Donnerstag, 30. Oktober 2014

Bundesdeutsche Regierungsakrobatik IV

Der Maut-Stuss (s. mein Blog vom 19.9.2014) kommt, lese ich heute in der SZ (30.10.2014) auf der Titelseite. Das Gesetz liegt vor; jetzt muss der Gesetzgeber die legislativen Hürden, so da welche sind, überwinden. Der Eiertanz der Koalitionäre ist jedenfalls ausgetanzt. Dreihundert Millionen Euro Einnahmen, lese ich weiter, werden erwartet. Allerdings erhalten die bundesdeutschen Autofahrerinnen und Autofahrer auf dem Postweg jeweils eine Vignette zugestellt, deren Kosten mit der Kfz-Steuer verrechnet werden. Die Einnahmen - wie sind sie wohl berechnet worden? - sind bescheiden. Allein das Porto bei ungefähr 40 Millionen Steuer-Piloten. Das Eintüten, Frankieren etc. Die Software fürs Ausrechnen, das Ausrechnen, die Bescheide... viele Arbeitsgänge. Was kosten die? Für das Polieren der Fassade der Akteure ist nichts zu teuer. Die Bundesrepublik ist ein reiches Land. Ich erinnere an die psychoanalytische Faustregel: der Geizige muss ständig mit seinem Verschwendungsimpuls kämpfen. Heute darf er feiern.

Zu Ende leben

In der Oktober-Ausgabe der U.S.-Zeitschrift The Atlantic hat Ezekiel J. Emanuel seinen enorm mutigen Text veröffentlicht: Why I Hope to Die at 75. An Argument that society and families - and you - will be better off if nature takes its course swiftly and promptly. Bernd Graff, Journalist der SZ, veröffentlichte seine Kritik am 28.10.2014 (S. 11, Nr. 248) unter dem Titel: Sterben muss man sich leisten können. Nach dem Leben sollen in den USA nun auch Geburt und Tod ökonomisch optimiert werden. So wurde ich auf Ezekiel Emanuels Arbeit aufmerksam und las sie - dem Internet sei Dank - nach. Bernd Graff hat die Arbeit missverstanden. Es geht nicht um irgendeine ökonomische Frage, sondern um die existenzielle Frage, wie wir zu leben wünschen, wann wir unser Leben für erfüllt einschätzen und wie wir uns auf unser Lebensende einstellen. Ezekiel Emanuel hält nichts vom Trost der Illusion oder Fantasie, sehr alt und sehr fit bleiben zu können. Emanuel ist ein mit der Forschung vertrauter Autor. Epidemiologische Forschung zeigt, dass die Lebenserwartung zwar steigt, aber dass ein längeres Leben sehr wahrscheinlich ein längeres Leiden bedeutet. Natürlich gibt es glückliche Ausnahmen. Die Frage ist für ihn, ob der medizinische Aufwand, das Leben im Leiden zu verlängern, das Leben wert ist. Ezekiel Emanuel sagt: nein. Deshalb hat er sich entschlossen, ab dem Alter von 75 den Prozess seines (natürlichen) Sterbens, wenn er manifest wird, weder aufzuhalten, noch zu verzögern, noch hinauszuschieben mit Hilfe medizinischer Interventionen. Sterben ist ein Prozess des Sich-Trennens vom Leben. Wie der Prozess gestaltet wird, ist eine sehr persönliche, bewusste oder nicht bewusste Entscheidung. Ezekiel J. Emanuel plädiert für die bewusste Entscheidung einer zügigen Trennung. Ich empfinde seinen Vorschlag als sehr erleichternd und entlastend.     

Mittwoch, 29. Oktober 2014

Zellen-Zauber

Das Interview von Patrick Illinger mit Edvard Moser, dem Nobelpreisträger für Medizin, wurde in der SZ (27.10.2014, S. 18, Nr. 247) in der Abteilung Wissen veröffentlicht.

Die erste Frage von Patrick Illinger: "Sie haben also das innere GPS-System des Menschen gefunden?"
Edvard Moser antwortet: "Zum Teil stimmt das. Ich würde eher sagen, meine Frau May-Britt, John O'Keefe und ich haben die innere Karte entdeckt, mit der das Gehirn räumliche Strukturen erfasst. Verschiedene Gehirnzellen übernehmen dabei verschiedene Aufgaben, um die Umgebung zu kartieren. Es fing mit O'Keefe an, der Ortszellen fand. Wir haben 30 Jahre später Ortszellen gefunden, die dem Raum eine Art gitterförmiges Koordinatensystem überstülpen. Wie eine Matrix, die sich über die Umgebung legt, in der sich eine Maus oder der Mensch bewegt".

Ich kann nur staunen: was diese Zelle alles kann. Normalerweise werden an den Synapsen chemisch-elektrische Impulse erzeugt und die so genannten Botenstoffe (von denen niemand weiß, welche Botschaft wie codiert ist ) weiter gegeben, weshalb Psychopharmaka die Regulation dieser Stoffe zu beeinflussen suchen, was ein äußerst kompliziertes und nicht immer erfolgreiches Unterfangen ist. Jetzt gelingt es den Zellen, die Umgebung zu kartieren. Wie das? Ortszellen stülpen dem Raum so etwas wie ein gitterförmiges Koordinatensystem über. Wie kann man sich das vorstellen? Überstülpen? Edvard Moser spricht in Bildern; die Bilder sind Abstraktionen. Sie machen die Zellen zu organisierenden, ordnenden Subjekten. Wie soll das gehen? Neurowissenschaftler benutzen für diesen Kontext das Bild der Verschaltung oder, wie Edvard Moser, Verdrahtung oder wie Gerald M. Edelman, Gruppierung. Die Frage bleibt: wie organisieren sich oder wer organisiert die einzelnen Zellen?

