Freitag, 27. Februar 2015

Bundesdeutscher Antisemitismus

Heute, am 27.2.2015, veröffentlicht Karin Steinberger ihren sehr lesenswerten Text (auf der Seite Drei der Süddeutschen Zeitung): "Die Lebensfrage. Wer hätte das für möglich gehalten, dass es hier wieder heißt: 'Scheiß Juden!' Über den alltäglichen Antisemitismus in Deutschland". Es ist, wie ich auch finde, tatsächlich eine Lebensfrage.

Sie besteht so lange, so lange die Bundesrepublik existiert. Wir sind ein zerrissenes Land. Die Schuldkonten wurden nach dem Krieg mehr als unzureichend abgerechnet. Karl Jaspers rechnete in seiner Schrift Wohin treibt die Bundesrepublik? (von 1966) vor: dass nach 1945 wohl fünfhunderttausend integre, für die politisch-gesellschaftliche Arbeit geeignete Leute existierten. Auf Jaspers' Bilanz erfolgte ein riesiger öffentlicher Aufschrei, der abklang, als ein Jahr später die Mitscherlichs ihre Arbeit Die Unfähigkeit zu trauen veröffentlichten, die im Prozess ihrer Rezeption als Selbst-Vorwurf missverstanden wurde, die Bundesdeutschen hätten ihre Vergangenheit verdrängt. Verdrängt war sie nicht; sie war - bis heute - stets gegenwärtig. Der bundesdeutsche Staat wurde mit den (sehr unterschiedlich) braun kontaminierten Eliten gestartet  - die offizielle (beschwichtigende und beruhigende) Version lautete: es ging nicht anders. Ob es hätte anders gehen können, ist heute nicht zu entscheiden. Die Frage, worin die Anziehungskraft und der Erfolg des mörderischen Nationalsozialismus bestand - diese Frage dringend zu erforschen hatten die Mitscherlichs vorgeschlagen - , wurde bis heute nicht so weit geklärt, dass darüber ein öffentlich geteilter Konsensus bestehen würde; darum wird noch immer gerungen. Wahrscheinlich gehört der quälende Prozess der Klärung zur bundesdeutschen Normalität; er wird noch lange dauern. Man muss daran erinnern, dass die Erörterung tabuisiert war oder zu tabuisieren versucht wurde - 1952 meinte der erste Bundeskanzler Konrad Adenauer: man solle mit der Nazi-Riecherei aufhören

Wer starken Körpergeruch hat, dem empfiehlt man, sich regelmäßig zu duschen. Ein gepflegtes Äußeres und gute Tischmanieren waren vor allem in den 50er Jahren gern gesehen. Die bundesdeutsche Gesetzgebung, so nobel sie gedacht war mit dem Verbot des öffentlichen Genusses der braunen Soße als unbekömmlich, weil verdorben, hatte zur Folge, dass die Sympathisanten des nationalsozialistischen Vergnügens öffentlich schwiegen. Statt dessen sprachen andere oder verwandte oder dieselben Sympathisanten -  who knows? -  mit den regelmäßigen Schändungen jüdischer Gräber und Gebäude. Was die bundesdeutsche Öffentlichkeit wieder enorm irritierte: die Vergangenheit war nicht vergangen, und der (befürchtete) internationale strenge Blick lastete. So blieb die Vergangenheit gegenwärtig. Die bundesdeutsche historische Forschung erarbeitete Verständnisversuche von hohem Niveau. Dennoch resümierte Winfried Georg Sebald in Luftkrieg und Literatur: Die Deutschen seien ein geschichtsvergessenes Volk. Seine Frage war (in meinem Verständnis): was ist von der Forschung und dem Nachdenken in unserem Alltag angekommen?

Die Frage ist ebenfalls schwer zu entscheiden. Wir geben uns mit schlichten Umfragen zufrieden. Neulich kursierte der Befund: vier Fünftel der Befragten einer Bertelsmann-Studie favorisierten eine Art Schlussstrich. Gemeint war wohl die Beschäftigung mit Auschwitz - dem zur Metapher verdichteten Stichwort der bundesdeutschen Not mit der deutschen Vergangenheit. Wie sollen wir darunter einen Schlussstrich ziehen? Schon eine solche Frage (wie abgewandelt auch immer) in einer Umfrage zu stellen, ist absurd: so lässt sich der innere, eigene, private Umgang mit der nationalsozialistischen Hypothek, vermittelt (wie auch immer) in Millionen bundesdeutschen Familien, nicht erfassen.

