Donnerstag, 29. Dezember 2016

Journalismus-Lektüre (Beobachtung der Beobachtung) XXXXIV: Klischee-Produktion

Daniel Deckers listet die mangelnde Kooperation der europäischen Behörden auf in seinem Kommentar "In blutrotem Licht" (F.A.Z.). In der Sache stimme ich zu. Im Tonfall des Textes nicht.
Der Titel des Kommentars ist grell. Gut, das mag Geschmackssache sein. Dass er die Vokabel der Sicherheitsarchitektur benutzt, steht auf einem anderen Blatt (s. meinen Blog von heute, 29.12.2016). In der Mite seines Textes resümiert er die ungehinderten Bewegungen des Tunesiers Anis Amri in Europa mit den Worten: "für Menschen mit hoher krimineller Energie wie Amri ist dieses Europa ein Dorado, wie man es sich schöner nicht vorstellen kann". Das Eldorado war, laut DUDEN, ein "sagenhaftes Goldland in Südamerika". Anis Amris Flucht nach seinem mörderischen Anschlag auf die Besucher des Berliner Weihnachtsmarktes war sicherlich keine Reise durch Europa. Vom Dorado zu sprechen, verweigert Anis Amri die Würde seiner Not; weder kennen wir seine Motive der Vernichtung, noch seine (von außen gesehen) destruktive wie selbstdestruktive Verfassung. 

Neues von der Heiligen Kuh XXXVI: Fahrer-loses Autofahren mit einem Beifahrer als Autofahrer

"Fahrer bleibt in der Verantwortung", berichtet Timot Szent-Ivanyi über den Gesetzesentwurf unserer Regierung zum Fahrer-losen Autofahren (Kölner Stadt-Anzeiger vom 24./25.12.2016, S. 11). Wie kann man sich das vorstellen? Der Fahrer sitzt wie ein Beifahrer auf dem Fahrer-Sitz und beobachtet: was der Rechner ausrechnet und in die Wege leitet. Hält er seine Hand übers Lenkrad und wartet oder nimmt er es locker in die Hand? Wann und wie entscheidet er sich, den Rechner zu überstimmen? Woher soll er beispielsweise wissen, dass der Lenkrad-Einschlag am Eingang einer Kurve stimmt? Oder am Ausgang einer Kurve? Und so weiter und so fort: tausend Fragen. Ich hätte keine ruhige Sekunde mehr: wer weiß, was der Rechner rechnet. Was ist, wenn es dunkel ist? Ich würde schwitzen. Ich wäre Beifahrer und müsste doch fahren.

Schon mit einem Beifahrer, der mitfährt, aber nicht eingreift - höchstens aufschreit und sein Gesicht bedeckt - , fällt das Steuern eines Pkw schwer. Aber jetzt? Telefonieren, SMS eintippen ist doch ein Kinderspiel gegen die Notwendigkeit, ständig wachsam zu sein, ohne zu fahren und ohne zu wissen,
was der stupide Rechner rechnet. Wer traut sich diese Fahrer-losen, Beifahrer-Fahrten zu? Junge Leute sind fix - vor allem die, die blitzartig ihre messages tippen - , aber die Älteren....?

Ganz im Ernst: unsere Regierung, offenbar beschwipst von dieser Schnapsidee, scheint keinen Blick für die Not künftiger Autofahrerinnen und Autofahrer zu haben, die sich künftig ständig entscheiden müssen, ob sie Beifahrer oder Fahrer sind. Ich empfehle: viele viele vorsichtige Fahrversuche.

Nachtrag I: die Schnelligkeit, mit der die Regierung ihre Vorschrift zu etablieren versucht, lässt vermuten, dass eine gründliche Forschung nicht in Auftrag gegeben wurde. 

Nachtrag II (2.1.2017): Heute in der F.A.Z. ( 2.1.2017) resümierte der Autojournalist Holger Appel seine Fahr-Erfahrungen mit den Rechner-gesteuerten Hilfesystemen beim neuesten Mercedes-Benz E 220 d:

"Uns stresst die Kontrolle der Automaten meist mehr als selbst steuern".

Na, so was. 

Das Wort zum Einlullen VIII: "unsere Sicherheitsarchitektur"

Das Wort klingt gut. Der DUDEN definiert Architektur als Baukunst, als kunstgerechter und künstlerische Gestaltung von Bauwerken. Architektur: gilt als gelungene Leistung. In der Kombination mit der Sicherheit: gilt sie als misslungen. Anis Amri, der am 19.Dezember einen gestohlenden Sattelschlepper in einen Berliner Weihnachtsmarkt steuerte und zwölf Besucher tötete und viele Besucher schwer verletzte, war den nationalen wie europäischen Behörden ausreichend bekannt - aber dennoch konnte er sich genug bewegen, weil die Behörden offenbar nicht ausreichend kooperierten. Die unzureichende Kooperation - die gründlich untersucht und verstanden werden muss - mit der Metapher einer Architektur zu belegen: ist Polit-Sprech - eine euphemistische Hochleistung schillernder Ambivalenz. Was bislang nicht gelungen ist (eine in dem Fall von Anis Amri ausreichende Kooperation zu realisieren), wird unter der Hand als gelungen suggeriert. Die Archtektur steht. So gut wie.

Zu recht fordert Daniel Deckers in der heutigen F.A.Z. (29.12.2016, S. 1, Nr. 304) die schonungslose (sein Wort) Klärung dieser misslungen Kooperation. Aber wieso übernimmt er den Regierungs-Sprech und deutet auf die "Schwächen der deutschen Sicherheitsarchitektur"? 


