Freitag, 27. März 2015

Nicht-Wissen und Nicht-Wissen-Wollen

Der Flug der Germanwings ist eine Katastrophe, die vermutlich irreparables Leid auslösen wird - bei den Angehörigen der verunglückten Passagiere und bei den Angehörigen des Piloten Andreas Lubitz: die Zeit heilt nicht gravierende Verluste. Dass Andreas Lubitz die Katastrophe intendiert und initiiert zu haben scheint, ist eine entsetzliche Interpretation der letzten Aufzeichnungen des Schweigens (des Co-Piloten) und der identifizierten Geräusche. Die öffentliche Diskussion rätselt über die Motive seines Handelns. Beabsichtigter Suizid ist die Auslegung der französischen Staatsanwaltschaft. Die Bild-Zeitung titelte heute Morgen: "Der Amok-Pilot". Der Chef der Süddeutschen Zeitung, Kurt Kister, titelte seinen Kommentar (27.3.2015, S. 4, Nr. 72): "Herostratos im Cockpit". Wie immer sucht die öffentliche Diskussion nach schnellen Erklärungen - oder zumindest nach Metaphern, die erklärende, vertraute Narrative in die erschütterte, labilisierte Welt-Perspektive setzen. Sie dienen der Beruhigung und sie kürzen den Verständnis-Versuch ab.

Kurt Kister verfügte: "Welche Motive den Mann dazu gebracht haben, ist letztlich bedeutungslos". Wieso ist ein Verständnis der Motive letztlich bedeutungslos? Es  ist bedeutungsvoll. 1. Es ist wichtig zu verstehen, wie, wo und wann gewalttätige Handlungen sich in reparativen Fantasien vorbereiten, welche regulative Funktion sie für die Balancierung des Selbst haben und wie und wann sie realisiert werden und auf eine sprachlose Weise sprechen.  2. Ein Verständnis der Motive bietet keinen Trost des immensen Leids, aber eine gewisse Distanzierung von dem ersten Eindruck der Monstrosität des Piloten: er bekommt eine Geschichte und damit ein menschliches Leben, auch wenn es schrecklich entgleist zu sein scheint. 3. Der Abgrund menschlicher Existenz wird vielleicht weniger tief. 4. Der Pilot Andreas Lubitz scheidet als Aufregungslieferant aus.

Soweit sind wir nicht. Die Frage und die Genese des Suizids sind ungeklärt: seine Geschichte, seine lebensgeschichtliche Ableitung, der Prozess vom Fantasieren des destruktiven Impulses bis zur Realisierung, sein Adressat. Suizide gehören zu einer Beziehung. Man müsste sie kennen, um einen Selbstmord rekonstruieren zu können. Möglicherweise waren andere Prozesse relevant. Wir wissen es nicht. Möglicherweise werden wir sie nicht erfahren können. Der Einzige, der Auskunft hätte geben können, war Andreas Lubitz. Das Nicht-Wissen auszuhalten, ist schwer, das Nicht-Wissen-Wollen zu empfehlen, anmaßend.

Am Ende seines Textes schreibt Kurt Kister:

"Eines ist sehr wichtig: Menschen mit psychischen Problemen bedürfen des Respekts und der Hilfe. Man wird dadurch Ausnahmekatastrophen nicht verhindern können. Aber vielleicht kann man so auch einem Verzweifelten vermitteln, dass nichts von größerem Wert ist als das Leben. Jedes Leben". So widerspricht Kurt Kister seiner ersten Empfehlung und endet mit einer rührseligen, diffusen Empfehlung. Wir wissen nicht, was Andreas Lubitz wollte. Der Verweis auf Menschen mit psychischen Problemen ist tückisch. Wir wissen auch nicht, was Andreas Lubitz bewegte.

Die lautlosen Schreie eines Verzweifelten sind schwer zu hören.

Überarbeitung: 31.3.2015.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen