Mittwoch, 28. Januar 2015

Auschwitz, 27. Januar 2015

"Wenn man von der Tortur spricht, muß man sich hüten, den Mund voll zu nehmen", schreibt Jean Améry in seinem Buch Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten (S. 47). Er schreibt dort weiter: "Was mir in dem unsäglichen Gewölbe von Breendonk zugefügt wurde, war bei weitem nicht die schlimmste Form der Folter. Mir hat man keine glühenden Nadeln unter die Fingernägel getrieben, noch hat man auf meiner nackten Brust brennende Zigarren ausgedrückt. Nur das stieß mir dort zu, wovon ich später noch werde erzählen müssen; es war vergleichsweise gutartig, und es hat auch an meinem Körper keine auffälligen Narben zurückgelassen. Und doch wage ich, zweiundzwanzig Jahre nachdem es geschah, auf Grund einer Erfahrung, die das ganze Maß des Möglichen keineswegs auslotete, die Behauptung: Die Tortur ist das fürchterlichste Ereignis, das ein Mensch ins sich bewahren kann" (S. 47 - 48).

Was mich stört, ist die Routine, mit der über die Barracken des Terrors und des Mords gesprochen wird: Auschwitz und Holocaust. Gestern, in den Tagesthemen, wurden einige Überwältigte - um Jean Amérys Wort zu gebrauchen - vor laufender Kamera und offenem Mikrofon befragt - mit der eingeblendeten Zeile: Holocaust-Überlebende. Ein unangemessenes Unterfangen, sich dem irreparablen Leid zu nähern. Holocaust-Überlebende ist eine Formel, die weit entfernt ist von der erlebten Wirklichkeit der systematischen Entmenschlichung in den Anlagen des Mordens. Sie dient der Beruhigung.

"Man kann nicht fassen, was in Auschwitz geschah", schreibt Matthias Drobinski in der Süddeutschen Zeitung vom 28.1.2015 (S. 4). Warum nicht? "Der tiefere Grund aber", führt er später im Text aus, "ist die Angst, die Unfähigkeit und manchmal auch der Unwille, in den Abgrund zu schauen, der sich auftut, wenn man an Auschwitz denkt, an das Unfassbare, das Mark und Seele Erschütternde: Der Boden ist dünn, auf dem wir stehen". Nein, er ist einigermaßen dick: denn wir leben in einer demokratisch verfassten Gesellschaft, deren Institutionen intakt sind. Sobald die nationalsozialistische Regierung sich Anfang 1933 etabliert hatte, begann sie die demokratische Verfasstheit Deutschlands zu zerstören und die Entdifferenzierung der Gesellschaft mit der legitimierten Illegitimität grenzenloser Willkür zu beschleunigen. An den Prozess der Entdifferenzierung muss man denken, um die mörderische Orgie, die nicht nur in den Anlagen des Mordens realisiert wurde, sondern ebenso von den so genannten Einsatztruppen der so genannten Schutz Staffel im Osten Europas, zu verstehen zu versuchen.

"Es waren keine Wesen vom anderen Stern, die die Menschen in die Gaskammern trieben", schreibt Matthias Drobinski weiter, "es war die Generation der Eltern, Großeltern und Urgroßeltern der heutigen Deutschen". Ja, wer war es? Die Generation ist unscharf. Es fehlt schwer, die Mörder in den Blick zu nehmen. Es fällt schwer, in den von Matthias Drobinski angedeuteten Abgrund zuschauen - in den Abgrund des Vergnügens an der Macht, am Sadismus, an der psychischen Vernichtung und am Mord: am Triumph der Vaterlosigkeit und der Zerstörung der legitimierten gesellschaftlichen Ordnung. Nie wieder Auschwitz ist ein nobler, für eine demokratisch verfasste Gesellschaft Realitäts-ferner Appell, eine legitimierte mörderische Praxis zu verhindern. Verhindern müssen wir eine Praxis der beschämenden und kränkenden Exklusion und ein Klima des unkontrollierten Ressentiments, das unsere Bewegungen in der Öffentlichkeit bedroht und einschüchtert. Es wäre gut, wenn der Appell des Nie wieder Auschwitz sich in einer Politik der Großzügigkeit auswirken könnte, die daran interessiert ist, vergangenes (von den deutschen Herren begangenes) Leid und gegenwärtiges Leid zu entschädigen und zu kompensieren, und die darauf drängt, die Standards unserer Verfassung strikt zu behaupten und durchzusetzen, und sie nicht aus parteipolitischem Kalkül des Geschäfts mit der Macht halbherzig vertritt.

Montag, 26. Januar 2015

Die Diplomatie des Kränkens II

Der Bundessicherheitsrat hat den Export von Waffenlieferungen in das saudi-arabische Königreich untersagt. Der Beschluss, rekonstruiert heute Claus Hulverscheidt in der Süddeutschen Zeitung (26.1.2015, S. 5), sei keine Reaktion auf die monströse Bestrafung des Bloggers Raif Badawi. Das Königreich, "zweitgrößter Erdölproduzent der Welt", sei weiterhin "ein wichtiger Handelspartner".

Den Besuch zum Tod des Königs Abdullah sagten der Bundespräsident und die Bundeskanzlerin ab; der ehemalige Bundespräsident Wulff wurde als Ersatzmann dorthin gebeten. Aus dem Vereinigten Königreich reisten Prinz Charles und Premier David Cameron an, aus Spanien Felipe VI., aus Frankreich der Präsident Francois Hollande, aus Indien Barack Obama. Der bundesdeutsche Ersatzmann war sicherlich gern gesehen.  

Bundesdeutsche Regierungskunst VI

Die Bundesregierung schiebt ihre Verpflichtungen vor sich her: beim Grundfreibetrag, beim Kinderfreibetrag und beim Kindergeld (s. Süddeutsche Zeitung 26.1.2015, S. 19). Die Beträge müssen, verfassungsrechtlich bestimmt, angehoben werden. Beim Grundfreibetrag, der seit Anfang dieses Jahres erhöht werden muss, hat die Regierung in diesem Monat 67 Millionen Euro gespart - jedenfalls noch nicht gezahlt. Beim Kinderfreibetrag und beim Kindergeld summiert sich die ausstehende und anstehende Summe, wenn ich richtig gerechnet habe, auf über eine Milliarde Euro. Wahrscheinlich ist die Software, mit der die Umstellung eingerichtet wird, zu langsam.

Die Kunst des Kränkens

Sie ist natürlich keine Kunst. Die Kunst besteht darin, seine Auffassung so zu sagen, dass jemand, der anderer Auffassung ist, sich nicht wie mit einer nassen Badehose ins Gesicht geschlagen fühlt - das war eine der Lieblingsbeschreibungen meines Vaters für robuste Kränkungen. Kränkungen leben von der Lust am Zuschlagen und versuchen eine Bewegung der Differenzierung: mit dir will ich nichts zu tun haben! Das Problem stellt sich zur Zeit mit den Leuten, die sich in Leipzig treffen und trotzig behaupten: Wir sind das Volk! Der  Satz ist nicht verkehrt, aber unscharf: unklar ist, wen sie vom Volk vertreten. Zwanzigtausend Leute sind, sozialwissenschaftlich gesehen, eine stattliche Stichprobe. Wie gut oder wie repräsentativ diese Stichprobe ist, muss man sehen. Daran wird zur Zeit geforscht.