In der Gruppenpsychotherapie nimmt man die Einheit einer Gruppe an, die aus mehreren oder vielen Mitgliedern besteht. Die Zahl der Mitglieder entscheidet über die Art der Gruppe. Gruppen bewegen sich in beschreibbaren Beziehungsmustern. Diese Muster sind nicht zu sehen; man muss sie explorieren; die Mitglieder geben darüber Auskunft, was sie wie innerhalb einer Gruppe bewegt. Ein Neurowissenschaftler behauptet die Innenansicht; er hat sie aber erschlossen vom Verhalten einer Maus, wie
Edvard Moser andeutet. Man müsste die Verfahren seiner Ableitungen kennen. Gitter, Koordinaten, Verdrahtung sind Bilder und Abstraktionen anderer Disziplinen. Gelten sie auch für lebende Systeme?
Leider erfahren wir dazu nichts. Patrick Illinger bewegte sich lieber in den Bildern als die mühseligen Forschungsschritte zu rekonstruieren. So bleibt viel Zauberei im Dunkeln. In Köln gibt es ein Restaurant, da isst man im Dunkeln; blinde Kellner bedienen; will man seinen Platz verlassen, muss man um Hilfe bitten; jemand nimmt einen dann an die Hand. Im Dunklen ist man sofort verloren. Eine Maus offenbar nicht. Das GPS-System, das meinen Wagen füttert und mich orientiert, funktioniert  auch im Dunkeln.

Was lernen wir aus unserer Vergangenheit?

Am 24.10.2014 machte  die SZ ( Nr. 245) auf ihrer ersten Seite mit diesen Schlagzeilen auf:
"Berlin soll für NS-Unrecht in Italien haften. Verfassungsrichter in Rom setzen sich über den internationalen Gerichtshof hinweg: Frühere Zwangsarbeiter oder Angehörige der Opfer von NS-Massaskern dürfen Deutschland auf Schadenersatz verklagen". Im Text heißt es dann, der Autor ist Stefan Ulrich, Journalist und promovierter Jurist (im Presserecht):
"In Berlin wird schon seit langem befürchtet, dass ein solches italienisches Beispiel in anderen einst von  Nazi-Deutschland geschundenen Ländern wie der Ukraine, Russland und Griechenland Schule macht. Auch deshalb hatte sich die Bundesregierung an den Internationalen Gerichtshof gewandt. Sie argumentierte in Den Haag, die Staatenimmunität sei ein Eckpfeiler der internationalen Ordndung und diene dem friedlichen Zusammenleben der Staaten miteinander, auch und gerade nach Kriegen mit massenhaftem Unrecht".

Innerhalb des Blattes (auf S. 4)  kommentierte Stefan Ulrich das Votum der römischen Richter (S. 4). "Was würde geschehen", fragte er, "wenn die Bundesrepublik wirklich alle ausländischen Opfer des NS-Staates beziehungsweise deren  Angehörige individuell entschädigen müsste? Deutschland würde unter Millionen Ansprüchen zusammenbrechen."

Ja, was würde geschehen? "Mehr als elf Millionen Zwangsarbeiter", schreibt Klaus Körner in seiner 2001 erschienen Publikation (14 Vorwände gegen die Entschädigung von Zwangsarbeitern. "Der Antrag ist abzulehnen"), "wurden zwischen 1939 und 1945 in der deutschen Kriegswirtschaft eingesetzt" (S. 11). Inzwischen wurden von den bundesdeutschen Regierungen Entschädigungen für die Zwangsarbeiter veranlasst. 2001 wurde vom Bundestag der Stiftungsiniative der deutschen Wirtschaft die so genannte Rechtssicherheit zugestanden: dass deutsche Firmen keine Klagen aus den U.S.A. zwecks Entschädigungen zu erwarten haben. In die Fonds konnte also eingezahlt, seine Gelder  ausgezahlt werden. Würde Deutschland, müsste es weitere Gelder aufbringen - zusammenbrechen?Stefan Ulrich gibt sich in seinem Kommentar besorgt - als müsste er die bundesdeutsche Zahlungsfähigkeit schützen.

Seltsam ist, dass er sich schlecht erinnert. Die Zahlungsfähigkeit der  jungen Republik war damals, am Beginn der 50er Jahre, das konstante Argument der konservativen Regierung; das Funktionieren der Wirtschaft das spätere Argument.  Seitdem gehören das unverfrorene, großpratzige, juristisch ausgepolsterte Lavieren einer erstaunlichen, irgendwie vertrauten Gewissenlosigkeit in den Verhandlungen und die Schäbigkeit der ausgehandelten Geldzahlungen  zur Geschichte der Bundesrepublik.  Die Bildung der Machtblöcke half den westdeutschen Politikern, die im Laufe der Dekaden ihre moralischen Vorsätze vergaßen: die Kosten der Bundeswehr waren in den 50er Jahren das Argument der Verrechnung zur Reduzierung der Entschädigungskosten. Die Politik der Bundesrepublik zur Linderung des irreparablen Leids und der Schädigungen lässt sich, so Klaus Körner, auf die Formel bringen: Schutz der bundesdeutschen Firmen vor der Not, von ihrem Reichtum, der in den nationalsozialistischen Jahren entstanden war, mehr als ein Minimum abzugeben. Die Nachfahren der damaligen Verantwortlichen sind bekannt. Bundesdeutsche Gesetzgebung schützt sie buchstäblich vor Klage-Verfahren.

Die italienischen Verfasssungsrichter sind zu verstehen: es geht um die Linderung des Leids und um die Anerkennung des Unrechts. Anders als manche oder viele - wir wissen es nicht genau - Bundesdeutsche können unsere Nachbarn sich gut erinnern. Das Funktionieren von Europa hängt auch davon ab, inwieweit unsere Repräsentanten bereit sind, deren Erinnerungen zu teilen.

Dienstag, 21. Oktober 2014

Bundesdeutsche Regierungskunst II

Der Koalitionsvertrag unserer Regierung - das entnahm ich dem Bericht der SZ vom 20.10.2014 (S. 22, Nr. 241) - enthält das Projekt, den Lärm von Güterzügen (die nachts mit einem gewaltigen Rumpeln die Leute aus dem Schlaf reißen) bis 2020 zu halbieren. Was einfach klingt, ist kompliziert. Eine Voraussetzung ist: die Ausrüstung der Güterzüge mit neuen (leisen) Bremsen. Die alten Bremsen (aus Grauguss, sagt der Text) rauhen die Eisenräder auf, die dann nicht mehr rund laufen und deshalb enorm lärmen. Der Austausch der Bremsen soll bis 2016 realisiert sein. Aber so viele Bremsen können so schnell gar nicht hergestellt werden. Es werden nämlich enorm viele Waggons durch die Republik gezogen.

Zweitens. Der Koalitionsvertrag droht an, wenn die Halbierung des Lärms nicht gelingt, den Nachtverkehr der Güterzüge zu verbieten und/oder sie langsamer fahren zu lassen. Das wiederum hätte Folgen für den Gesamtverkehr; denn dann müssten Millionen Lkws den Transport der Güter übernehmen und in das System des Straßenverkehrs gepresst werden. Nichts ist einfach, heißt der Titel eines Buchs von Sempé. Eine gute Idee ist schnell entworfen; ihre Realisierung ist dann eine ganz andere Geschichte. Das kennen wir alle. Die Frage ist: haben die Koalitionäre das im Spätsommer und Herbst 2013 bedacht? Haben sich zuvor beraten und einschlägige Forschung betreiben lassen? Haben sie an die betroffenen Systeme und Subsysteme und an die Interessen ihrer Betreiber gedacht? Ich vermute: nein. Es ging so schnell, stelle ich mir vor, wie bei der so genannten Energiewende, die ja bekanntlich mit einem Moratorium des Nachdenkens, das allerdings die Funktion eines Vordenkens haben sollte, ausgerufen wurde. Möglicherweise viel schneller.    

Montag, 20. Oktober 2014

Vertrautes zur Heiligen Kuh XI

Die untere Hälfte der 5. Seite der  SZ vom Wochenende (18./19.10.2014): Audi-Werbung in Blau, Grau und Schwarz. Blick übers Lenkrad durch die Windschutzscheibe: eine riesige Rampe, von Lichtern wie auf einer Rollbahn seitlich begrenzt, führt in den Himmel. Durch das Lenkrad geschaut: Blick auf das Display, auf dem die Kuppe unseres Globus zu sehen ist, eingeblendet sind zwei Tachometer-artige Instrumente: links der Drehzahlmesser, der gute 5000 Umdrehungen anzeigt, rechts der Geschwindigkeitsmesser, der 180 km/h anzeigt. Man kann noch mehr im Display lesen. Jedenfalls ist der Wagen gut unterwegs. Keep burning, möchte ich zurufen.

Wenn man umblättert, sieht man die Automobil-Anzeige, die sich über die beiden unteren Hälften der Doppelseite fortsetzt: das rote Audi TTS Coupé fährt auf uns zu, die Rampe, die in den Himmel hineinragt, hat es im Rücken. "Realität. Nicht Vision", heißt es. Wo ist die nächste Rampe?

Freitag, 17. Oktober 2014

Anthony Horowitz

Anthony Horowitz, der in London (am 5.4.1955) geborene Autor, ist beauftragt worden, dem Werk Ian Flemings eine weitere Arbeit mit James Bond hinzufügen - der Dampfer James Bond soll  wahrscheinlich weiter tuckern. Horowitz ist ein vielseitiger Autor (Kinderbücher, Thriller, Drehbücher), ausgezeichnet als O.B.E. (Officer of the Order of the British Empire). Ich kenne ihn als den Erfinder der glänzenden Fernseh-Serie Foyle's War (sieben Staffeln) - die bei uns meines Wissens noch nie gesendet wurde. Michael Kitchen spielte den Detective Chief Superintendent Foyle, der an der südenglischen Küste (in Hastings) in Mordfällen zu ermitteln hatte in der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Die Geschichte der Jahre 1939 bis 1945 mit den deutschen Bombardierungen und der Drohung der deutschen Invasion hatte Anthony Horowitz einzeln, in seine jeweiligen Plots eingearbeitet als die kollektiven psychosozialen Erschütterungen und Beunruhigungen; das Leiden der englischen Bevölkerung, ihre Traumatisierungen beschrieb er präzis und - für mich - beschämend. Aber er beschrieb auch die institutionellen Verschiebungen - die Macht des (englischen) Militärs breitete sich aus und dominierte die lokale Exekutive und die lokale Gesellschaft; Christopher Foyle musste seinen Weg finden für die institutionell verschlungenen Ermittlungen unklarer Hierarchien und Zuständigkeiten. Die englische Geselllschaft war im Krieg, nicht nur Christopher Foyle.

Injustice ist der fünfteilige, in gut drei Stunden erzählte, ungemein spannende Fernsehfilm über die Frage, inwieweit und ob das juristische System Großbritanniens Gerechtigkeit etabliert; die Wahrheit, das wissen wir von unserem System, wird im Gerichtssaal gefunden und bestimmt. Manchmal ist es nur die halbe Wahrheit oder sogar die Unwahrheit. Der Anwalt aus Injustice, der für zwei Mandanten einen Freispruch in Verfahren zur Mord-Beschuldigung erreicht, muss danach realisieren, dass beide Mandanten schuldig sind und ihn betrogen hatten. Er hatte ihnen geglaubt. Er sorgt dann für seine eigene, mörderische Ungerechtigkeits-Gerechtigkeit. Das Thema ist vertraut, aber die Beschreibungen der institutionellen wie persönlichen Prozesse sind enorm eindrucksvoll. Anthony Horowitz ist der Autor mit dem besonderen Blick dafür, wie individuelle Konstellationen ausgelegt werden im Kontext der öffentlichen, gesellschaftlichen Prozesse. Injustice wurde vor kurzem in Arte ausgestrahlt; woraufhin ich mir die DVDs besorgte und sie in einem Durchgang ansah.      