Neues von der Heiligen Kuh XXXV: The car is my castle

Die "durchschnittliche Motorleistung von neu zugelassenen Personenkraftwagen (Pkw) ... (stieg) ...zwischen den Jahren 2008 und 2015 kontinuerlich an", berichtete die F.A.Z. (vom 15.12.2016, S. 19, Nr. 293). 2008 betrug die durchschnittliche Motorleistung 96,4 Kilowatt, 2015 105,7 Kilowatt. Die Meldung ist ein alter Hut: in den 70er Jahren begann die PS-Hochrüstung. Jetzt fällt sie offenbar erst richtig auf. Einmal im Verbrauch: das statistische Bundesamt errechnete, dass ohne diese Hochrüstung (der letzten sieben Jahre), auch wenn man die gestiegene Fahrleistung berücksichtigt, Einsparungen von mehr als 9 Millionen Tonnen CO2-Einsparungen möglich gewesen wären. Diese Zahlen dienen eher als Anschauung: für die bundesdeutsche Art der tolerierten Verschwendung.

Zum anderen: welche Autos klotzen mit ihrer PS-Kraft? Die Riesen-Autos mit den Riesen-Reifen, die früher Allrad-getriebene Wagen genannt wurden - bis sich auch bei uns der U.S.-Ausdruck einbürgerte: S.U.V.  Zurück zur Meldung der F.A.Z.: "Pkw mit solchen Motoren haben 2015 insgesamt fast doppelt so viel Kraftstoff verbraucht wie 2008". Die gegenläufige Entwicklung: "Der Anteil von Fahrzeugen mit weniger als 51 Kilowatt ist stark gesunken. Von 22,1 Prozent im Jahr 2008 auf 15,3 Prozent im Jahr 2015".

Wie wollen wir die Energiewende hinkriegen, wenn der Wunsch nach PS-Festungen so weit verbreitet ist? Und was sollen wir von einer Industrie halten, die fleißig (so lange es geht) diese Fahrzeuge produziert?
Blumig reden und qualmig handeln: wer hat und möchte, der kann klotzen. Der Markt regelt diese knifflige Frage. 

Dienstag, 20. Dezember 2016

Das Wort zum Einlullen VII: "fake news"

Die Leute machen im Internet aus dem Internet, was sie wollen: sich austauschen, informieren, klären, behaupten, klatschen, tratschen, verleumden, hetzen, schimpfen, sich empören - kurz: im Internet wird gemacht, was sonst auch gemacht wird. Früher lagen die Leute im Fenster, auf einem Kissen abgestützt, und beobachteten die Passanten; das war ein Sonntagsvergnügen, als die Autos noch nicht ausgerollt werden konnten zur Fahrt zu einem hübsch gelegenen Café. Tage später wurden im Hausflur die Beobachtungen ausgetauscht, ausgedeutet und extrapoliert zu einem Gewirr von Vermutungen, die - so ist das leider bei Wiederholungen - sich zu pausiblen Geschichten entwickelten, die schließlich durchgingen als Beschreibungen tatsächlicher Lebensverhältnisse.

Klatschen macht Spaß und gehört zu unseren robusten psychohygienischen Aktivitäten. Früher standen nur die Nachbarn zur Verfügung; heute haben wir Nachbarn auf der ganzen Welt. Ist das kein Fortschritt der so genannten Globalisierung? Justin Timberlake ist wieder Vater geworden. Wer ist die Mutter? Verrat' ich nicht. Ob es stimmt, weiß ich nicht: ich habe keinen Zugang zu den Timberlakes.

Von Niklas Luhmann stammt das zutreffende Wort, dass wir das, was wir von der Welt wissen, von den, wie er sagt, Massenmedien wüßten. Das stimmt  -  irgendwie. Man muss ein paar Einschränkungen machen. Wir wissen etwas und wir glauben, etwas zu wissen. Wo kriegen wir unsere Gewissheiten her? Schwer zu sagen. Jemand, dem wir zu glauben geneigt sind, hat uns überzeugt. Dabei leben wir hinsichtlich des vermittelten Wissens (meistens)  aus vierter, fünfter, sechster...x-ter Hand. Wir wissen (meistens) gar nicht, wie welche Nachricht von wem gewonnen wurde. Wir kennen (meistens)  nicht die Händler-Ketten der Verkäufer und Käufer von Nachrichten. Wir wissen (meistens) nicht, wie eine Nachricht zustande kam. Wir erfahren unendlich mehr, als wir überprüfen können. Wir sind - ob Niklas Luhmann diesen Prozess unterschätzte? -  die Beobachter von vielen anderen Beobachtern, die mit dem Beobachten ihr Geld verdienen; wobei wir (meistens) nicht wissen, wie gut sie beobachten. Entscheidend ist die Plausibilität der Beobachtungen: inwieweit sie den eigenen Wahrnehmungen, Überzeugungen, Erfahrungen, Konzepten und - Vorurteilen entgegen kommen. Im Englischen gibt es die selbstironische Formel dessen, der von sich sagt, dass das, was er nicht wisse, auf eine Briefmarke passen würde. Natürlich ist es umgekehrt: was wir wissen, passt auf eine Briefmarke. Eltern erläutern ihren Kindern Kontexte, die sich später, wenn die Kinder sich aufmachen, die Geschichten ihrer Eltern auszulüften, sich als erfunden oder als Bluff erweisen. Was erweist sich als tragfähig? Vielleicht deren Haltung oder Grundüberzeugungen. Aber deren Wissen und Informationen über das Funktionieren der Welt? 

Das Erfundene gehört zum Leben - und wahr ist es auch. Denn das Erfundene transportiert und artikuliert meinen Affekt, den ich bestätigt erleben möchte. Zu welchen Kontexten mein Affekt gehört, ist schwer anzugeben. Jetzt haben wir die Empörung über die "fake news". Lügen im Netz schrieb heute morgen Helene Bubrowski in der Frankfurter Allgemeine (vom 20.12.2016, S. 1, Nr. 297). Die fake news - einmal anders als nur durch die journalistische Empörung über die bedrohliche Konkurrenz verstanden - sind auch ein Test der Vorurteilsbereitschaft: was bin ich geneigt, für wahr zu halten? Die  fake news produzieren einen Kreislauf, in dem Produzent und Adressat oder Rezipient das Fest der Entdifferenzierung feiern.