Forschung forscht bedächtig. Was macht man, bis die Ergebnisse vorliegen, mit diesem Volks-Teil ?
1. Kränkung. Beispiel Kurt Kister von der Süddeutschen Zeitung (26.1.2015, S. 5). Er spricht von "Teilen der Dresdner Latsch-Bewegung". In Latschen laufen die meisten wohl nicht herum, wohl in festem Schuhwerk. "Nazis, Hooligans, Fremdenfeinden und ähnlichem völkischen Volk" - nennt er: "widerwärtige Minderheit". Widerwärtig transportiert eine kräftige Kränkung. Der Autor schüttelt sich.  Offenbar rechnet der Autor diese Minderheit weder zum Abonnentenkreis seiner Zeitung noch zum Kreis künftiger Abonnenten. Wie war das mit der Würde des Menschen?
2. der Zeigefinger der Missbilligung mit dem Aufruf zu anständigem Benehmen. Neulich hatten wir unseren Justizminister (s. meinen Blog vom 18.12.2014), jetzt haben wir unseren Außenminister, der daran erinnert, was wohl die Leute denken (im Ausland).
3. Schneiden oder Nicht-Schneiden. Die Meldung dazu in der Süddeutschen Zeitung (26.1.2015, S. 5):
"Gabriel düpiert Generalsekretärin. Fahimi lehnt Dialog mit Pegida ab. Ihr Chef ist anderer Meinung".
Was ist so gefährlich am Dialog? Wenn man mit jemandem spricht, heißt das noch nicht, dass man
nicht anderer Auffassung sein und das besprechen kann. Im Politiker-Jargon heißt das aber: aufwerten. Der Chef trifft sich nur mit ausgelesenem Personal; seine Zuwendung versteht er als Auszeichnung. Muss man nicht. Chefs erkennt man daran, dass sie ihr Ohr leihen, aber ihr Gesicht abwenden. Übrigens schrieen damals die Politiker der Union so auf, als die sozialdemokratische Regierung mit der ostdeutschen Regierung Gespräche begann. Damals, in den 70er Jahren, versuchte die Regierung, die konservative Politik der systematischen Kränkung der ostdeutschen Republik zu beenden. War das ein Theater! Vielleicht holt jemand die alten Bundestagsprotokolle hervor.
4. Sprechen. Das versuchte Frank Richter, Leiter der Landeszentrale für politische Bildung in Sachsen. War das verkehrt? Wahrscheinlich war der Kreis, der sich bei ihm traf, überschaubar: ein Gespräch konnte statt finden.

Und wie verstehen wir, was zur Zeit läuft? Das Volk ist sich fremd. Das war schon immer so. Temperierte Affekte sind willkommen. Krude Affekte kumulierter Kränkung (in Verhältnissen der Armut und Exklusion) nicht. Zweitens: 1945 kommt wieder. Im Kino und im Fernsehen. 1945 ist das Datum der Zerschlagung des kriminellen, mörderischen deutschen Systems und der Ernüchterung über die monströsen deutschen Verbrechen. Seitdem hat das Eigenschaftswort deutsch, das die nationalsozialistische Propaganda so herausdröhnte, einen anderen Klang, an den wir uns noch gewöhnen müssen. Das fällt, wenn wir in alle Richtungen der Republik hören, nicht nur einigen Dresdnern schwer.

Die Meldung auf der ersten Seite der Süddeutschen Zeitung (26.1.2015): "Die meisten Deutschen wollen den Holocaust hinter sich lassen" - laut einer gerade vorgelegten Studie der Bertelsmann-Stiftung. Klar doch: denn 1945 ist 2015 gegenwärtig wie eh. Ich wünsche mir eine Studie, die sich nicht nur auf ausgestanzte Fragen nach vermeintlich vertrauten Vokabeln - wie dem Holocaust, diesem noblen Wort aus der Perspektive der Opfer, das uns zu gebrauchen nicht zusteht, weil damit über die Realität der deutschen mörderischen Orgie hinweg geredet wird - verlässt, sondern mit ausführlichen Interviews nachfragt nach der bundesdeutschen Last.

Freitag, 23. Januar 2015

Hohe Dosis

Gestern, am Donnerstag, dem 22.1.2015, stellte Mario Draghi der Öffentlichkeit sein Konzept vor,
innerhalb von 18 Monaten für 1.1 Billionen Euro Staatsanleihen aufzukaufen. Eine stolze, für einen sagen wir normalen Kontoauszug enorm lange Zahl. Dieser Betrag macht ein Fünftel des bundesdeutschen Privatvermögens aus. Ein Fünftel ist nicht so viel. Oder?

Mario Draghis kommuniziertes Konzept erscheint plausibel: die EBZ kauft verschuldeten Staaten die Schulden ab. Paul hat mir eintausend Euro geliehen; ich habe ihm den Kredit quittiert. Richard hat den Kredit ausgelöst, gibt mir reichlich Zeit zum Rückzahlen und reichlich neues Geld zum Wirtschaften und damit einen guten Schlaf. Jetzt schulde ich Richard viel Geld, und der kann und will warten. So weit so übersichtlich. Natürlich ist alles komplizierter. Einige Fragen:
1. Wieso bin ich so klamm? Wieso sind einige Länder der EU so klamm? Was ist bei denen los? Was ist ihnen zugemutet worden?
2. Wieso wird eine so gewaltige Summe in der EU benötigt? Während in anderen Ländern außerhalb der EU eine solche Summe enorm helfen würde?
3. Wieso folgen die Fachleute, die Befürworter und die Nicht-Befürworter, alle dem Konzept des Wachstums, dessen Ende seit den 70er prognostiziert wurde? Mit anderen Worten: kann man nicht auch anders wirtschaften? Müssen das Geschäft und dessen zählbarer Ertrag die einzigen Orientierungen ein?

Eine Antwort deutet sich an: die EU kooperiert unzureichend: es gibt keine gemeinsame, weitreichend institutionalisierte Wirtschaftspolitik. Die Länder pflegen und behaupten ihre Interessen. Am Mittwoch, dem 21.1.2015, meldete die Süddeutsche Zeitung: "Null Prozent Zinsen auf fünfjährige Bundesanleihen. Deutschland bekommt an den Finanzmärkten zu beispielslos güngstigen Konditionen Kredit". Vor allem ein Land prosperiert (bislang) in der EU: die Bundesrepublik Deutschland. Ist das für eine Gemeinschaft gutes, faires und vor allem sinnvolles Wirtschaften? Die (protestantische) Religiosität des Beharrens auf der Schulden-Freiheit? Einer oder einige horten und die anderen gucken zu? Unökonomisch, aber interaktionell gedacht: ist die Politik der EBZ Folge dieser unglaublichen Asymmetrie und als ein Mittel der Regulation an die Bundesrepublik adressiert und gerichtet? Jedenfalls jetzt hängt sie mit drin - hängen wir mit drin. Der bundesdeutsche Egozentrismus geht zu Ende. Wie ist das gedacht, geplant und ausgehandelt worden? Wer hat sich durchgesetzt? Und wieso sind unsere Regierung und Chefin nicht mehr - ausgesprochen - dagegen? What has happened?

Mittwoch, 21. Januar 2015

Schwierige Gesprächs-Suche im riesigen Fernseh-Studio

Am vergangenen Sonntag, dem 18.1.2015, unternahm die A.R.D. mit der Günther Jauch-Sendung den Gesprächs-Versuch mit Katharina Oertel von der Dresdner Pegida, mit Alexander Gauland (AfD), Frank Richter (Sächsische Landeszentrale für politische Bildung), Jens Spahn (CDU) und Wolfgang Thierse (ehemaliger Bundestagspräsident und SPD). Der Anfang der Sendung war ungewöhnlich, das Ende vertraut und nicht vertraut. Günther Jauch leitete seine Sendung neben der Hauptkulisse in einer Art Gang wie einen Krimi hinter vorgehaltener Hand ein - sonst moderiert er den Beginn aus der Mitte der Gesprächsrunde. Ungewöhnliches stand auf dem Programm: Pegida, obgleich deren Montags-Treffen vor der Dresdner Oper abgesagt worden war aufgrund einer Mord-Drohung, diskutierte mit! Wie in den alten ARD-Zeiten der Erwartung einer Konfrontation oder eines showdown in einem der Gesprächsforen. Am Ende der Sendung, der Abspann lief, konnte man Alexander Gauland sehen, der Katharina Oertels Arm berührte, die ziemlich allein in ihrem Sessel saß, während Günter Jauch sich den Gästen  seiner Rechten zuwandte (W. Thierse, J. Spahn und F. Richter): überstanden, schien Gaulands Geste zu bedeuten, nach einer Verabredung oder einem Plan.