Fremde Ohren hören manchmal besser als einheimische

Ein Schweizer Bahn-Mitarbeiter fuhr mit unserer Bahn, der DB. Er twitterte seine Erfahrungen. Sie waren ernüchternd. "In Deutschland", schrieb er (SZ vom 15.10.2014, S.1), "haben Züge keine Verspätung, sondern eine voraussichtliche Ankunftszeit". Dann blieben nur noch "Reisemöglichkeiten". Genau. Diese mit Euphemismen gespickten Tröstungen sind mir noch gar nicht aufgefallen. Die Verachtung und das Desinteresse für die auf den Bahnsteigen Gestrandeten sind enorm. Die Neigung, das Versagen nicht zuzugeben, sondern zu verwischen mit einer Verdrehung mit einem Versprechen aus dem Repertoire der Marketing-Freundlichkeit, vertraut. Und meine Neigung, nicht hinzuhören und mich zu unterwerfen, beschämend. Eine BahnCard für den Schweizer!

Mittwoch, 15. Oktober 2014

Wann ist Klatsch relevant?

Klatschen macht Spaß. Ich kenne keine Studie zur Häufigkeit dieser Aktivität, aber ich vermute: es wird täglich betrieben. Klatschen ist trivial, aber schön: es dient der Vergewisserung einer Beziehung mit dem Preis der projektiven Exklusion eines Dritten. Karl ist eine Pfeife, verständigen sich Emil und Horst; Karl ist natürlich abwesend. Das Muster lässt sich endlos variieren. Wäre Cole Porters Let's do it, let's fall in love nicht ein so herrlich elegantes Lied, könnte man es aufs Klatschen umdichten. Klatschen ist das Spiel von Inklusion und Exklusion. Wird der Klatsch einem Dritten kommuniziert, wird er zu einer - sagen wir - persönlichen (Beziehungs-)Politik. Dann wird das triviale Spiel ernst - es rumort dann in dem Beziehungsgefüge, in dem der Stein des Klatsches eine Erschütterung erzeugt.

Am vergangenen Sonntag (12.10.2014) wurde es bei Günther Jauch ernst. Der ehemalige Bundeskanzler Helmut Kohl hatte gegenüber dem Journalisten Heribert Schwan, der ihn für das Memoiren-Geschäft 600 Stunden interviewt hatte - also 24 Tage lang - , geklatscht; er hatte sich über Kollegen und Kolleginnen abfällig-robust geäußert. Heribert Schwan hat diese Äußerungen in ein Buch eingearbeitet, das jetzt auf dem Markt ist; der SPIEGEL hatte mit einem ausführlichen Bericht die Publikation eingeläutet. Ist es wichtig, diesen Klatsch zu kennen?

Darüber stritten die Anwesenden. Je nach Interessenlage fiel die Antwort aus. Die Journalisten waren dafür, der Anwalt Helmut Kohls und der ehemalige bayrische Ministerpräsident dagegen; Frau Seebacher-Brandt votierte für das demokratische Recht der freien Meinungsäußerung. Was nun? Man kann ein paar Regeln daraus ableiten. 1. Wer klatscht, sollte ganz sicher sein, dass der andere nicht klatscht; es sei denn, man möchte, dass der andere klatscht. 2. Klatsch ist an den oder die, über den oder die geklatscht wird, nicht adressiert; also ignoriert der oder die Beklatschte am besten (zur eigenen Psychohygiene) ihn wie eine verkehrt zugestellte Post. 3. Wer klatscht, sucht die Beziehungs-Vergewisserung und benutzt - vielleicht - auch den Klatsch als Macht-Mittel; wer klatscht, arbeitet also mit bescheidenen Beziehungs-Mitteln. 4. Wer klatscht, sagt viel über die eigene Bedürftigkeit. 5. Klatsch gehört in den Kontext der Vergewisserung; deshalb sagt er gar nichts über den oder die, dem oder der der Klatsch gilt.

Aber Helmut Kohl hatte nicht nur geklatscht, wurde in der Sendung bekannt: er hatte die Effektivität der Herbst-Demonstrationen für die Auflösung der Deutschen Demokratischen Republik bezweifelt; in deren ökonomischer Not sah er den entscheidenden Grund. Das war nicht neu, bestätigte meine Erinnerung. Denn damals wurde der Sieg des Kapitalismus mächtig gefeiert - die Idee der Demokratie weniger. Die Frage, wie öffentlicher Protest und internes Macht-Kalkül sich beeinflussen, wurde nicht diskutiert. Das wäre eine eigene Sendung gewesen. Helmut Kohls Vermutung wurde aus der Perspektive des Klatschens verstanden: er hatte sich in dem öffentlichen Kontext anders geäußert als im internen Kontext. Womit wir 6. bei dem Grundproblem von Privatheit und Öffentlichkeit sind und 7. bei der Diskrepanz von verschwiegener und veröffentlichter Politik. 8. Die Wahrheit des Klatsches gibt es nicht: der Klatsch ist bezogen auf einen bestimmten Beziehungskontext; über die zugrunde liegenden Beziehungsprozesse sagt er nichts. Für das Verständnis politischer Prozesse ist er irrelevant. 9. Wie immer müssen wir unseren eigenen Reim machen (s. meinen Blog vom 22.9.2014). Die Zentren der Macht erfahren wir meistens erst später. 10. Auch nicht, was im Zentrum der A.R.D.-Macht läuft und wie es zu dieser Sendung, die (offenbar) mit dem Vergnügen am Klatsch ihre Quote zu erzielen suchte, kam; auch der talk, das ist nicht neu, ist ein Geschäft und spielt mit der Inklusion und der Exklusion: wehe dem, der klatscht

Die bundesdeutsche Katastrophe

"Kinderarmut wächst wieder", meldete die SZ auf ihrer ersten Seite in ihrer Wochenend-Ausgabe vom 11./12. 10.2014. Wieder ist ein Euphemismus: sie war nie zum Stillstand gekommen. Auf Seite 6 wird die Meldung erläutert:

"2007 lebten nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit (BA) im Durchschnitt 16,8 Prozent der unter 15-Jährigen in in Hartz IV-Haushalten. Der Wert sank bis 2012 auf 15 Prozent, was die Arbeitsagentur als Erfolg wertete". Jetzt liegt der Prozentanteil bei 15,7. "Für viele der 1,64 Millionen Jungen und Mädchen bedeutet dies: einmal Hartz IV, viele Jahre Hartz IV". Vor allem bei den Jüngeren wäre davon auszugehen, zitiert Thomas Öchsner von der SZ eine Studie des DGB: "dass sie direkt in Hartz IV-Verhältnisse hineingeboren wurden. Damit ist das Risiko einer dauerhaften, quasi vererbten Hilfsbedürftigkeit hoch". Als Sozialisationsfolgen für die Kinder nennt der DGB-Forscher Adamy: dass die Eltern "als Vorbilder ausfallen" bei sinkendem Selbstwertgefühl, Sinnkrise und mangelnder sozialer Teilhabe. Armut ist schrecklich; die psychosozialen Folgen sind verheerend. Die Eltern fallen für ihre Kinder als Eltern aus. Und was machen die Kinder?

Der DGB empfiehlt geförderte Arbeitsplätze. Arbeitsverhältnisse sind dringend notwendig; keine Frage. Aber man muss befürchten, dass die Lebensbedingungen in Armut dauerhaft schädigen mit chronischen Folgen. Aufwändige, großzügig geförderte sozialwissenschaftliche Forschung zu den Sozialisationsfolgen von Armut sind dringend notwendig. Wir haben offenbar eine Regierung, die viel nach draußen schaut (Ukraine, ISIS, Ebola, Flüchtlingsströme - wobei in der Nachkriegszeit die junge Republik 14 Millionen so genannter Flüchtlinge mit einigem Gezeter integriert hat; das ist doch enorm und lässt sich sehen)  und dort die entscheidenden Gefahren wittert, auf ihren Pfenningen sitzt, aber wie gelähmt scheint, wenn es darum geht, sich um die Lebensbedingungen in unserer Republik zu kümmern.

Heute, in der SZ, auf Seite 6 (15.10.2014) : "Flüchtiges Potenzial. Wer nach Europa will, ist arm und ungebildet? Eine Migrationsstudie zeigt, dass das Gegenteil der Fall ist. Um Lücken auf dem Arbeitsmarkt zu schließen, will das Auswärtige Amt die Asylpolitik völlig neu ausrichten". Das sagt doch genug. Der Blick ins Portemonnaie macht nachdenklich und aufgeschlossen.  In den  60er Jahren hatten wir die so genannten Gastarbeiter, die wir  nicht wie Gäste behandelten. Sie blieben und halfen, die Bundesrepublik zu einem bunten Land zu machen. Und nun?




Montag, 13. Oktober 2014

Big Neuro

Wie das Gehirn die Seele macht heißt das neue Buch von Gerhard Roth, der es zusammen mit Nicole Strüber geschrieben hat. Der Titel gibt die Reihenfolge und die Kausalität vor: erst das Gehirn, dann die Seele.  Auf Seite 18 (ihrer Einleitung) schreiben sie: "Nach den Erkenntnissen der Hirnforschung scheint das neuronale Geschehen die psychischen Erlebniszustände zu verursachen und nicht umgekehrt". Geht es auch anders herum? Erst die Seele, dann das Gehirn? Auf Seite 15 schreiben sie: "Gefühle können unseren Körper ergreifen". Ihre Beispiele sind: Freude, Furcht, Angst, Stress. Nein, es geht nicht anders herum. Die Autoren bewegen sich in einem Reiz-Reaktions-Schema. Rezeptoren wählen aus, reagieren auf unsere Umwelten und organisieren die wahrgenommenen Reize, wodurch die chemisch-elektrischen, neuronalen Prozesse in Gang gesetzt werden. Erst das Gehirn, dann die Seele. Wir sind zweigeteilte Wesen: der eine kommandiert, der andere folgt.

Die Behauptung der Abfolge ist die Folge der experimentellen Methode. Wer in der Röntgen-Röhre liegt, ist auf die Anweisungen des Experimentators angewiesen, der ihm zuruft, woran er denken soll. So erweist sich die experimentelle Anordnung als theoretische Entscheidung. Die Idee der Abfolge dient auch der Etablierung der Macht-Position. Das (vermeintliche) Nacheinander und Auseinander - erst der Körper und dann der Geist oder die Seele - bestimmen die Sitzordnung: in der ersten Reihe sitzen die Naturwissenschaftler, in der zweiten Reihe lassen sie die Geisteswissenschaftler Platz nehmen. Gerhard Roth und Nicole Strüber führen einen Rechtfertigungskampf. "Zwar werden die meisten Neurobiologen zugeben", räumen sie ein, "dass sie psychische Erkrankungen noch nicht (die kursive Schreibweise ist ihre Betonung) in allen ihren Details neurobiologisch erklären können. Aber was ist in vielleicht 20 Jahren? Können wir dann das diagnostische Gespräch des Therapeuten nicht doch durch eine gründliche Untersuchung des Patientengehirns ersetzen?" (S. 18). Ersetzen. Das ist die Katze aus dem Sack. Ersetzt werden sollen die menschliche Beziehungen. Beziehungen kann man  nicht mit einem Röntgen-Gerät untersuchen. Sie sind ein unsichtbares Geschehen. Gerhard Roth und Nicole Strüber haben das Beziehungs-lose Individuum vor Augen. Sie bewegen sich in einem Nirgendwo. Inzwischen sind wir im 21.Jahrhundert und interessiert an der Komplexität von Beziehungsprozessen in unterschiedlichen Einheiten, Gefügen und Organisationen. Familiäre Sozialisationsprozesse, psychosoziale, gesellschaftliche und politische Prozesse lassen sich ebenfalls nicht in die Röntgen-Röhre schieben. Neurowissenschaftliche Untersuchungen sind Forschung zu unserer Grundausstattung. Wenn sie wie in der Arbeit von Gerhard Roth und Nicole Strüber als Versprechen Beziehungs-loser Eingriffe in die individuellen, neurologisch verstandenen Regulationen dienen, überziehen sie ihr wissenschaftlich begründbares Konto mächtig. Big Data und die mit ihnen verbundenen Industrien und Organisationen in Sachen weitreichender Kontrolle und weitreichendem Konsum beunruhigen uns enorm; Big Neuro und die mit ihnen verbundenen Industrien und Organisationen in Sachen weitreichender Infantilisierung und Reduktion menschlicher Komplexität offenbar wenig.