Nationalsozialistischer Antisemitismus war ein (wie weit auch immer geteilter) projektiver Hass mit eliminatorischen Fantasien und einer eliminatorischen Praxis im Kontext einer grandiosen Fantasie von willkürlicher Herrschaft und Macht. Was wird davon bei uns in welchem Ausmaß gewünscht und geteilt? Das herauszufinden - ob und inwieweit der nationalsozialistische Antisemitismus (individuell) virulent und handlungsbereit ist, ob und inwieweit die in ihrem Gefühl von Grandiosität gekränkten  Herren (oder deren indoktrinierte Nachkommen) weiter wüten oder (wir haben es mit einem Spektrum zu tun) ist der als drohend kommunizierte Antisemitismus die gängige Rationalisierung des eigenen, aktuellen Hasses, der auf dem Sprung ist, seine Objekte zu finden, um gewalttätig sein zu können    -    ist wirklich unsere Lebensfrage. Man müsste sie gründlich in langen, vielstündigen Interviews explorieren. Man müsste den Alltag mit seinen kontaminierten, symbolischen oder realisierten gewalttätigen Interaktionen systematisch beobachten und auswerten. Ich bin überzeugt,, dass wir uns vor den Befunden dieser Forschung nicht fürchten müssen. Wir könnten aufatmen. Wir könnten cool reagieren. Wir würden endlich verstehen - was in den U.S.A. begonnen wurde - , wie sehr Antisemitismus oder Rassismus alarmierend, bedrohend und kränkend auf die wirkt, die damit angegangen werden. Wir könnten die schützen, die damit behelligt werden. Ein gereinigtes Vokabular  zu benutzen reicht noch nicht. Mit der noblen Vokabel Holocaust, die uns zu benutzen nicht zusteht, weil wir uns mit ihr auf die Seite der Ermordeten platzieren und über die mörderische nationalsozialistische Orgie hinwegsprechen, wiegen wir uns im Gefühl eines äußerst brüchigen Einverständnisses.

Zum letzten Punkt des Entsetzens von Karin Steinberger: hier wieder. Wir erleben, das ist vielleicht - vielleicht (auch das müsste man gründlich untersuchen) - eine nachteilige Wirkung des Internets,  in einer Zeit schneller Aussagen, schneller Erklärungen und schneller Verachtung - die  ins Kröpfchen gehören ist blitzartig ausgemacht (Türken mit dem falschen Glauben, Hartz IV, Flüchtlinge, Asylbewerber, so genannte Pädophile): zur Selbst-Vergewisserung derer, die sich im Töpfchen wähnen. Konventionen des Takts lockern sich in den riesigen Foren des world wide web; die ersten (kruden) Einfälle, die wir uns normalerweise (zum Glück) nicht mitteilen, weil wir sie kontrollieren und unterdrücken, werden dort hier und da (ich übersehe das nicht) ausgesprochen und mit einem Einverständnis herumgereicht. Psychotherapie lebt davon, dass die ersten Einfälle - als die Zugänge zum Konfliktuösen und Unterdrückten - ausgesprochen und geklärt werden. Aber Psychotherapie findet in einem klar begrenzten, intimen Rahmen statt: die Öffentlichkeit ist ausgeschlossen. Das ist heute das Problem. Mit anderen Worten: die Teilnahme im Internet muss sich noch zivilisieren. Das wird seine Zeit brauchen. Auch dort sollte das Prinzip des Takts gelten. Ob man die künstlerisch legitimierte Taktlosigkeit - Beispiel: Satire -  mit dem Institut der Pressefreiheit verbinden sollte, ist fraglich. Die Freiheit der Kunst lässt sich dort realisieren, wo es ein (einigermaßen, überwiegendes) gegenseitiges, geteiltes Einverständnis über eine begrenzte Form der Aufhebung des Takts gibt. Sie gewissermaßen als  institutionalisierte Regel einer Pressefreiheit zu behaupten, ist angesichts der unklaren Grenzen der  Internet-Foren und der unklaren Grenzen der psychosozialen Gefüge in vielen Gesellschaften naiv, weil damit das Problem der Grenzen (taktvoller, erträglicher Interaktionen) unterschätzt wird. Je vielfältiger die Gesellschaften und je poröser die Grenzen der Interaktionsformen, um so wichtiger ist die Aufrechterhaltung des Gefühls von Fairness und Takt.

Der Schäuble-Kotau

Selbst-Einschätzungen sind gewöhnlich - wenn sie nicht sehr bedacht wurden - punktuelle Aussagen. Gestern, am 26.2.2015, brachte die Süddeutsche Zeitung ihren langen Text auf der Seite Drei über unseren Finanzminister - der Titel: Die Wucht - mit dessen Selbst-Einschätzung: "Ich bin nicht so furchtbar leicht aus der Ruhe zu bringen". Dementis, weiß man, beteuern oft vergeblich das Gegenteil.
Heute, am 27.2.2015, titelte die Süddeutsche Zeitung auf ihrer ersten Seite: "Schäuble 'fassungslos' über Varoufakis". Die Unter-Überschrift: "Griechenlands Finanzminister spricht wieder von Schuldenerlass und brüskiert die Union, Fraktionschef Kauder nennt ihn einen 'Halbstarken'. Trotzdem wird die Koalition die Hilfen billigen".

Wenn einer von sich sagt, er sei fassungslos, ist er noch nicht fassungslos: er kann ja noch sprechen.
Aber zwei publizierte Einschätzungen des Finanzpolitikers Schäuble belegen, was man von ihnen halten kann: wenig. Sie sind auch nicht relevant. Der gestrige Text Die Wucht - war das nicht früher in unserer Adoleszenten-Sprache eine enorm attraktive junge Frau? - mit dem heimeligen Untertitel: "Wolfgang Schäuble kann spöttisch sein, gemein - und sehr einfühlsam. Freunde wie Feinde eint aber eine Ehrfurcht: die vor seiner Energie. Eine Begegnung" versprach eine Begegnung, war aber ein Kotau der Bewunderung: Stichwort Ehrfurcht. Die beiden Journalisten, Nico Fried und Claus Hulverscheidt, zogen ihren (verbalen) Hut vor der Arbeitsleistung des Ministers. "Muss er sich das noch antun?", fragen sie. Offenbar.

Offenbar, kann man weiter vermuten, pflegt er die Erotik der Macht. Die blieb unerwähnt. Diskutiert oder erörtert wurden mit ihm auch nicht konzeptionelle Differenzen mit anderen Kollegen - mit sagen wir: Paul Krugmann, dem nordamerikanischen Wirtschaftswissenschaftler, Nobelpreisträger und regelmäßigen Kommentator in der New York Times (mein Gewährsmann), der die bundesdeutsche Politik kritisiert - Stichwort: Austerität. "Unsinn", wird Wolfgang Schäuble zitiert, "die Arbeitsmarktzahlen in vielen Ländern der EU haben mehr mit der Globalisierung und einer mangelnden Wettbewerbsfähigkeit zu tun als mit unserer angeblichen Sparpolitik". Der Herr bügelt schnell weg. Er ist sich so sicher. Er sagt nichts zu den Diskussionen in seinem Ministerium - in dem, muss man vermuten, doch nicht alle Beamten seiner Auffassung sind.  Nico Fried und Claus Hulverscheidt lassen es brav durchgehen - warum auch immer.

Wenn jemand die Komplexität leugnet, muss man misstrauisch werden. Wenn jemand die Komplexität leugnet und sie jemandem anlastet, muss man noch misstrauischer werden. Der halbstarke Grieche: ist natürlich ein Kompliment. Yanis Varoufakis lässt sich nicht abwimmeln. Er hatte eine Professur an der Lyndon B. Johnson School of Public Affairs an der Universität Texas in Austin; er ist zusammen mit James K. Galbraith Autor des Buches A Modest Proposal (zur Lösung der Europäischen Krise); beide veröffentlichten einige Ideen davon in der New York Times am 23.6.2013. James Galbraith ist im übrigen der Sohn des renommierten Soziologen John Kenneth Galbraith, des Autors von The Affluent Society. Keine schlechten Referenzen für Yanis Varoufakis.

Was soll der Vorwurf des Halbstarken? Die Politiker der Union evozieren das Bild einer adoleszenten Drohung - in den 50er Jahren demolierten die Halbstarken bei Rock 'n Roll-Konzerten die Sitzreihen -   und gerieren sich als die Bewahrer der Ordnung und der Finanzeinlagen; sie schüren  Befürchtungen und präsentieren sich als die beruhigende politische Macht. So hält man die Wähler. Es geht nichts über ein einfaches Feindbild.

Montag, 23. Februar 2015

Kontexte-Schmuggel

Der britische und der U.S.Geheimdienst sind bei den Herstellern der so genannten SIM-Karten (für die mobilen Telefone) - SIM steht für subscriber identity module - eingedrungen und haben die Codes entschlüsselt. Das war eine wahrhaft tolle Operation. Die Geheimdienste, das ist nicht neu, verfolgen rigoros die Macht-Interessen ihrer Regierungen; das institutionalisierte Gesetz behindert offenbar nicht oder kaum - who knows? - ihre expansiven Aktivitäten.

"Im Überwachungsstaat" hat Jasper von Altenbockum seinen Kommentar in der Frankfurter Allgemeine dazu überschrieben (21.2.2015, S. 1, Nr. 44). Er folgert: "Wenn schon amerikanische oder britische Geheimdienste so skrupellos sind, werden es andere erst recht sein. Angesichts dieser staatlichen und einer nicht minder ausgeprägten kommerziellen Überwachungslust erscheint es fast aussichtslos, dass sie eines Tages gesetzlich eingedämmt werden könnte. So frisst die IT-Revolution ihre Kinder".

Nein, die IT-Revolution frisst nicht. Der Grenzenlosigkeit der Geheimdienste entspricht die Nachlässigkeit oder Hilflosigkeit der demokratischen Kontrollen. Weshalb die nicht funktionieren, müsste geklärt werden. Bei uns sind das Bundeskanzleramt und das Parlament zuständig. Wie gut kontrollieren die Kontrolleure? Die Frage ist natürlich einfach gestellt, die Antwort enorm schwierig: wer Macht hat, hütet seine Macht. Aber das sollte doch nicht abhalten zu fragen. Zweitens: die kommerzielle Überwachungslust. Die Überwachungslust ist wohl mehr eine Registrier-Lust: was ich im Internet kaufe, wird festgehalten und grob extrapoliert zu einem erweiterten Kauf-Interesse. Wenn ich eine DVD bei amazon.uk bestelle, bekomme ich hier und da ein Angebot, das irgendwie in Reichweite der Bestellung liegt - manchmal bin ich interessiert, häufig nicht; zudem werden meine bisherigen Bestellungen nicht eingerechnet. Überwacht fühle ich mich nicht. Manchmal belästigt - wie bei diesen (früheren) Werbewurf-Sendungen, die die Briefkästen verstopften. Heute muss ich wegklicken, früher musste ich zur Mülltone laufen. Es gibt hartnäckige Firmen, die tauchen sofort auf, andere gar nicht. Die hartnäckigen Firmen beschleunigen meinen Konsum nicht. Drittens: die IT-Revolution frisst. Tut sie das? Das weiß keiner, weil keiner das Internet und dessen Wirkungen überblickt. Wohl, wo es lokalisiert und wie es verdrahtet ist: Andrew Blum über Tubes. A Journey to the Center of the Internet. Bevor man die Leute erschrickt, sollte man die Bedrohung kennen.    