Während der Sendung probierten Wolfgang Thierse und Frank Richter einen Gesprächs-Beginn. Wolfgang Thierse markierte den verfassungspolitischen Rahmen und votierte für öffentliche Behutsamkeit. "Demokratie braucht Geduld", sagte er. Frank Richter machte Angebote des Verständnisses; er war mit der, wie er sagte, "kardiologischen Diagnose" der Bundeskanzlerin (Hass im Herzen; s. meinen Blog vom 5.1.2015) nicht einverstanden und vermittelte. Es war ein Gespräch in verschiedenen Etagen: Katharina Oertel sprach von ihrem Gefühl einer Unzufriedenheit; Jens Spahn wollte sie belegt wissen. Günther Jauch fragte direkt nach: " Haben Sie Frust?"

Ein unklares Gefühl, das wissen wir, ist schwer zu beschreiben und in einer  Erörterung zu behaupten. Katharina Oertel kam in ihrer Not der Begründung nicht dazu, über sich zu sprechen - wenn sie es überhaupt wollte oder konnte. So bewegte sich das Gespräch von Etage zu Etage rauf und runter. Aber zumindest war die bisherige, von denTV-Kameras registrierte Verweigerung der Teilnehmer der Montags-Demonstrationen modifiziert. Katharina Oertel riskierte, sich zu exponieren. Pediga bekam ein Gesicht. Auch eine Stimme? Das müssen wir sehen. Wir müssen auch sehen, welche Tonlagen die Stimmen von Pegida erreichen. Sind es  Register des Unbehagens, des Unmuts, des Grolls, des Ressentiments, des fantasierten oder des Handlungs-bereiten Hasses? Auch der Hass braucht explorative Räume. Um ihn in der Öffentlichkeit - jenseits der eigenen vier Wände - zu besprechen, muss man allerdings bereit sein, eine Sprache für sich finden zu wollen, die einen Austausch ermöglicht und den gesetzlichen Rahmen gestatteter Kommunikation nicht überschreitet.


Freitag, 16. Januar 2015

Flottierende Angst, flottierender Hass

Der fremde Blick sieht anders. Gestern am 15.1.2015 veröffentlichte Amy Davidson in ihrem Blog der Zeitschrift The New Yorker ihren Text mit dem Titel: "Germany's Strange New Right Wing". Ihr Text versucht, Europas Verfasssung zu beschreiben. Ihr Fazit im letzten Satz: "There is a free-floating, heat-seeking sort of hate afloat in Europe. It still is polymorphic; the question is what form it will take next". Die Formel vom free-floating spielt auf Sigmund Freuds Konzept der frei flottierenden Angst an, die gewissermaßen auf der Suche nach der Angst-auslösenden Quelle ist. Das kann man vom Hass nicht sagen: er hat sein Objekt, dessen Vernichtung er fantasiert oder realisiert, bereits gefunden; wobei man annehmen muss, dass zur projektiven Bewegung des Hassens ein nicht-bewusstes Objekt gehört, mit dem eine oder mehrere Erfahrungen tiefer Kränkung oder tiefer Beschämung gemacht wurden.