Ist das so neu? Und ist es nicht herrlich, wenn man sich in seinen Vorurteilen bestätigen lassen kann - sich eins mit den anderen zu wissen? Die Erfahrung des Verschmelzens ist das Antidot gegen die Vereinsamung. Dass Politik den Charakter verdirbt hören wir doch schon seit Generationen. Dass die da oben  nur den eigenen Vorteil im Kopf haben hören wir seit Generationen. Diese Kapitalismus-Kritik ist uralt. Jetzt kommen die Journalisten dran - Stichwort: die Lügenpresse. Der Vorwurf ist auch uralt. Honoré de Balzac kritisierte in seinem Roman Verlorene Illusionen die journaille scharf. Die Lügenpresse ist ein ungelenker, naiver Vorwurf mit einer kontaminierten Geschichte. Er ist gut für eine selbstgerechte, heftige Empörung von Journalisten. Gelogen wird nicht, würde ich sagen, eher zu schnell geschrieben.

Nehmen wir das Beispiel von Helene Bubrowski. Sie schreibt:
"Angeheizt durch entfesselten Hass, werden in der Parallelwelt (des Internet) aus gefühlten Wahrheiten schnell Aufträge zum Handeln. So stürmte kürzlich ein Mann in eine Washingtoner Pizzeria und schoss um sich, weil er der Theorie anhing, Hillary Clinton stehe im Zentrum eines Kinderpornorings, der aus dem Keller der Pizzeria heraus agiere".

Helene Bubrowski erzählt die Geschichte einer direkten Kausalität. Entfesselter Hass steigert die Körpertemperatur - wie hoch eigentlich? Ein solcher Prozess der psychischen Entdifferenzierung hat mit einem Aufheizen nichts zu tun. Das Seelische ist kein Ofen. Zudem soll er sich zur Mitteilung eines Auftrags formieren, den der Mann aus Washington aufnahm und womöglich später  als Rationalisierung seines mörderischen Vorurteils ausgab. Mit dem Adverb so (im zweiten Satz) versucht Helene Bubrowski, die Kausalität zu begründen. Das ist unsauber argumentiert. Zudem wird man den Motivkomplex schlecht eine Theorie nennen können. Der Umgang mit dem Begriff Theorie  ist unscharf und inflationär. Direkte Kausalität und verkehrte Begriffsverwendung sind hier zwei Merkmale eines schlechten Journalismus, der nicht lügt, aber schludert.  Fake news ist der journalistische Kampfbegriff gegen die bedrohliche Konkurrenz des Internet. Aber ist nicht jeder sprachliche Kontext erfunden? Gestaltet? Mit dem eigenen Verständnis unterlegt? Man muss sich über die Qualität des Kontexts verständigen. Das fake als Disqualifikationsmerkmal ist zu wenig. Der bei uns propagierte Qualitätsjournalismus muss sich von Fall zu Fall bewähren. Unsere Wirklichkeiten sind äußerst komplex. Das Fuchteln mit dem Konzept der Wahrheit wirkt hilflos. Wir kriegen nur Annäherungen hin, die beweglich bleiben müssen und nicht in die schlichte Dichotomie von richtig oder falsch gezwängt werden - wobei allerdings die dichotome Logik die Mathematik der Digitalisierung ziemlich vorangebracht hat. Wir werden - dies ist mein Eindruck - gezwungen, uns dieser Logik zu fügen. Das, vermute ich weiter, wird heftige Konflikte erzeugen. Den Aufschrei können wir bereits vernehmen.

Sonntag, 11. Dezember 2016

Wilhelm Salber ist tot

Wilhelm Salber, am 2.12.2016 gestorben, der Lehrstuhlinhaber für das Fach Psychologie an der Kölner Universität von 1963 bis 1993, war der ungewöhnliche Professor mit seiner eigenen, eigenwilligen, weit reichenden Konzeption, die er die Morphologie des seelischen Geschehens nannte und darin Goethes Idee der Morphologie, Phänomenologie (Husserl, Heidegger und Sartre), Gestaltpsychologie (Lewin), Ganzheitspsychologie (Sander und Wellek) und die Psychoanalyse Freudschen Zuschnitts aufnahm und übersetzte. Ideologisch armierte Frontstellungen scherten ihn nicht. Was er sinnvoll fand, brachte er zusammen. Was er nicht sinnvoll fand, dekonstruierte er erbarmungslos und fröhlich - das Seelische, fand er, lässt sich nicht lokalisieren, weder in einem wie auch immer konzipierten Inneren eines Menschen, noch im Gehirn; es gibt kein Innen und kein Außen, Subjekt und Objekt sind unlebendige Abstraktionen; das Seelische lässt sich nur entdecken in der unendlichen Vielfalt der Lebens- und Handlungsformen, ihrer Variationen, Modifikationen, Brüche, Zusammenbrüche und ständigen Neu-Produktionen. Das Seelische, salopp gesagt, ist das Prinzip und der Formausdruck des Lebendigen - kein System neben dem (vermeintlich) anderen System des Körperlichen, sondern Grundlage unserer Existenz in den vielen Formen unserer Lebens-(Alltags-)praktischen wie institutionalisierten Kultivierung.

Das war für unsereinen, der sich mit seiner Angst und Scham durch ein Kölner altsprachliches/neusprachliches Gymnasium gequält hatte, schwer zu hebender Stoff. Wilhelm Salber sprach vom Kino und ließ mich aufleben. Was für ein Kontrast! Er befreite, befeuerte und deprimierte. Seine Konzeption klang einfach, war aber enorm schwierig. Die Welt des Seelischen ist komplex und schwer zu erfassen. Wilhelm Salber verkaufte sie nie in kleinen Münzen. Er empfahl, die Komplexität nicht zu verraten. Den NeuroNeuro-Mumpitz verspottete er als unseren modernen Mythos. Qualitative, beschreibende und hermeneutische Forschung kam vor der quantitativen Forschung, lange Interviews vor kurzem Abhaken von holzschnittartigen Fragen. Nichts ist praktischer als eine gute Theorie, soll Kurt Lewin gesagt haben. Das Problem der Morphologie des seelischen Geschehens ist, dass ihre Praktikabilität sich erst nach vielen Jahren, vielleicht Jahrzehnten erweist. Nach zwei Jahrzehnten Berufstätigkeit begriff ich langsam, welchen Reichtum ich in den Jahren meines Studiums (1964 - 1971) bei Wilhelm Salber aufgenommen und welches robuste Rüstzeug ich bei ihm erworben hatte. Schnelles Ernten, weiß ich heute, taugt wenig.