Der Trost zum Samstag

Seit ein paar Monaten unternimmt die Süddeutsche Zeitung mit ihrer Wochenend-Ausgabe eine ordentliche Anstrengung: sie versucht, viel Lesefutter zu liefern - gewissermaßen die Hamburger Zeit einzuholen. Irgendein Marketing-Fuchs muss den Redaktionen oder den Verlagen gesagt haben, dass die Leute am Wochenende viel Zeit haben und gern viel lesen. Der Fuchs hat mich nicht gefragt; denn weder habe ich am Wochenende viel Zeit noch Lust, eine dicke Zeitung nach dem Lesenswerten durchzublättern. Der Spiegel ist ja inzwischen auch diesem Marketingfuchs gefolgt.

Daran musste ich denken, als ich die erste und zweite Seite der Süddeutschen Zeitung überflog: unsere Kanzlerin war in Rom und war zur Audienz bei Papst Franziskus. Für die Fotografen (vermutlich) zeigten sie sich ihre Finger. Auf der ersten Seite die Frage: "Das Elend der Welt, der Trost der Gemeinschaft, die Einsamkeit an der Spitze - was verbindet die mächtige Frau und den obersten Katholiken?". Die Antwort wurde mit dem ersten Satzteil gegeben: Das Elend der Welt, der Trost der Gemeinsamkeit, die Einsamkeit an der Spitze. Vergessen wurde: der Trost durch die Wahrnehmung der Öffentlichkeit. Auf der zweiten Seite: "Eine Frau der Kirche. Die protestantische Kanzlerin und das Oberhaupt der Katholiken verstehen sich". Wer hat diesen Befund ausgemacht? Verstehen? Kann man sich in 30 oder 40 Minuten verstehen? Wer hat die Begegnung beobachtet?  Nein, man kann Gemeinsamkeiten austauschen und sich darüber freuen, dass man Gemeinsamkeiten hat. Was stört: ist der publizistische Ausverkauf eines komplizierten Konzepts. Verstehen. Was stört: ist die Verachtung dieses Konzepts - für ein rührseliges Geschäft, das einen einladen soll für die Wochenend-Lektüre. 

Nachtrag am 15.3.2015. Wer war einer der Autoren dieses PR-shmaltz? Stefan Kornelius, Autor des
Buchs "Angela Merkel. Die Kanzlerin und ihre Welt"; 2013 erschienen. Der Journalist folgt ihr weiter. So bleibt man freundlich zueinander.

Endspiel in Brüssel (20.2.2015)

Am Wochenende titelte der Kölner Stadt-Anzeiger auf seiner dritten Seite: "Athen rettet sich in die Verlängerung" (21./22.2.2015). Verlängerungen, das wissen wir vom Fußball, sind eine gute Sache. In der 113. Minute des Endspiels (sieben Minuten vor dessen Ende) bugsierte Mario Götze den Ball zum 1:0 gegen Argentinien ins Tor. Jetzt scheint es die griechische Regierung geschafft zu haben. Der Untertitel im Kölner Stadt-Anzeiger: "Kompromiss zwischen Griechenland und der Eurogruppe - Das Gespräch in kleiner Runde bringt den Erfolg". Die kleine Gruppe bestand, so die Zeitung, aus: Jeroen Dijsselbloom (Eurogruppenchef), Christine Lagarde (IWF-Chefin), Wolfgang Schäuble (bundesdeutscher Finanzminister) und Gianis Varoufakis (griechischer Finanzminister). Ob die Runde so klein war, ist schwer vorzustellen. Viel Aufgeregtheit beim Endspiel. War es für uns - die europäischen Wählerinnen und Wähler - angepfiffen worden? Damit die enormen finanzpolitischen Differenzen verdeckt bleiben? Wer weiß schon, was läuft. Nur die, die in den kleinen Runden sitzen. Draußen sorgen die elektronischen und die Print-Medien für die Endspiel-Aufgeregtheit. Die konzeptionellen Divergenzen bleiben ungeklärt, die Wirklichkeiten unzureichend beschrieben.

"Was bleibt?", fragt Christiane Schlötzer in ihrem Kommentar "Wut und Stolz" (Süddeutsche Zeitung vom 21./22.2.2015, S. 4). Ich wüsste gern, wo diese Affekte von wem beobachtet wurden. Auch in den kleinen Runden? In den anderen Gremien? Wer nimmt diese Affekte auf? Dienen sie als Klischee-Kitt für ein Verständnis,  das sich jemand draußen, vor den geschlossen Türen, zusammenreimt?