Überarbeitung: 19.3.2015.

Freitag, 10. Oktober 2014

Politik-Lektüre VII: Im Hamsterkäfig

Cartoons lesen politische Prozesse manchmal auf herrlich mehrdeutige, aber dennoch prägnante Art. Gestern die Zeichnung von Dieter Hanitzsch in der SZ (8.10.2014, Nr. 231, S. 4): In der linken Bild-Hälfte rennt Ursula von der Leyen (im schwarzen Hosenanzug und in schwarzen Pumps) mit großen (Sprinter-) Schritten im Hamsterrad, das an einer Halterung mit einem Fuß befestigt ist, auf dem steht: Verteidigungsministerium. Rechts im Bild schaut Angela Merkel, riesengroß,  interessiert zu. Das Bild eines Macht-Verhältnisses: die Kanzlerin lässt rennen. Wird Ursula von der Leyen sich erschöpfen und aufgeben? Wird jemand die Quälerei beenden?

Ein ungleicher Machtkampf findet statt. Ist er ungleich? Nico Fried hat auf derselben Seite den Machtkampf gelesen und kommentiert:
"Es ist freilich undenkbar, dass von der Leyen jemals stark genug sein wird, Merkel zu stürzen. Wenn sie Kanzlerin werden will, müsste Merkel nicht nur die Lust am Amt verlieren, sondern von der Leyen in der Fraktion helfen, in der die Ministerin viele Gegner und wenig Freunde hat. Das vermag Merkel nur, solange sie selber eine klare Mehrheit besitzt. Von der Leyen kann also nur ohne Merkel Kanzlerin werden - aber ohne Merkel wird sie niemals Kanzlerin. Und wenn das so ist, kann Merkel natürlich auch einfach weiterregieren".

Wie wär's mit einem Blick in das Verteidigungsministerium - weg vom Hamsterrad? Wer hat was zu verantworten?

Akademische Publikumsbeschimpfung

"Das Erste, was ich von meinen Studenten im April des Jahres 2000 sah, waren diese großen Wasserflaschen aus Plastik. Während einer Doppelstunde Regierungslehre schafften viele locker einen Liter", beginnt Christiane Florin ihren Klage-Text Warum unsere Studenten so angepasst sind. Das Erste, was sie von ihren Studentinnen und Studenten wahrnahm, waren sicherlich nicht die Wasserflaschen, sondern war ihr irriterter Gesamteindruck, den sie nicht beschreibt, sondern mit der Metapher des großen Dursts andeutet - die Dozentin konnte ihre Zuhörerschaft schlecht ausrechnen und fühlte sich offenbar in der asymmetrischen Beziehung des Lehrens unwohl. Klagen sind  Anklagen, lautet eine psychoanalytische Faustregel. Auf achtzig Druckseiten macht Christiane Florin eine Reihe von Vorwürfen: ihre Studenten sind halbherzig bei der Sache, ihnen fehlt die Leidenschaft für die Disziplin der Politikwissenschaft; für die renommierten Autoren wie Adorno, Enzensberger oder Weber können sie sich nicht begeistern; sie tun, was man ihnen sagt, und lesen nur soweit, wie aufgegeben; sie fragen nicht nach und widersprechen nicht; Diskussionen um die Sache entstehen nicht; sie haben zuerst sich im Blick und dann ihr Fach; sie sind - zu nett. Zu cool, zu sehr mit ihrem Fortschritt, aber nicht mit der Substanz ihres Studiums beschäftigt.

Christiane Florin ist enttäuscht und ernüchtert; ihr Text ist ein Dokument des Unverständnisses; die Studenten sind ihr fremd. Sie sind anders. Die Klage über die jungen Leute ist uralt. Das weiß natürlich auch Christiane Florin. Sie weiß auch, dass sie ihnen die Last unserer Moderne aufbürdet. Hier und da ist sie mit ihrer didaktischen Form selbstkritisch. "Die Studenten, über die ich hier so pauschal geschrieben habe, werden es wahrscheinlich weit bringen", lautet ihr vorletzter Satz. Ihr letzter: "Und: Meine Altersklasse ist bisher den Beweis schuldig geblieben, dass sie Bundeskanzler nicht nur aufzählen kann, sondern auch einen hervorbringt" (S. 80).

Peter Handkes Stück Publikumsbeschimpfung kam 1966 auf die Bühne; ich sah es ein paar Jahre später in einer Fernseh-Inszenierung. Damals dachte ich: das Stück funktioniert nur, wenn man nicht widerspricht. Heute widerspreche ich als Vater, der sich wundert. 1. Die asymmetrische Beziehungswirklichkeit in einer Vorlesung oder einem Seminar berücksichtigt Christiane Florin unzureichend. 2. Die hohen Erwartungen der Dozentin behindern; es ist ganz natürlich, dass die eigenen Idealisierungen nicht geteilt werden. Die jungen Leute - wie ich damals auch - wollen für ein Fach gewonnen werden. Das gelang Christiane Florin, wie sie schreibt; allerdings behagte ihr nicht, in die Nähe des show-Geschäfts zu geraten. Wie vermittelt man die Grundlagen eines Faches? Einer Wissenschaft? Wissenschaft ist kompliziert und macht viel Arbeit - um Karl Valentin zu paraphrasieren. Wahrscheinlich braucht die Vermittlung viel Zeit - mehr als heute eingeräumt wird. Crash-Kurse benötigen viel Personal. Dafür können die Studenten nichts. 3. Verständnis-Versuche wären nicht schlecht; wahrscheinlich ist es heutzutage klug, seine Kräfte sorgsam einzuteilen. Früher war das Abitur die Klippe; danach fing - ohne Numerus Clausus - das Leben an. Heute beginnt es offenbar erst nach den akademischen Examina. 4. Man ist gut beraten, wenn man - wie den eigenen Kindern - der jungen Generation zutraut, unsere Welt vernünftig in Gang halten zu können; sie muss und sie wird es anders tun. Man ist gut beraten, wenn man den eigenen Weg nicht zum  Standard macht. Man ist gut beraten, wenn man beim Älterwerden nicht zu sehr den (langsam) zunehmenden Verlust an Zukunft beklagt.