(Überarbeitung: 11.3.2020) 

Mittwoch, 23. November 2016

Donald Trump III: Er wird salonfähig

 Gestern traute ich meinen Augen und Ohren nicht: in den Tagesthemen wurde entwarnt. Alles gar nicht so schlimm. Die Geschäfte laufen - wegen des President-elect. Einige Firmen-Chefs wurden für die Kamera und vor der Kamera befragt: jetzt können ihre Geschäfte wieder laufen. Sollte in die (z.B.) Gesundheitsgesetzgebung in den U.S.A. eingegriffen werden, können die Preise für Medikamente wieder Markt-gerecht flottieren. Darüber freute sich ein Arzeneimittelhersteller. Ist das nicht schön? Endlich wieder richtig Geld verdienen? Was sollen die Beschränkungen in Sachen Klima? Halten nur vom Geschäft ab. Was sollen die Bedenken zum President-elect? Ist doch Klasse: es geht doch aufwärts. Wahrscheinlich geht es abwärts, wenn es so weiter geht.


Das waren ein paar Minuten Lehrzeit im bundesdeutschen Fach Korruption: wenn das Geschäft läuft, läuft die Demokratie... Damit das so bleibt, bleibt unsere Kanzlerin. Leider wird Christoph Butterwegge als Bundespräsident - wahrscheinlich - nicht gewählt werden: er hätte ihr etwas - etwas! - widersprechen können.

Was lese ich heute Morgen (23.11.2016, S. 25) im Wortschaftsteil der Zeitung für die klugen Köpfe? Den Titel eines kleinen Textes: "DZ-Bank: 'Trump agiert rationaler als erwartet" - sagte Stefan Bielmeier, Chefsvolkswirt der DZ-Bank. Rationaler ist ein Komparativ: kann man rational steigern? Weiß Stefan Bielmeier, was er wie sagt? Wahrscheinlich nicht.

Ein paar Seiten zurückgeblättert: Winand von Petersdorff interpretiert das Video des President-elect, der in gut zwei Minuten seine Regierungspläne verbreitet und sich bislang keiner Pressekonferenz gestellt hat: "... dass Trump vielleicht doch nicht so realitätsblind ist, wie es bisher erschien" (S. 15). Ob er weiß, was Realitätsblindheit ist - offenbar nicht. Was ich befürchtet hatte (s. meinen Blog vom 11.11.2016: We remember you said that), ist hier zu sehen: Winand von Petersdorff lässt sich einlullen - er verbreitet die gute Nachricht einer vagen Hoffnung (vielleicht!), wo eine gute Nachricht nicht zu verbreiten ist. Anders gesagt: die Aussicht aufs Geschäft korrumpiert auch hier. Was ist mit unserer Öffentlichkeit?

(Überarbeitung: 24.11.2016)

Montag, 21. November 2016

Neues von den Hütern der Heiligen Kuh XXXXIV: sie sind in Not und schimpfen und mogeln sich durch die Öffentlichkeit

Matthias Müller,  Vorstandsvorsitzender von Volkswagen, ist interviewt worden; das Gespräch wurde gestern (am 20.11.2016) in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (S. 25, Nr. 46) veröffentlicht. Er wurde gefragt, ob er verstehen könnte, dass sich die bundesdeutschen Kunden benachteiligt fühlen könnten.

Seine Antwort: "Emotional kann ich das nachvollziehen. Aber man kann das nicht über einen Kamm scheren, denn die Ausgangssituation ist völlig unterschiedlich. Den Kunden in Europa entsteht ja kein Nachteil, weder beim Verbrauch noch bei den Fahreigenschaften. Und wenn ich das anfügen darf: Auf der einen Seite kritisieren viele die amerikanische Gesetzgebung in anderen Zusammenhängen, siehe TTIP. Wenn es aber darum geht, Vorteile daraus zu ziehen, scheint das amerikanische Recht auf einmal der richtige Weg zu sein".

Sätze eines Verkäufers, der seinem Kunden einzureden versucht, dass er mit dem Produkt zufrieden sein soll, weil es doch funktioniert. Ein Betrug, der bei uns von einer gelähmten Behörde toleriert und strafrechtlich (noch) nicht verfolgt wird, ist kein Betrug, sondern normale Praxis der Korruption. Wieso die Aufregung? sagt uns Matthias Müller unter der Hand. Alles in Ordnung.  Dann folgen die schlichten Sätze zum U.S.-Recht: es diene nur der Bereicherung (Vorteile daraus ziehen) - und sei deshalb ungerecht. Matthias Müller klagt über das U.S.-Rechtssystem. 

Dann klagt er den Kunden an. Zur Elektromobilität gefragt, ob die bundesdeutsche Auto-Industrie sie verschlafen hätte, antwortet Matthias Müller: Nein. "Am Angebot mangelt es nicht, sondern an der Nachfrage: Auf der einen Seite denken und handeln viele Deutsche im Alltag grün, wenn es aber um E-Mobilität geht, haben wir als Verbraucher spitze Finger".

Haben wir spitze Finger? Man müsste die Antworten der Leute, die keine E-Autos kaufen, dazu untersuchen. Sicher ist: die Technik ist neu und ungewiss. Die meisten werden das Geld für mobile Experimente nicht aufbringen können oder aufbringen wollen. Elektromobilität ist ein Wort, das gut klingt, aber in unseren Alltag noch nicht hinein passt. Sie erfordert einen anderen Umgang mit dem Auto. Tankstellen sind überall - aber wo sind die Steckdosen? Tanken geht in ein paar Minuten, aber wie lange dauert das Aufladen? Weiß doch keiner im einzelnen. Die Umstellung ist  schwierig. Wenn wir künftig  jemanden besuchen, suchen wir zuerst die Steckdose. Das lange Kabel haben wir dabei.  Ein zweites Auto zur Kompensation der (vergleichsweise) beschränkten Mittel des von einem Elektromotor getriebenen Fahreugs wäre nicht schlecht. Spitze Finger: der Mann hat einen Chauffeur!