"Die EU", beantwortet Christiane Schlötzner ihre Frage, "müsste für ein Entgegenkommen von Athen mehr verlangen als bisher ... dass die Regierung Tsipras selbst Verantwortung übernimmt für die Härten der Staatssanierung. Dass sie für einen funktionierenden Rechtsstaat sorgt und die Vermögenden endlich zur Kasse bittet, worauf die Vorgänger verzichtet haben. Das wäre ein ehrgeiziges Programm, für das Griechenland sechs Monate Probezeit und damit eine zweite Chance verdient hätte". Das ist leicht gesagt: die (vermeintlichen) Schuldigen werden schnell ausgemacht. Vielleicht rekonstruiert jemand einmal den politischen Prozess der europäischen Krise und nennt die Akteure der beteiligten Regierungen. Ich wüsste zum Beispiel gern, wer das viele Geld geliehen hat, mit dem die griechischen Regierungen sich so verschulden konnten. Wieso räumt Christiane Schlöter der griechischen Regierung nur eine zweite Chance ein? Die zweite Chance ist der Film von Wolfgang Petersen mit Clint Eastwood (In the Line of Fire; U.S.A. 1992/93). Was war mit den Regierungen und den Instituten der Bundesrepublik? Sind die je so schnell gewesen? 

Freitag, 20. Februar 2015

Verachtungsprosa

Die Leute von Max Factor, der uralten U.S.-Firma für Kosmetika besonders schöner Frauen, haben sich für die 1962 verstorbene Schauspielerin Marilyn Monroe entschieden. In einer kurzen Nachricht kann man in der Süddeutschen Zeitung dazu lesen: "Marilyn Monroe, verblichene Schönheit, hat gut 52 Jahre nach ihrem Tod einen neuen Job" (8.1.2015, S. 20, Nr. 5). Ein wenig später heißt es: "Auch mit weniger Pathos kann man nur zugeben, dass man kaum ein besseres Testimonial für Kosmetikprodukte hätte finden können: Falten kriegt Marilyn ganz bestimmt keine mehr". Manche Autoren sind manchmal erbarmungslos fröhlich und denken weder an die Protagonistin noch an die Kinogänger oder Kinogängerinnen, die Marilyn Monroe noch immer sehr schätzen für ihre Filme.

In der Ausgabe vom 30.1.2015 schreibt Karl Bruckmaier über Bob Dylan. Der Titel: "Ein Junge hört Radio. Auf seinem 36. Studioalbum 'Shadows in the Night', widmet Bob Dylan seine brüchige Stimme ganz nostalgisch den schmalzigen Hits seiner Kinderzeit: den Songs von Frank Sinatra". Die Songs von Frank Sinatra sind natürlich keine Songs von Frank Sinatra, sondern es sind die Lieder der U.S.-Komponisten - zwei nennt er: Richard Rodgers und Oscar Hammerstein - , die Frank Sinatra in den 50er Jahren vor allem mit den Arrangeuren Billy May und Nelson Riddle einspielte. Die Ungenauigkeit ist nicht der Punkt, sondern der Tonfall der Herablassung, mit dem der Autor sich groß und die Künstler klein macht. Fazit von Karl Bruckmaier: "So ist Dylan in der Nostalgie-Sackgasse angekommen, in der Woody Allen seit Jahrzehnten feststeckt". Seit Jahrzehnten feststeckt: ich würde gern so lange so künstlerisch feststecken.

Achtung, Nebenwirkungen! Einige Bemerkungen zum drohenden Zeigefinger journalistischer Extrapolationen

Zwei Beispiele aus der Rubrik Wissen der Süddeutschen Zeitung, die häufig leider viel Nicht-Wissen verbreitet.

1. Am 22.1.2015 konnte man den in der Abteilung Wirtschaft platzierten, ordentlichen Text von Elisabeth Dostert lesen: "Fern vom Glück. Tabuthema Depression: Die Volkskrankheit verursacht Jahr für Jahr wirtschaftliche Kosten in Milliardenhöhe" (SZ, S. 18). Am 30.1.2015 gab es auf der Seite Wissen den Text von Hanno Charisius "Depressiv vor dem Fernseher. Schlägt exzessiver Serienkonsum auf das Gemüt?" (S. 16).

Er schlägt. Fragt sich, worauf. 316 Befragte im Alter von 18 bis 29 Jahren hatten über die erlebten Folgen ausgiebigen Serien-Fernsehens Auskunft gegeben. Depressiv waren sie nicht geworden - jedenfalls lässt sich das den von Hanno Charisius beschriebenen Befragungsergebnissen nicht entnehmen. Ein Resultat war: "Einsame und deprimierte Menschen (neigen) zum vermehrten Fernsehkonsum". Klar doch; diesen Effekt kennen wir. Deprimiert zu sein hat nichts mit depressiv zu tun. Was gab es noch? Viele Befragte konnten mit dem Gucken schlecht aufhören. Kennen wir auch. Was ist daran gefährlich? "Bislang wurde Seriensucht als harmlos eingestuft", sagte die Untersucherin, "unsere Studie zeigt, dass dies nicht so ist". Die Sucht ist die Gefahr. Ist sie das? Wer süchtig ist, bekommt seine Lebensaufgaben nicht geregelt und kümmert sich nur noch um seine Sucht. War das so? Weiß man nicht. Kein Wort davon. Wer Zeit hat, kann gucken. Wer eine Auszeit von den Lebensaufgaben nehmen kann, auch. Neulich hat ein Journalist das ausgiebige Gucken der TV-Folgen mit dem Binge-Saufen verglichen. Das fand ich übertrieben. Ein Spielverderber. Hanno Charisius präsentiert - aus welchen (redaktionellen) Gründen auch immer -  ein strenges Gewissen. Ich finde dieses Vergnügen herrlich. Er sollte mit den wilden Extrapolationen vorsichtig sein und die Inflation des Begriffs der Depression nicht betreiben.