Montag, 6. Oktober 2014

Ein Worte-Fund

Sebastian Vettel wechselt zu Ferrari. Das ist doch was. Elmar Brümmer schrieb heute in der SZ darüber (6.10.2014, Nr. 229, S. 25). Sebastian Vettel war hin und her gerissen, so Brümmer, zwischen Dankbarkeit für den alten Arbeitgeber (Red Bull) und ... das sagte er erst im nächsten Satz. Der lautete: "Dagegen steht sein Ehrgeiz, die beinahe pathologische Abneigung gegen Niederlagen". Die beinahe pathologische Abneigung gegen Niederlagen. Das ist ein Wort. Wofür? Ich wüsste gern, neugierig wie ich bin, welche Beobachtung zu dieser Formel gehört. Wie kann man am Steuer eines Rennwagens so uncool vor Ehrgeiz sein? Wie immer, sagte Ludwig Marcuse, ist alles komplizierter.  

Facebook und die Konformität

Das Netz - diese Groß-Struktur, die wir wie alle Strukturen nicht ohne weiteres sehen, in der wir uns aber (irgendwie) bewegen können (wie ich hier) - ist der Grund oder Anlass (wie man will) für unseren
kulturellen Untergang. Als Kinogänger, der 1950 zum ersten Mal eins dieser (damals) plüschigen Film-Theater aufsuchte, kommt mir dieser apokalyptische Tonfall vertraut-heimelig vor. Damals war das Kino der Grund allen Übels, dann kam das Fernsehen (Wir amüsieren uns zu Tode), dazwischen die comics, die einem das Lesen abgewöhnten, dann kam die Gewalt im Kino, dann die Gewalt im Fernsehen - und jetzt das: Netz. "Google, Facebook und Twitter fördern Konformismus. Wer unpopuläre Meinungen vertritt, geht unter", schreibt heute Johannes Boie in der SZ (6.10.2014, Nr. 229, S. 9). Der Konformitätsdruck. "Im Netz", so Johannes Boie, "kann man dieses Phänomen beobachten wie nirgends sonst". Ich hatte immer gedacht, die Konferenzen, in denen die Chefs ihre Politik behaupten, wären der beste Ort fürs Studieren des Anpassungsdrucks.

Ich bin, obwohl ich dort registriert bin, kein Kenner des facebook. Es ist mir zu umständlich, und außerdem verirre ich mich regelmäßig in den verschiedenen Rubriken. Neulich entdeckte ich eine Nachricht an mich, die vor gut einem Jahr an mich gesendet worden war. Meine Tochter ist eine virtuose Nutzerin; mit ihr tausche ich mich darüber regelmäßig aus. Wie immer muss man sich gut erinnern an die eigene Zeit der Adoleszenz - die war enorm schwierig. Ich ertappe mich manchmal dabei, wie ich fantasiere: was wäre gewesen, hätte es damals facebook gegeben? Wahrscheinlich hätte ich nicht Stunden vor dem schwarzen Telefonapparat gesessen und auf den Anruf meiner Schulfreundin gewartet. Facebook ist doch offenbar aus dieser Not entstanden: als ein Mittel der Selbst-Präsentation mit der Absicht, jemanden, an die oder an den sie adressiert ist, zu gewinnen; als ein Mittel der Selbst-Vergewisserung, wozu viele adoleszente Freundschaften dienen; und als ein Mittel der Inklusion. Facebook ist veröffentlichter Klatsch und die mehr oder weniger gut kontrollierte Weitergabe der Bewegungen des inneren Dialogs. Während ich früher stundenlang im inneren Dialog mit meiner Schulfreundin sprach, kann man heute diesen sehnsuchtsvollen, quälenden Prozess abkürzen.

Was ist schlimm daran? Natürlich gibt es die mit den Veröffentlichungen innerer Prozesse verbundenen unbarmherzigen Ausgrenzungen und Hetzjagden. Die waren früher - ich spreche von den 50er Jahren -
auch gang und gäbe. Wahrscheinlich, so beobachte ich es bei meiner Tochter, verändert sich der Umgang mit facebook in dem Maße, in dem sich die experimentellen adoleszenten Beziehungen verändern - dann schaut man, ähnlich wie man es mit den eigenen Eltern macht, mal rein und sieht, was läuft.  

Mittwoch, 1. Oktober 2014

Was war los im Frühjahr 1945?

"Die innere Spaltung", ist Joachim Käppners Text in der SZ (1.10.2014, S. 11) überschrieben; er wird mit den Unterzeilen erläutert: "'Das Judenproblem ist eine Lebensfrage': Neue Forschungen belegen, dass einige Vertreter der ersten SZ-Generation den nationalsozialistischen Völkermord propagandistisch begleitet haben". Hermann Proebst und Hans Schuster waren die beiden Journalisten, die über ihren nationalsozialistischen Eifer nach 1945 schwiegen; sie waren in der jungen Bundesrepublik angesehene Autoren. Wie passt das zusammen? Joachim Käppner bietet die Spaltung als Erklärung auf. Die Spaltung ist ein mechanisches Konzept: aus Eins wird Zwei. Nein, es geht um die Verweigerung, widersprüchliche, beschämende, änstigende Handlungen in eine Haltung zu integrieren. Friedrich Nietzsche hat dazu den Aphorismus geprägt: "Das habe ich getan, sagt mein Gedächtnis. Das habe ich nicht getan, sagt mein Stolz. Schließlich gibt mein Gedächtnis nach". Was machte es im Frühjahr 1945 (und später) so schwer oder nicht möglich, über seine Handlungspraxis vor dem Frühjahr 1945 zu sprechen? War es  der Stolz? Die Beschämung? Oder die Furcht vor Bestrafung? Diese Frage ist noch nicht ausreichend beantwortet.