Was Matthias Müller nicht sagt:
1. das von einem Verbrennungsmotor angetriebene Auto ist ein Auslaufmodell. Die Fantasie von der aristokratischen Kutsche vor der Haustür verlebt sich in den Großstädten.
2. Elektromobilität ist ein ungedeckter Scheck auf die Zukunft; niemand weiß, wie sie alltagstauglich sein wird. Wie sollen 40 Millionen von Explosionen angetriebenen Autos ersetzt werden? Die VW-Leute reden, wenn der Tag lang ist und die ungläubigen Journalisten sprachlos zuhören und mitschreiben.
3. Sie ist ein wilder Plan der Produkt-Diversifikation und der Produkt-Auswechslung. Auf sie zu setzen, ist eine heftige Lenk-Bewegung und Ausdruck der Wolfsburger Not: es gibt offenbar keine Konzeption einer kontrollierten Evolution unserer Mobilität. Die  Grundidee besteht im Austausch des Antriebs. Am einzelnen Fahrzeug - an der Fantasie der Kutsche - wird festgehalten. Die Überlegungen zur Veränderung der Mobilität wirken allgemein und hingetupft.  Die VW-Leute tagträumen und tagträumen. Sie hoffen natürlich auf eine Regierung, die ihnen die Steckdosen und andere Infrastrukturen bezahlt. Die Idee der eigenen Batterien-Herstellung kursiert zur  Beruhigung der VW-Leute, die nicht wissen, wohin mit ihrem riesigen Konzern, der für den Ausstoß von Millionen Fahrzeugen ausgelegt ist: wie ein 400 Meter langer Tanker, der auf dem Rhein verkehren möchte.
4. Der Konzern plant, 30.000 Mitarbeiter und Mitarbeiter zu entlassen. Das wirkt wie der Beginn einer Münchhausen-Strategie. Das ist der Beginn der Politik einer enormen Schrumpfung. Wir erfahren nur Halbwahrheiten.
5. Der Konzern verfolgt jetzt eine widersprüchliche Politik: einerseits die Elekromobilität  - andererseits, für den nordamerikanischen Markt, die Riesen-Autos auf Riesen-Rädern. Wie geht das zusammen? Gar nicht. Die Konzern-Leitung verspricht, was sie für Markt- und Politik-tauglich hält. Schließlich hat unsere Kanzlerin, um ihre eigene Haut zu retten, die Elektromobilität versprochen.
6. Matthias Müllers Kunden-Beschimpfung ist der bekannte Ausruf des Diebs, den Dieb zu halten.
7. Matthias Müllers und Herbert Diess' (des VW-Markenchefs)  bescheidene Argumentationen  zur Not und Zukunft der verfolgten Unschuld - die jetzt wie ein ertappter Dissozialer verspricht, sich komplett zu ändern - ist kein gutes Zeichen.
8. Es ist auch kein gutes Zeichen, dass in unserer Republik kein Losprusten über die gut geföhnten VW-Herren zu hören ist. Natürlich ist unsere Abhängigkeit von einem Konzern wie VW beunruhigend. Wieder werden Familien bedroht, Lebenspläne zerstört, Menschen an den Abgrund gedrückt. Die Lebensrealitäten verschwinden im Nebel der Kutschen-Fantasien.

(Überarbeitung: 23.11.2016)       

Freitag, 11. November 2016

Ein Alltagsbeispiel bundesdeutscher Korruption

In meinem Wohnort hatte ein enormer Regen im Souterrain eines Haushaltswaren-Geschäftes die elektrischen Geräte (Schlagbohrer, Polierer etc.) zerstört. "Das ist ein Versicherungsschaden", sagte ein Kunde, "wenn Ihr das Geld bekommen habt, könnt Ihr die Geräte dann weiterverkaufen".

"Das ist doch Versicherungsbetrug", meinte ich. "Aber legal", sagte der Kunde.

Wie repräsentativ ist für uns dieses Beispiel des Verlusts des (demokratischen) moralischen Kompasses?

Der Weckruf

Am Mittwoch nach der Wahl des neuen U.S. Präsidenten (9.11.2016) hörte ich Radio. Jemand sagte: das Votum für Donald Trump wäre ein Weckruf für die Europäische Union. Ja, wenn unsere Politikerinnen und Politiker aufwachen und eine gemeinsame, unabhängige Politik diskutieren könnten, wäre das Klasse. Leider sind die Regierungen der Union zerstritten. Unsere Bundeskanzlerin hatte nichts Besseres zu tun, als den künftigen Amtsinhaber Donald Trump an die Kleiderordnung und die Tischmanieren zu erinnern - anderenfalls würde sie sich nicht mit ihm zusammen setzen. An die dringende Aufgabe, sich auf eine gemeinsame Politik zu verständigen, hat sie nicht erinnert.

Donald Trump II: "We remember you said that!"

Zur Übergabe des Präsidentenamtes an Donald Trump sagte Barack Obama (sinngemäß): das Amt ist größer als die Person. Das ist richtig insofern, als das Amt des U.S.-Präsidenten seine eigene, institutionalisierte Geschichte und Dynamik entfaltet, die von vielen Faktoren bestimmt wird - ein Chef, das kennt man, muss sich einfügen in die Organisation, die ihn abhängig macht in vielen Kontexten und die er zu leiten unternimmt. Kann man die Hoffnung haben, dass das Amt des Präsidenten Donald Trump zu einem Amtsträger zivilisiert? Wahrscheinlich nicht - denke ich mittlerweile (s. meinen Blog vom 31.10.2016). Donald Trump hat versprochen: keine Rücksicht zu nehmen. Politische (institutionalisierte) Bauten werden eingerissen. Man kann erwarten: er wird versuchen, das Amt zu plündern oder zu perviertieren. Also muss er (und seine Stäbe) präzis kontrolliert werden. Er wird, damit muss man rechnen und sich nicht einwickeln lassen, seine Tischmanieren anpassen. Wie früher, als man für den Gang ins Opernhaus die dunkle Kleidung anlegte (schon lange her). Deshalb kommt es darauf an, sich gut zu erinnern an Donald Trumps Handeln auf den Bühnen seiner Wahl-Kampagnen. Er wird sich heraus zu reden versuchen. Er wird zu verwirren versuchen. Aber er kann den institutionalisierten Rahmen nicht verändern: die Repräsentanten des Rahmens werden ihn halten, bremsen oder vom Platz stellen.