2. In derselben Ausgabe (30.1.2015) aus der Abteilung Wissen. Christoph Behrens ist der Autor des Textes "Identifikation aus dem Nichts". Aus dem Nichts. Schrecklich, nicht wahr? Aber: aus dem Nichts? Der Untertitel des Textes lautet: "Nur wenige anonymisierte Bewegungsprofile reichen aus, um die Identität von Kreditkartennutzern zu erkennen. Je größer die gesammelten Datensätze werden, desto kleiner bleibt die Privatsphäre". Vier Bewegungen, die mit der Kreditkarte bezahlt wurden, reichten bei 90 Prozent der Kreditkarten-Kunden aus, um deren Individualität zu markieren. Ist das überraschend? Finde ich nicht. Schrumpft, je mehr unsere Bewegungen bekannt sind, auch unsere Privatsphäre? Das ist die Frage: was besagt der Konsum über die eigene  Lebens-Welt? Wenig. Er wird überschätzt. Wir leben in Beziehungen und fantasieren uns in Beziehungen. Darüber geben Konsum-Daten keine Auskunft. Es fällt schwer, angesichts der von den professionellen Apokalyptikern schwarz gemalten Bedrohung durch die so genannten Big Data die sprichwörtliche Kirche im Dorf zu lassen.

Interaktions-Formeln

Wenn uns jemand für eine Freundlichkeit dankt, können wir antworten: Gern geschehen.
Wenn wir einer Nordamerikanerin oder einem Nordamerikaner für eine Freundlichkeit danken, kann sie oder er antworten: You're welcome. Wir beziehen uns auf die kurz zurückliegende Vergangenheit (geschehen), sie oder er auf die mögliche, baldige Zukunft (du bist oder Sie sind). Wir trennen uns und hoffen auf eine Zukunft, er oder sie stellt sie mit einer Einladung in Aussicht. Wir sind vorsichtig, sie oder er - nicht. Es existiert eine Kluft. Kein Wunder, dass das Englische so anzieht.

Post aus Athen (vom 19.2.2015)

Der Brief der gerade gewählten, neuen griechischen Regierung traf bei den Regierungen der E.U. ein. Der Brief, berichtete gestern die Redaktion der Tagesthemen und heute die Redaktion der Süddeutschen Zeitung, regte zu mehreren Interpretationen an. Leider wurde die Lesart des für die Finanzen zuständigen bundesdeutschen Regierungsmitglieds nicht überall geteilt: weder in Brüssel, noch in Berlin, wo Sigmar Gabriel seinen Kollegen Wolfgang Schäuble relativierte. Schlimm?

Ziemlich.
Die Süddeutsche Zeitung titelte mit einem Wort aus dem Sprachschatz der Beziehungsdynamik: "Brief aus Athen führt zu einem Zerwürfnis". Zerwürfnis. Ist das die richtige Beschreibung für den politischen Prozess der Balancierung von Interessen und Macht? Zerwürfnis? Die Redaktion der der SZ schlägt wie so oft einen familiären Ton an: damit wir uns zu Hause wähnen. Der Untertitel zur Schlagzeile: "Finanzminister Schäuble stellt sich gegen Griechenlands Antrag, das Hilfsprogramm zu verlängern. Dafür erntet er Kritik von SPD-Chef Gabriel und erfährt wenig Unterstützung der anderen Euro-Länder". Der arme Herr Schäuble: er muss ertragen, wofür er ins Amt gewählt wurde. Die Ironie des Briefs besteht darin, dass er in (offenbar) geschliffenem Englisch verfasst wurde - und damit nicht das erfüllt, was unser strenger, mürrischer, humorloser Finanzminister (aus der Ferne gesehen)  - erinnern Sie sich, wie er einen Mitarbeiter seiner Behörde im November 2010 abkanzelte?  (s. meinen Blog vom 16.11.2010) - erwartet hatte: das Eingeständnis der Unterwerfung unter die Dame und den Herrn (und deren Beraterinnen und Beratern) aus Berlin. Dafür ist die griechische Regierung eben nicht gewählt worden und damit ist sie nicht angetreten. Alles ist nicht neu. Neu ist das Zähneknirschen. Das Schauspiel, als wäre man überrascht worden. Das Zähneknirschen zeugt vom Desinteresse und von der Verachtung griechischer Bürgerinnen und Bürger. Erstaunlich, dass die Redaktion der Tagesthemen und der Süddeutschen Zeitung so einstimmen über das Naserümpfen über die griechischen Politiker, die sich nicht an die vertraute Kleiderordnung halten. Stefan Kornelius schreibt dort in seinem Kommentar "Wenig Klarheit, kaum Vertrauen" (20.2.2015, S.4):

"Die Regierung Tsipras trägt an dieser Eskalation maßgeblich die Verantwortung. Das Spiel mit verdeckten Karten, die indirekte Manipulation über die Veröffentlichung von Gesprächsprotokollen, die Unaufrichtigkeit - dieser Verhandlungsstil zerstört alles Vertrauen. Aber auch ein Finanzminster Schäuble hat sich hinreißen lassen in seinem Zorn. Den Brief aus Athen hätte man jedenfalls weniger brüsk ablehnen können". Die Griechen, die Griechen.