Aber angenommen: Amy Davidsons Beobachtung des Frei-Flottierens trifft zu, dann muss man zum Hass die frei flottierende Angst hinzudenken - als Quelle der erschreckenden Ohnmacht, Frustration und Verzweiflung, für die als Gegenwehr Objekte des Hasses gesucht und, das ist die gegenwärtige Tragödie, die alte Tragödien wiederholt, wieder gefunden wurden. Die Angst passt zu den aktuellen politischen, psychosozialen Bewegungen: die Finanzmärkte flottieren buchstäblich - die Schweizer Nationalbank gibt die Stabilisierung des Wechselkurses (ihres Franken zum Euro) auf, die Europäische Zentralbank verfolgt eine Politik des leichten Flottierens (in die andere Richtung) des Euro, europäische Länder kriseln mehr oder weniger stark, das Morden in einigen Ländern Afrikas und des Nahen Ostens veranlasst die verzweifelten Menschen, ihre Heimatländer zu verlassen und sich in Europa anzusiedeln, der Osten Europas befindet sich im Konflikt ... die weltweite Digitalisierung droht und bedroht, während die bundesdeutsche Regierung sich für ihren Haushalt ohne (neue) Schulden preist und die Bundeskanzlerin sich mit einer Fehlleistung in ihrer gestrigen Rede verstolpert: unsere Welt schlingert; Politiker kommen ihrem impliziten Auftrag der Beruhigung nicht nach. Einen klaren Gedanken zu fassen, ist nicht einfach. Das war, wenn wir Ludwig Marcuses Schrift Das Märchen von der Sicherheit lesen, nie anders. Wohl ist es für jede Generation neu.

Die Hoheit einer Rezensentin

Paul Austers neuestes autobiographisches Buch Bericht aus dem Inneren ist heute in der Süddeutschen Zeitung (15.1.2015, S. 13, Nr. 11) von Kristina Maidt-Zinke besprochen worden. Der Titel ihres Textes: "Der Griff zur Hasentasse". Mit der Hasentasse ist das Keramik-Geschirr der inzwischen vom Markt verschwundenen, britischen Manufaktur Wedgewood gemeint, die Motive der Peter Rabbit-Geschichten von Beatrix Potter, der sehr populären Kinderbuch-Autorin, verwandte. Die einfache, nicht wertvolle, aber für Paul Auster sehr vertraute Tasse dient der Einleitung des Textes und dem Hinweis auf eine Skurrilität. Ein Satz ging mir nach: als Kristina Maidt-Zinke vom "coolen, unaufgeregten Auster-Ton" sprach, "der dem Leser die Freiheit lässt, sich aus dem Zettelkasten der Bewusstwerdung eines Autors das herauszusuchen, was seinen eigenen Erfahrungen am nächsten kommt oder was ihn am meisten interessiert". Der Zettelkasten der Bewusstwerdung eines Autors: keine freundliche Metapher; der Zettelkasten deutet die eher zufällige, nicht sonderlich kunstvolle Produktion des Textes an.  

Donnerstag, 15. Januar 2015

Internet-Sorgen: encore

Heute, am 15.1.2015, wiederholt Alexandra Borchardt ihre Argumente in der Süddeutschen Zeitung (Nr. 11, S. 11), die sie vor zwei Monaten am selben Ort veröffentlicht hat (s. meinen Blog vom 19.11..2014 Internet-Sorgen). Anlass ist das Buch von Andrew Keen Das digitale Debakel, das in der kommenden Woche erscheint (Original-Titel: The Internet is not the Answer) . Was ist am Internet debakelig? Es "ist undemokratisch", sagt sie in zehn Thesen, die ich hier nicht durchgehen will. Nur ein, zwei Thesen-Teste. Alexandra Borchardt: "Die starken Akteure im Netz sind Konzerne. Die starken Akteure in der Demokratie sind politisch gewählt". Was ist mit den in unserer demokratisch verfassten Gesellschaft agierenden Kredit-Instituten (die ungern Kredite geben), der Auto-Industrie, der Atom-Industrie und der Pharma-Industrie? Sind deren Chefs - gewählt? Weiter: "Das Netz belohnt jene, die am lautesten sind. Demokratie lebt von der Repräsentation und gleichen Zugang für alle". Das ist der Scherz der Woche: gleicher Zugang für alle. Alexandra Borchardt weiß offenbar gar nicht, wie privilegiert sie ist: sie äußert sich in einem Forum mit einer täglichen, Millionen-starken Leserschaft. Sie weiß offenbar auch nicht (oder sagt es nicht), wie stark die Filter ihres Mediums sind. Die übrigens von der SZ-Leserschaft klaglos hingenommen werden: ich kann mich an keine Zuschrift erinnern, in der danach gefragt wurde, wie  und warum die Redaktionen ein Thema und eine Autorin (oder einen Autor) auswählen. Es ist klar: das Internet bedroht diese intransparenten Formen von fragloser (journalistischer) Souveränität und von am Geschäft wie am demokratischen Auftrag orientierter Repräsentation.