Zu einem Muster wissenschaftsjournalistischer Berichterstattung

Heute, am 1.10.2014, berichtet Christian Weber in der SZ (Abteilung Wissen; S. 16) über die Forschungsarbeit von Jule Specht (Berlin), Maike Luhmann (Köln) und Christian Geier (Logan, Utah). Sie hatten an zwei großen Datensätzen, die eine Stichprobe von mehr als 23.000 Befragten ergaben, so Christian Weber, die Frage der Persönlichkeitsveränderung  verfolgt. Fazit: Menschen verändern sich über ihre gesamte Lebensspanne. Christian Weber zitiert Jule Specht: "Es gab bislang bloß zu wenige Studien, die bis ins hohe Alter reichen; wenn man auch diese Gruppe betrachtet (die über 70-Jährigen), stellt man fest, dass die Veränderungen wieder größer werden - das ist die Neuigkeit".

Christian Webers Text bewegt sich in drei Texten: 1. Es gibt etwas Neues; 2. Sigmund Freud hatte Unrecht; 3. objektive Forschung ist statistische Forschung. Dazu lässt sich Folgendes sagen: 1. das Neue ist nicht neu; 2. Sigmund Freud hatte nicht Unrecht; 3. objektive Forschung ist Hypothesen-geleitete Forschung.

Zu 1. Zwei Gegenbeispiele. Erik Homburger Erikson veröffentlichte 1959 seine Arbeit Identität und Lebenszyklus. Im letzten Lebenszyklus, so Erikson, wird die Lebensbilanz gezogen; die Lebensbilanz entscheidet über die Einstellung zum Sterben und zum Tod; die letzte Lebensphase ist die schwierigste Lebensaufgabe - buchstäblich. Max Frisch, der kluge Beobachter des Alterns, registrierte in seinem 1972 erschienenen Tagebuch 1966 - 1971 das eigene Schmelzen des Vorrats an Zukunft. Zu 2. Christian Weber schreibt: "Die von Sigmund Freud inspirierte Vermutung, wonach die Erfahrungen der allerersten Jahre das ganze Leben überschatten, gilt ohnehin seit Langem als überholt". Donald Woods Winnicott, Pädiater und Psychoanalytiker, bilanzierte seine pädiatrische Praxis: dass von den ungefähr 25.000 Kindern, die er gesehen hatte, die meisten mit einem ausreichend guten Entwicklungsprozess ins Leben gestartet waren. Sigmund Freud machte die Geschichte seelischer Entwicklung zum methodischen wie theoretischen Grundprinzip; man muss ihm zugute halten, dass er zuerst die Anfänge einer Lebensgeschichte fokussierte und das fortgeschrittene Alter spät in den Blick nahm. Seine Einschätzung, dass eine Psychotherapie in der zweiten Lebenshälfte wenig aussichtsreich sei, gilt nicht mehr; inzwischen ist Psychotherapie für hohes Alter möglich und belegt damit die Plastizität unserer Lernfähigkeit. Zu 3. Korrelationsstudien sind dann sinnvoll, wenn sie Hypothesen testen; häufig ähneln sie dem Stochern im Heuhaufen und überlassen es den statistischen Verfahren, Zusammenhänge zu beschreiben, deren Auslegung spekulativ bleibt. Zu den statistischen Verfahren der Studie sagt Christian Weber wenig.

Für Christian Webers wissenschaftsjournalistischen Text lässt sich konstatieren: der Autor unternahm keine Einordnung der referierten Forschung in den Kontext der relevanten Forschung; er spielte quantitative gegen qualitative Forschung aus; das der Studie zugrunde gelegte Konzept von Persönlichkeitsveränderungen kritisierte er nicht; er monierte die Rückständigkeit psychoanalytischer Forschung, die, wie das gängige Ressentiment lautet, Sigmund Freuds Konzeptionen nicht weiter entwickelt hat.

Politik-Elend

Zwei Beispiele.
1. Die Schlagzeile der SZ heute (1.10.2014) auf der ersten Seite:
"Bund gibt kein Geld für Flüchtlingsheime". Unterzeile: "Innenminister Thomas de Maizière weist die Forderung der Länder nach mehr finanzieller Hilfe zurück". Seine Begründung: es wäre nicht sinnvoll, so der Bericht der SZ: "Jeder habe seine Aufgaben zu erledigen, und die des Bundes sei es, die Asylanträge möglichst rasch zu bearbeiten". Wenn doch wenigsten darüber nachgedacht würde, wie eine großzügige Lösung aussehen könnte, um die Verzweiflung und Demütigung der Hilfebedürftigen zu mildern! Dankbarkeit ist offenbar kein politisches Motiv. Fünf Billionen Euro beträgt das bundesdeutsche Privatvermögen. Ich glaube, Viele würde gern helfen.
2. Die SZ auf Seite 30: "Armut macht dick", ist der Text von Nina Baier überschrieben: "Untersuchungen von bayrischen Erstklässlern zeigen: Kinder aus sozial schwachen Familien neigen häufiger zu Übergewicht. Die Landtags-SPD mahnt deshalb mehr Sport an Schulen an". Wer bezahlt die Turnschuhe der Kinder? Wie wär's mit Initiativen zur Linderung der Armut? Wer hilft den in Armut lebenden Eltern?