"We remember you said that", lautet der präzise Satz des Nachhaltens, den John T. Chance (John Wayne) dem Mann in der Kneipe in Rio Bravo (Regie: Howard W. Hawks; Buch: Leigh Brackett und Jules Furthman; U.S.A. 1959) sagte, der versichert hatte, der flüchtige Mörder hätte sich nicht dort versteckt. Der Mörder wird in der Kneipe gestellt, der Mann mit der Lüge bekommt sein Fett weg.  "We remember you said that" heißt in der journalistischen Begleitung des neuen Präsidenten: ihn zu konfrontieren mit dem Bild seiner Handlungen während des Wahlkampfs - und sich nicht einlullen lassen von den gesitteten Tischmanieren. Pressure on Power nannte David Remnick vom The New Yorker die journalistische Haltung, die die Fakten prüft und die Aufdeckung der Lügen verfolgt. Sie ist die angemessene Perspektive der Skepsis auf die Zivilisierbarkeit des Trägers des Präsidentenamtes.    

Richard Nixon war, wie es Jonathan Schell in seinem Buch The Time of Illusion beschrieben hat, der erste U.S.-Präsident, der das Amt pervertierte, indem er das Polieren der Amts-Fassade intensiv betrieb, während er die Ideale seines Amtes korrumpierte. Er wurde, kurz nachdem er zum zweiten Mal in das Amt des U.S.-Präsidenten gewählt worden war, zum Rücktritt gezwungen. Man kann davon ausgehen, dass jeder Schritt des U.S.-Präsidenten Donald Trump in den U.S.A. genau verfolgt wird.  Pressure on Power heißt auch: das Amt des Präsidenten öffentlich zu verteidigen und zu schützen. Wir werden sehen, wie weit und wie lange der rhetorische Bluff des Wahlkampf-Rabauken trägt. Zur Zeit, so registriert die Washington Post (11.11.2016), schart der President-elect die üblichen Verdächtigen der konservativen Machtelite um sich. We remember you said that.

(Überarbeitung: 14.11.2016)  

Donald Trump I:An American Tragedy

"An American Tragedy" überschrieb David Remnick vom The New Yorker seinen Blog vom 9.11.2016. Er beginnt seinen Text mit diesen beiden Sätzen:

"The election of Donald Trump to the Presidency is nothing less than a tragedy for the American republic, a tragedy for the Constitution, and a triumph for the forces, at home and abroad, of nativism, authoritarianism, misogyny, and racism. Trump's shocking victory, his ascension to the Presendency, is a sickening event in the history of the United States and liberal democracy".

"Die Wählerschaft", schreibt David Remnick, "hat in ihrer Mehrheit entschieden, in Trumps Welt zu leben". Wie Trumps Welt innen aussieht, wissen wir nicht - wir kennen nur das glitzernde Dekor seiner pompösen New Yorker Umgebung. Mit seiner Kampagne der Selbst-Besoffenheit vom eigenen Status und des Triumphs der zivilen Entdifferenzierung ließ sich Trump als der Messias des Zurückschlagens feiern: wir lassen uns nichts mehr gefallen und wir nehmen, was uns gefällt. Acht Jahre der Präsidentenschaft Barack Obamas sind genug. 

Sigmund Freud prägte das Wort vom Unbehagen in der Kultur. Jetzt könnte man vom Aufschrei des Unbehagens in der Demokratie sprechen. Dass mit der Wahl Donald Trumps die öffentliche Diskussion gezwungen wird, den Aufschrei derer wahrzunehmen und aufzunehmen, die in der drastischen nordamerikanischen Wortwahl unter den Lebensbedingungen des white trash leiden, kann für eine demokratisch verfasste Gesellschaft nur gut sein. Demokratie setzt auf den systematischen, belegten Austausch: auf Fairness, Redlichkeit und Aufrichtigkeit. Diese Ideale sind schwer zu verwirklichen. Angesichts der westlichen Fantasien vom Glanz des Reichtums halten sie bei der Realisierung der Fantasien nur auf - kein Wunder, dass die Korruption des großen und des kleinen Geschäfts häufig mit Achselzucken quittiert wird. Das Achselzucken ist gefährlich - es signalisiert den Rückzug aus der Auseinandersetzung um das für eine Demokratie notwendige Gefühl fairer Lebensverhältnisse und der Hoffnung auf einen redlichen und aufrichtigen Umgang und es kumuliert im mittlerweile weit verbreiteten Aufschrei wütender Ohnmacht.

Jetzt wird die Ohnmacht gehört. Man kann sie als Ressentiment - sozialwissenschaft korrekt, aus sicherer Mittelklassenlage -  etikettieren, um die Wucht projektiv adressierter Affekte zu bezeichnen. Man kann sie -  was häufig mit der  Wortwahl-Praxis der Verachtung (Beispiele: der Wutbürger, der Verlierer, der Bildungsferne) geschieht - belächeln. Man kann sie auch als die zunehmend konturierte Erfahrung unfairer, kränkender Lebensverhältnisse verstehen. Es wird Zeit, sie gut zu erforschen.

Die Tragödie, von der David Remnick sprach, ist sicherlich nicht sein letztes Wort. Im aristotelischen Verständnis diente sie der Katharsis: der Klärung, der Ernüchterung und Besinnung des Publikums. Bis dahin nahm das Theaterstück einen langen Anlauf. Wir wissen nicht, wo wir uns in diesem Ablauf befinden. Wir sind mitten drin im Prozess der Klärung der Frage, wie wir leben wollen. Wahrscheinlich nicht so wie der Immobilien-Mann in seinem Apartment in Manhattan. Wir machen weiter mit dem Geschäft der Klärung der (demokratisch verfassten) Lebensverhältnisse.