Mittwoch, 14. Januar 2015

Je ne suis pas Charlie

Die öffentliche Reaktion der Französinnen und Franzosen auf die Ermordung der Redaktionsmitglieder der Zeitschrift Charlie Hebdo, ihrer Gäste und des zum ihrem Schutz bestellten Beamten und auf die Ermordung der jüdischen Männer, die in einem koscheren Supermarkt einkauften, war enorm eindrucksvoll und rührend. Die öffentliche Reaktion diente  auch der Vergewisserung französischer Identität und französischer Ideale. Das Gruppenbild mit Dame mit unserer Kanzlerin und unserem Vizekanzler und anderen Regierungschefs als das Bild einer internationalen Allianz und internationalen Umarmung war auch an unsere Öffentlichkeit adressiert: als der parteipolitisch intendierte Kommentar der Inklusion und der Exklusion gestatteter und nicht gestatteter politischer Gruppierung. Ob so ein Austausch mit der Pegida-Gruppe gelingt, ist fraglich: das öffentlich markierte Abseits ist ein schlechter Platz.


Zum Unwort des Jahres 2014

Das Unwort des Jahres ist ein Unding. Sicher, es macht aufmerksam auf die sprachlichen Fehlleistungen, deren Produzenten diese oder jene fröhliche Verachtung - die für die Adressaten gar nicht fröhlich klingt - preisgeben: aber es transportiert auch viel pompöse Moral, den Zeigefinger und den Appell zum richtigen Benehmen (möglichst kein falsches Wort!) in unserer bundesdeutschen Demokratie, in der unklar ist, ob man am besten auf Zehenspitzen geht. Andererseits: die Auszeichnung des unfreundlich verallgemeinernden Wortes Lügenpresse verstärkt die Ablehnung derer, die sich den Pegida-Gängen durch Dresden anschließen, und betreibt das Geschäft ihrer Exklusion. Man müsste über die Bedeutung des Wortes ins Gespräch kommen. Es im nationalsozialistischen Kontext zu platzieren, ist nicht hilfreich; denn es scheint anders gemeint zu sein. Man braucht für die  Zufriedenheit der eigenen demokratischen Identität die Gewissheit, in der öffentlichen Diskussion durch ein Medium (gedruckt oder elektronisch) vertreten zu sein - sonst fühlt man sich ausgeschlossen. Offenbar ist das Wort von der Lügenpresse der Ausdruck für den Groll, sich nicht repräsentiert zu fühlen. Das ist übrigens so neu nicht; lange Zeit galt der Kölner W.D.R. als der rote Sender - ein Kampfwort mit ähnlichem aversiven Affekt, wenn auch im anderen Kontext.

Gestern bestätigten eine Journalistin (Frankfurter Rundschau) und ein Journalist (Süddeutsche Zeitung)
in einem Interview der Tagesschau oder der Tagesthemen (ich erinnere den Sendeplatz nicht) ihre Zustimmung zur Wahl des Unding-Wortes: es würde den Diskurs verhindern. Wenn ich ein Wort aus einem Gespräch ausschließe, es wörtlich nehme und den Subtext überhöre, mache ich das Gleiche. Das Bestehen auf einer Kleider-Ordnung schließt die aus, die nicht über das vorgeschriebene Textil verfügen, und beschämt sie. Womit wir im Kreislauf angelangt sind, der die Pediga-Leute Pediga-Leute sein lässt.

