni Yahav am anderen Tag sein Fahrrad aufschloss, beobachteten ihn die jungen Männer. Yoni Yahav entdeckte, dass an seinem Fahrrad die Schale für sein mobiles Telefon fehlte. Er fragte: "Wer hat euch beigebracht zu stehlen? Ihr habt keine Ehre". Die Frage quittierte einer der Männer mit der Drohung: "Keine Ehre, weil wir dich nicht schon gestern Nacht zusammengeschlagen haben?" Yoni Yahav erhielt mehrere Faustschläge ins Gesicht; er brach zusammen; seine Freundin fuhr ihn ins Krankenhaus. Die Polizei wurde benachrichtigt. Yoni Yahav wurde von Beamten durch den Grafekiez gefahren, um die jungen palästinensischen Männer zu identifizieren; ihm waren diese Ermittlungen nicht recht. Er wurde in Israel behandelte. Er wurde informiert, dass an seiner Berliner Wohnung zwei junge Männer und ein Erwachsener angeklopft hätten, um sich mit Blumen und Scholade zu entschuldigen. Yoni Yahav und Rotem Ariav kehrten nach Berlin zurück.

Ihre Rückkehr war eine noble Handlung. Sie möchten, so beschreibt Thorsten Schmitz ihre Motivation, mit den jungen Palästnensern sprechen. Sie zahlten, sagten sie, für die Politik ihres Regierungschefs. Sie könnten vor ihrer Identität nicht fliehen. Das Ermittlungsverfahren gegen die jungen Männern läuft; zwei von ihnen besitzen die bundesdeutsche Staatsbürgerschaft. Wann und ob ein Prozess eröffnet wird, ist offen.

Thorsten Schmitz beendet seinen Text mit diesem Absatz:
"Als Yoni Yahav sein Rad in Kreuzberg abstellt, sieht er palästinensische Jugendliche auf der Bank vor dem Haus. Einer ist eingehüllt in die palästinensische Flagge. Yoni Yahav will gerade ins Haus gehen. Da hört er: 'Tod, Tod Israel!'"

Einen Tag später (am 24.7.2014) stellt Heribert Prantl in seinem Kommentar Nahost in Deutschland (SZ, Nr. 168, S. 4) fest: "Es gibt aber eine neue Gruppe von migrantischen islamischen Jugendlichen in Deutschland, die ganz selbstverständlich israelfeindlich und antisemitisch ist, deren besondere Aggressivität sich jetzt am Gaza-Krieg entzündet - und die sich die jungen Maghrebiner in Frankreich zum Vorbild nimmt. Nicht ganz wenige dieser Jugendlichen sind gewaltgeneigt. Das ist eine neue Gefahr; sie signalisiert grobe Integrationsdefizite".

Haben wir eine neue Gefahr (Heribert Prantl) und eine Front in Deutschland (Thorsten Schmitz)? Das ist sicherlich schwer zu sagen. Wir wissen wenig. Dass Yoni Yahav niedergeschlagen und verletzt wurde und sich nicht mehr sicher fühlen kann in Berlin oder in der Bundesrepublik, ist schrecklich. Leider sind und waren gewalttätige Szenen in unserem Alltag nicht selten. Es ist die Frage, wem sie gelten - an wen sie adressiert sind oder adressiert waren. An den beiden von Thorsten Schmitz beschriebenen Szenen - ich nehme sie als Protokoll der Interaktionen -  fallen mir verschiedene Aspekte auf. 1. Die drei Palästinenser scheinen einen großen Teil ihres Lebens in der Bundesrepublik aufgewachsen zu sein; zwei von ihnen sind Bürger unserer Republik; einer (der Wortführer) ist über den institutionellen Rahmen zumindest etwas informiert (wir wissen, dass Deutschland hinter euch steht); sie haben Eltern, die sich für die Bundesrepublik entschieden haben und wahrscheinlich deren Bürger sind. Womit also waren und sind die drei jungen Männer, die Yoni Yahav auf sehr robuste, aggressive Weise angehen und ihn zu kränken suchten, identifiziert? Gehörten ihre verbalen Ausfälle in den Kontext ihrer adoleszenten Auseinandersetzungen mit ihren Familien, mit ihren Lebenssituationen, ihren Lebensentwürfen und inwieweit waren sie Ausdruck ihrer eigenen Auseinandersetzungen miteinander innerhalb ihrer Dreier-Gruppe? 2. Bemerkenswert ist der Austausch, der stattfand: Yoni Yahav sprach sie auf ihre Vorurteile an, sie stutzten und fragten nach. Sie waren mit der Auskunft nicht einverstanden; sie hielten an ihrem Vorurteil fest; sie gaben die aggressive Interaktion auf. 3. Die zweite Szene am nächsten Morgen setzte die erste Szene fort - die drei jungen Männer warteten. Sie warteten auf eine Bestätigung ihres Vorurteils und auf die Gelegenheit, es auszuhandeln. Weshalb Yoni Yahav sie auf seinen Diebstahlsverdacht und auf ihre Ehre ansprach, lässt sich der Szene nicht entnehmen. Man kann vermuten, dass er sich instinktiv zu wehren versuchte, indem er die Differenz einführte (Dieb und Nicht-Dieb). Vermutlich war das der Beleg, auf den die drei Männer gewartet hatten. 4. Es gibt den Versuch einer Entschuldigung. Es wäre interessant zu wissen, wer von ihnen drei zur Wohnung gekommen war und wer sie begleitet hatte. 5. Der  Tod am Ende des Berichts wirkt wie ein Fluch. Aber wie war er gemeint?

Das wissen wir nicht. Antisemitismus ist projizierter, adressierter Hass; zu ihm gehören eine eliminatorische Fantasie und ein mörderischer Impuls. Er hat eine lange, kulturell etablierte Geschichte. Es gibt einen anderen, lebensgeschichtlich gewachsenen Hass -  entstanden aus traumatisierenden Beziehungserfahrungen - , der sein Objekt sucht und gewissermaßen Projektions-bereit lauert und für Außenstehende plötzlich, ohne sichtbaren Anlass, seine Destruktivität realisiert und nachher rationalisiert. Es ist notwendig, dass die Frage nach der Qualität des Hasses und seiner möglichen antisemitischen Adressierung geklärt wird. Sie beschäftigt die Bundesrepublik seit ihrem Beginn, als ein rascher Konsensus darüber entstand, die Frage des Antisemitismus eher zu unterdrücken oder hastig abzuhaken mit einem Anfall von Empörung als zu klären. Am 29.7., vor wenigen Tagen, warfen drei (noch) unbekannte Männer mehrere so genannte Molotow-Cocktails auf die Wuppertaler Synagoge (Kölner-Stadtanzeiger vom 2./.3.8.2014, S. 10). Mit Entsetzen nahm die jüdische Gemeinde diese Tat auf. Artour Gourari, ein Gemeindemitglied, lud zu diesem Experiment ein: "Wer wissen will, ob es Antisemitismus gibt, der sollte sich mal die Kippa aufsetzen und durch die Fußgängerzone gehen". Das Experiment, ein enormes sozialwissenschaftliches Projekt, sollte unternommen werden.