Ein Problem (das genügt für heute) sind auch die demokratisch fragwürdigen (nach meinem Geschmack: korrumpierenden) Praxen regelmäßiger demoskopischer Befragungen zum politischen Geschehen. Sie dienen vor allem der Nachtsteuerung der Regierungspolitiken im Kontext der künftigen Wählbarkeit und der Generierung der Aufmerksamkeit der damit befassten Medien. Hätte es vor dem 8.11.2016 keine Prognosen gegeben, wären wir nicht so überrascht worden. Prognosen relativieren die Bedeutung der Wahl. Die schlechten Prognosen zum Wahlausgang am 8.11.2016, muss man vermuten, waren einerseits das Resultat ungenügender Forschung und andererseits das Resultat ungenügender Auskunftbereitschaft der befragten Wählerinnen und Wähler. Befragungen haben das Problem, dass sie punktuell Absichten abfragen, von denen unsicher ist, ob sie realisiert werden. Absichten sind bewusste Handlungsentwürfe - die nicht bewussten Handlungsentwürfe fallen häufig durch das Fragebogen-Raster.

(Überarbeitung: 14.11.2016)

Montag, 31. Oktober 2016

Ist die öffentliche Diskussion bei Donald Trump mit ihrem Latein am Ende?

Nein.
Obgleich die Washington Post heute (31.10.2016) den Kommentar von Paul Waldman ins Netz stellt - sein Titel: Trump's history of corruption is mind-boggling. So why is Clinton supposedly the corrupt one? Paul Waldman wundert sich sehr: Hillary Clintons Vergehen - strafrechtlich ungeklärt -  wird im Detail recherchiert und ausgebreitet; Donald Trumps Liste strafrechtlicher Vergehen ist unglaublich lang - und wann immer eins ans Tageslicht kommt, verschwindet das öffentliche Interesse an Klärung schnell und leise. Wieso?

Ja, wieso? Dessen Liste ist enorm lang. Renommierte Zeitungen und Zeitschriften der Vereinigten Staaten beziehen Stellung gegen den Präsidentschaftskandidaten. Psychiater erörtern Diagnosen der Persönlichkeitsstörung von Donald Trump. Der Autor eines Donald Trump idolisierenden Buches bedauert seine Autorenschaft; in der Zeitschrift The New Yorker bereute er seine Anstrengung eines salonfähigen Make-ups für diesen Mann. Republikanische Politikerinnen und Politiker beziehen ebenfalls Stellung und raten ab, ihn zu wählen; manche ziehen allerdings ihr Votum zurück und machen eine Kehrtwende. Erstaunlich.


Ist das erstaunlich? Wie soll das enden? raufte sich heute Morgen der Kommentator der Zeitung für die klugen Köpfe (21.10.2016, S. 8) den Kopf. Hier ein paar Gedanken gegen die Ratlosigkeit.

1. Die öffentliche Diskussion erreicht nicht die kursierenden Affekte, die das Vergnügen an der Entdifferenzierung ausmachen: das gestattete Besoffensein ohne besoffen zu sein; statt Sprechen: Grölen; statt Argumente: das zweifelsfreie Behaupten der eigenen Wahrheit; statt Dialog: Monolog; statt Erörterung: die endlose, repetive Klage über die Ungerechtigkeit der Lebensverhältnisse und das an einem verübte Unrecht. Das Vergnügen an der aggressiv präsentierten Entdifferenierung muss ernst genommen werden als die normale Krise der Demokratie; die Fortschrittsbewegungen überfordern und schließen aus; das Gefühl oder die Lebenstatsache von Exklusion - das noch nicht ausreichend eingelöste demokratische Versprechen der Teilhabe aller Bürgerinnen und Bürger  - ist das Problem. Aber wahrscheinlich ist das Wort von der Krise der Demokratie die Vokabel eines Ängstlichen - ohne heftigen Streit, der leider nicht das Niveau eines Oberseminars hat, ist das Überleben unserer demokratischen Staatsform nicht zu haben; Veränderungsprozesse sind normalerweise äußerst strapaziös. Das Klagen ist unproduktiv. 2. Donald Trump ist die öffentliche Figur, in der die medial aufgeblasene und auf Hochglanz polierte Kultur des Anhimmelns - wer hält sich dabei zurück? - mit ihrer ständig begafften Konkurrenz um die Repräsentationen von Macht, Reichtum und Schönheit kulminiert und ihren Protagonisten gefunden hat. 3. Die journalistischen Narrative der Empörung bedienen die Abscheu und das Vergnügen. Das ist das Problem der Massenmedien. 4. Rabauken als Delegierte der Entdifferenzierung sind vor der strafrechtlichen Verantwortung nicht geschützt; ihre Vergehen müssen präzis ermittelt werden und, wenn nötig, bestraft werden. 5. Der institutionalisierte Rahmen der demokratischen Verfassung hält das Vergnügen an der Entdifferenzierung aus. 6. Sollte der Präsidentschaftskandidat Präsident der Vereinigten Staaten werden, wird er sich dem Amt fügen müssen.

(Überarbeitung: 2.11.2016)

Donnerstag, 20. Oktober 2016

Fundsachen II: the driverless car

Das fand ich vorgestern in der Washington Post online (18.10.2016): den Text von Michael Laris und Ashley Halsey III "Will driverless cars really save millions of lives? Lack of data makes it hard to know". Das ist ein skeptischer Text. Mir fiel der Ausdruck driverless cars auf: endlich ein genaues Wort. Auf eine Leere wird hingewiesen: der Fahrer oder die Fahrerin fehlt. Das ist ein Problem.

Was wird übrigens, wenn die driverless cars fahren und ich fahre auch. Diese Autos müssten doch markiert werden, damit ich weiß, mit wem ich es zu tun habe und einen großen, sehr großen Abstand halten kann. Ob das gespenstisch wird?