Christoph Butterwege, der Kölner Sozialwissenschaftler (oder Menschenwissenschaftler, zu dem Kontext der öffentlichen Taubheit:

"Rassismus, Antisemitismus und Nationalsozialismus sind keine mentalen 'Restbestände' der Nazizeit, sondern primär ein Produkt der Gegenwart, das sich aus Fehlentwicklungen in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft speist" (5.12.2014).

Im übrigen transportiert unsere Sprache - gewissermaßen dem Wörterbuch des Unmenschen zum Trotz - nationalsozialistische Vokabeln und Subtexte (zum Beispiel Flakhelfer und Machtergreifung) und Akronyme (wie Gestapo und SS) in ihrer alten Schneidigkeit.   

Montag, 5. Januar 2015

Die Rede der Kanzlerin am und zum 31.12.2014

"Heute rufen manche: 'Wir sind das Volk!'", sagte unsere Bundeskanzlerin in ihrer am und zum 31.12.2014 ausgestrahlten Rede, "aber tatsächlich meinen sie: Ihr gehört nicht zu uns wegen eurer Hautfarbe oder Religion". Ist das so? Kann man den Ruf so übersetzen? Ich war nicht in Dresden. Ich habe nur das gesehen und aufgenommen, was Panorama und Tagesthemen sendeten: die Klage einer tiefen Unzufriedenheit. Ein Stichwort: Lügenpresse. Die Verweigerung eines Dialogs mit einer Fernseh-Frau oder einem Fernseh-Mann. Es ist die Klage des Rückzugs - des Gefühls, den Anschluss verloren zu haben. "Deshalb sage ich allen, die auf solche Demonstrationen gehen: Folgen Sie denen nicht, die dazu aufrufen. Denn zu oft sind Vorurteile, ist Kälte, ja sogar Hass in deren Herzen".

Du meine Güte: Hass! Hass im Herzen. Man müsste den Hass kennen und wem er gilt. Viele sind offenbar nicht einverstanden mit ihrem Platz in unserer Republik: sie fühlen sich draußen und wüten. Schwer erträglich finde ich das Unverständnis der Bundeskanzlerin. Hass ist ein unangenehmer Affekt; er sorgt für laute Töne. Aber man kann ihn doch anhören und zu verstehen suchen. Schwer erträglich finde ich die Verachtung für die Bürgerinnen und Bürger, die (vielleicht - wir wissen es nicht) ihren Unmut, ihre Hilflosigkeit, ihre Verzweiflung und Beunruhigung  nicht anders als mit einer Art von Sprachlosigkeit aussprechen können. "Solche Demonstrationen" - ohne ihren Namen zu nennen und ohne ihren demokratisch gemeinten Impuls des Sprechens in der Öffentlichkeit anzuerkennen - sind für die Bundeskanzlerin unwillkommene Kommunikationen. Solche. Das Demonstrativpronomen des Abscheus. Mit solchen Leuten treibst du dich nicht herum. Die Bundeskanzlerin adressiert nicht das bundesdeutsche Volk, dem zu dienen sie sich verpflichtet hat; sie adressiert die, die ihren Standpunkt teilen. Angela Merkel sucht ihre Mehrheiten; sie treibt Parteien-, nicht Bundespolitik. Sie beitreibt ihr Geschäft des Machterhalts. In wessen Namen? In wessen Interesse? Das Geschäft findet wenig deutlichen (öffentlichen) Widerspruch. Erstaunlich. Oder ist es nicht erstaunlich, weil uns die Herren des Geschäfts so vertraut sind und weil das Interesse am Geschäft näher liegt als das Interesse an den Idealen unserer Demokratie?