Die Griechen? Was ist mit unseren Leuten? Großzügigkeit ist ein Fremdwort. Verständnis für die junge Generation griechischer Politiker und deren Auftrag ebenso. Wolfgang Schäuble sieht buchstäblich alt aus. Stefan Kornelius hat viel Verständnis für ihn und die bedrohte bundesdeutsche Regierung: "In Deutschland droht die AfD, und selbst die Koalition ist jetzt vom Spaltpilz der Regierung Tsipras infiziert". Oh je, oh je o jeh. Wieso macht Stefan Kornelius sich um sie so viel Sorgen?

Unten rechts auf der ersten Seite der Süddeutschen Zeitung ist die kleine Meldung (immerhin) zu lesen: "Das Armutsrisiko in Deutschland wächst". Und weiter: "Mehr als zwölf Millionen Menschen in Deutschland sind von Armut bedroht, so viele wie nie zuvor seit der Wende. Das geht aus einem Bericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes hervor. Im Norden und im Osten sind die Einkommen besonders niedrig". Eine großzügige Politik wäre nicht schlecht - für Europa und für uns.

Dienstag, 3. Februar 2015

Justiz und Psychiatrie: ein Missverständnis

Hans Holzhaider hat für die Süddeutsche Zeitung (3.2.2015, S. 13, Nr. 27) das Buch von Gerhard Strate Der Fall Mollath. Vom Versagen der Justiz und der Psychiatrie besprochen. "Strate geißelt", schreibt Hans Holzhaider, "die gesamte Zunft der forensischen Psychiatrie in der schärfsten vollstellbaren Form. Inkompetenz, Zynismus, Willkür, Willfährigkeit gegenüber den Vorgaben der Justiz: Diese Disziplin ist aus Strates Sicht nicht zu retten". Eine ganze Zunft für Makulatur zu erklären, ist ein grober Strich: kein relevantes Argument; es liegt auf dem Niveau der Kollektivschuld. Den Maßregelvollzug, so Holzhaider, hält Strate für ein unmögliches, weil paradoxes Unterfangen: jemanden zur Behandlung zu verurteilen, muss die Behandlung scheitern lassen. Das ist, auf den ersten Blick, nicht so verkehrt. Aber dazu man wissen, dass der Maßregelvollzug keine Heilbehandlung - wie jede andere Behandlung in unserem Gesundheitssystem - intendiert, sondern eine ausreichende Lebensfähigkeit, ohne erneut erhebliche Straftaten zu begehen. Erhebliche Straftaten ist die Formulierung im Gesetz und deutet den Realismus des Gesetzgebers an, der nicht erwartet, dass eine forensische Patientin oder ein forensischer Patient geheilt wird - wobei Heilung schon per se eine schwierige Kategorie darstellt.

Andererseits: auch wenn der Auftrag des Maßregelvollzugs (der Besserung und Sicherung, so das Gesetz in NRW - nicht jedes Bundesland hat ein Gesetz zum Maßregelvollzug) äußerst schwierig und ambitioniert ist, heißt das nicht, eine Behandlung im Rahmen dieses Gesetzes nicht zu versuchen. Der Auftrag des Maßregelvollzugs ist nobel, seine Realisierung allerdings sehr aufwändig und deshalb sehr teuer; die Frage ist, ob die bundesdeutsche Gesellschaft - nachdem der sozialdemokratische Regierungschef Gerhard Schröder sein Desinteresse als eine politische Orientierung ausgerufen hat - die Kosten aufzubringen bereit ist. Sinnvoll wäre es: verglichen mit den
Rückfallzahlen im Justizvollzug schneidet der Maßregelvollzug gut ab. Wobei man die Quoten nicht so
weiteres vergleichen kann; denn die Strafgefangenen sind - wahrscheinlich - anders strukturiert als die forensischen Patientinnen und Patienten. Erstaunlich ist, dass Hans Holzhaider diese Relativierungen in seiner Rezension nicht vornimmt.

Er schreibt diese beiden Sätze: " Tatsächlich sind Justiz und Psychiatrie unlösbar miteinander verflochten in der Annahme, man müsse Menschen, die andere gefährden, aufteilen in 'Schuldfähige' und 'nicht Schuldfähige' - in solche, die man bestrafen kann, und andere, die man 'behandeln' muss. Das ist der Kardinalirrtum unseres Justizsystems". Nein, dem liegt die rechtsphilosophische Entscheidung zugrunde, einen zweiten Weg offen zu halten für die, die ihrer Verantwortung auf Grund einer gravierenden Erkrankung nicht nachkommen konnten. Andere demokratisch verfasste Gesellschaften haben diese Entscheidung ebenfalls in ihr Rechtssystem integriert. Die Feststellung der Schuldunfähigkeit trifft das Gericht, nicht der oder die forensische Sachverständige. Der oder die Sachverständige gibt die begründete, plausible Einschätzung der Fähigkeit eines Beschuldigten ab, sich im Sinne des Gesetzes ausreichend kontrollieren und steuern zu können. Mehr nicht. Deshalb sind das Gericht und der oder die Sachverständige nicht verflochten, sondern deutlich getrennt durch den Auftrag der Erläuterung und Vermittlung, womit das Gericht in die Lage versetzt wird, sich ein angemessenes eigenes Bild vom Beschuldigten machen und Recht sprechen zu können. Möglicherweise wird auf Grund des öffentlichen Interesses an Erklärung und Beruhigung (angesichts erschreckender Straftaten) die Aufgabe und Rolle des oder der Sachverständigen überschätzt, die Bedeutung der Gerichtsverhandlung  als Ort der institutionalisierten Übereinkunft, Recht zu sprechen, unterschätzt (s. meine Blogs vom 23.4.2012 und vom 19.12.2014, S.4, zu zwei Hans Holzhaider-Texten).

Nachricht aus dem Bayern-Teil aus derselben Ausgabe (S. 26):
"Wegen eines Angriffs auf Polizisten mit einem Samuraischwert und einer Machete muss der 47 Jahre alte Robert B. für unbestimmte Zeit in eine Entziehungsanstalt. Das Landgericht Traunstein entschied sich im Prozess gegen den früheren Metzger damit überraschend gegen eine Unterbringung in einer forensischen Klinik".

Montag, 2. Februar 2015

Journalismus-Lektüre III

Die Schlagzeile einer Zeitung - ihr Aufmacher - ist die erste, weil augenfällige Kommunikation der   Redaktion mit der regelmäßigen und der unregelmäßigen Leserschaft. Die Schlagzeile ist deshalb eine dichte, kompliziert adressierte Kommunikation: die Sicherung des Kontakts mit der Leserschaft, die Beruhigung oder Ankündigung eines dramatischen oder tragischen Ereignisses oder eines dramatischen, tragischen Prozesses, die Bestätigung und Versicherung eines Triumphs, die Vermittlung der redaktionellen Haltung dazu sowie die verlockende Ankündigung der Auslegung oder Interpretation eines Ereignisses oder eines Prozesses. Der erste Blick auf die Schlagzeile dient für eine Leserin oder einen Leser der Orientierung und der Vergewisserung über den Zustand der eigenen und der fremden Welten, deren Grenzen sich je nach Weltlage und eigener Lebenssituation ständig verschieben und sich überlappen.

Die Schlagzeilen der Süddeutschen Zeitung.
Am Donnerstag, dem 29.1.2015: TSIPRAS SETZT AUF KONFRONTATION.
Am Freitag, dem 30.1.2015: ATHEN TRÄGT RUSSLAND-SANKTIONEN MIT.
Am Samstag, dem 31.1.2015: DES WIDERSPENSTIGEN ZÄHMUNG.   
Am Montag, den 2.2.2015: JUNKER MAHNT ATHEN ZUR MÄSSIGUNG.

Zweimal wird - abwechselnd - der neue griechische Regierungschef angesprochen (explizit und implizit), zweimal der Ort der Regierung. An zwei Tagen bringen die Schlagzeilen Bilder in den Umlauf, am Samstag wird der (deutsche) Titel eines William Shakespeare-Stückes umgewandelt. Angedeutet wird ein familiäres Bild: jemand hat sich nicht unter Kontrolle; die muss ihm beigebracht werden. Das geschieht normalerweise, wie wir wissen, am Tisch, wo man angehalten wurde, sich anständig zu benehmen und nicht den Augen zu folgen, die immer größer als der Magen sind.

Politische Prozesse zugeschnitten auf die familiären vier Wände. Dann kann, kann man beruhigt der Zeitung entnehmen, nicht allzu passieren - wenn so Viele auf den ungezogenen Jungen aufpassen. So gesehen zu werden wird der griechischen Regierung und deren Wählerinnen und Wähler nicht gefallen: dieses familiäre Bild bestätigt ihren (von mir vermuteten) Protest gegen erfahrene, befürchtete oder vermutete politische Bevormundungen durch die Institute der EU. Das ist der eine Subtext, der seit langem bei uns kursiert: die Verachtung griechischer Bürgerinnen und Bürger und griechischer Lebensverhältnisse.

Der andere Subtext ist das Bild von dem kommunikativen Prozess zwischen dem Chef der griechischen Regierung und dem Präsidenten der europäischen Kommission: wie mögen die beiden miteinander - wenn sie denn zu zweit waren - gesprochen haben? Wer hat von diesem Austausch intime Kenntnis?
Soll es so ähnlich  gewesen sein wie in den familiären vier Wänden?

So wird das Nicht-Vertraute vertraut gemacht. So gehen wir morgens nicht leer aus. So können wir gut mitreden. Die Aufmacher einer Zeitung sind natürlich nicht das letzte Wort einer Redaktion. Die Differenzierung findet im Inneren des Blatts statt. Aber man soll die Schlagzeile nicht unterschätzen. Sie setzt den Tonfall, gibt die Haltung vor und legt eine Perspektive nahe. Die familiaristische, personalisierte Perspektive ist eine häufig anzutreffende, journalistische Lesart - von einem oder ein paar Protagonisten lässt sich ein wenig erzählen. Leider verstehen wir, was in den relevanten Gremien und Sitzungen hinter geschlossenen Türen läuft, nicht besser. Wir müssen unseren Repräsentanten vertrauen, dass sie uns gut repräsentieren. Manchmal können wir etwas an den Inszenierungen und etwas jenseits der Inszenierungen entdecken. Und manchmal gibt es mutige Leute, die von der Innenseite der politischen Prozesse berichten.