Dienstag, 18. Oktober 2016

Journalismus-Lektüre XXXXIII (Beobachtung der Beobachter): Achtung: Fallen-Sucher!

"Psycho-Falle" nennt Christian Geyer heute in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (18.10.2016, S. 11, Nr. 243) das Problem des sächsischen Justizministers Sebastian Gemkow, der auf die Psychologin im Leipziger Strafvollzug hereingefallen wäre, weil er deren Einschätzung eines nicht akuten Impulses zur Selbsttötung folgte und sein Rechtsverständnis der Verhältnismäßigkeit  in der ARD-Sendung Anne Will vertrat.

Die "Psycho-Falle" ist keine Falle - auch nicht, wenn er schreibt: "Die prognostische Kraft, die dem Psychologenwort hier von rechtspolitischer Seite zugesprochen wird, hat etwas zutiefst Verstörendes". Man muss den Satz mehrmals lesen. Das Psychologenwort - mit der Anspielung an das Wort Gottes - trieft von Ironie und Unkenntnis. Das Psychologenwort ist nicht das letzte Wort: es ist im Kontext der JVA eine Einschätzung und eine Handlungsempfehlung - der Leiter der JVA muss ihr nicht folgen; der Justizminister auch nicht. Das Psychologenwort ist auch nicht nur ein vielleicht schnell gesagtes Wort, sondern sollte der nach einem bewährten Konzept in einem gründlichen diagnostischen Prozess gewonnene, verdichtete Befund sein. Seine Plausibiliät und Reichweite sind dann zu prüfen (s. meinen Blog zur Frage der Einschätzung des Impulses zur Selbsttötung vom 14.10.2016). Was ist dann das zutiefst Verstörende?

Die empörte Gespreiztheit (zutiefst) und die Unkenntnis des Autors hinsichtlich psychologischer Verfahren, ihrer Konzepte und Grenzen - sprachlich grell geschminkt mit dem Puder der Betroffenheit.

Er schreibt weiter:
"Worum es geht, ist die systemische Frage nach dem autoritativen Rang von psychologischen Stellungnahmen in juristischen Prozeduren, eine Frage, wie sie auch in der Gutachterdebatte zur Schuldfähigkeit immer wieder aufflammt".

Eine Frage, die aufflammt, ist eine schöne Frage. Aber gehen wir diesen Satz durch. Der autoritative Rang ist Dicke-Tun. Der Status der psychologischen Gutachterin oder des psychologischen Gutachters ist geregelt: sie oder er leistet dem Gericht Hilfe; die Richter sind verpflichtet, die Plausibilität eines Gutachtens - das mehr ist als eine Stellungnahme - zu prüfen und sich ein eigenes Bild zu machen. Die Anforderungen an ein Gutachten liegen fest; allerdings erfüllen nicht alle Gutachterinnen und Gutachter diese Qualitätsmerkmale. Darüber habe ich hier mehrmals etwas gesagt (s. meine Blogs vom 3.2.2015 und 18.8.2014). Die juristischen Prozeduren, die der Autor mit spitzen Fingern in seinen Rechner tippte und so dem Fachausdruck aus dem Weg ging (vermute ich), heißen Erkenntnisverfahren, in denen die Frage der Schuldfähigkeit geprüft wird.

Was lernen wir? Wer Fallen sucht, muss gut aufpassen. Und die Redaktion muss auf ihren Fallen-Sucher aufpassen. 

(Überarbeitung: 14.12.2016)

  

  

Freitag, 14. Oktober 2016

Sachsen! Sachsen? Sachsen! Etwas zur Unbarmherzigkeit der öffentlichen Diskussion

Gestern in den Tagesthemen (am 14.10.2016): die Empörung der Redaktion, die Pina Atalay zu präsentieren hatte, war groß. Der Text der Empörung: wie kann man so dämlich sein. Alles war bekannt, so lautete die Lesart: Jaber Albakr, der junge Mann aus Syrien, der begründet verdächtigt wurde, einen Mord-Versuch vorzubereiten, und deswegen in Untersuchungshaft genommen worden war,  galt als Selbstmordattentäter, weswegen er hoch gefährdet war, sich zu suizidieren. Was einfach klingt, ist noch lange nicht einfach.

1. Nach dem, was in der Öffentlichkeit bekannt wurde, wissen wir nicht, wie Jaber Albakr den Mord-Versuch zu realisieren beabsichtigte.

2. Wir wissen nicht, mit wem er in Kontakt stand und wer ihn unterstützte.

3. Wir wissen nicht, ob er den Mord-Versuch unternommen hätte.

4. Eine Selbstmord-Entscheidung ist keine Kaufentscheidung - sie fluktuiert, je nach Lebenskontext; sie wird fantasiert, aufgegeben, aufgenommen, aufgegeben, aufgeschoben, aufgenommen ... es ist ein verzweifelter, dramatischer Lebenskonflikt, zu dem sich jemand erst im Kontext ihrer definitiven, irreversiblen Realisierung entscheidet. Weshalb es äußerst schwierig, wenn nicht unmöglich ist, eine Selbstmord-Absicht hinsichtlich der Stärke ihres Impulses zur definitiven Realisierung abzuschätzen.

5. Wir wissen nicht, ob er kooperiert hätte.

 6. Nachdem, was ich aufgenommen habe (Quellen: Tagesthemen und Frankfurter Allgemeine Zeitung, die heute - 14.10.2016, S. 1 und S. 3 -  für Verständnis wirbt),  habe ich den Eindruck, dass die sächsischen Behörden allein gelassen wurden. Vielleicht, aber das müsste angemessen geklärt werden, waren sie überfordert. Vor allem forensische Abteilungen in den psychiatrischen Kliniken haben viel Erfahrung mit dem Problem der vermuteten Selbstmord-Absicht psychisch kranker Straftäter. Ob daran gedacht wurde, Jaber Albakr in eine forensische Abteilung zu verlegen, weiß ich nicht; ihr gesetzlicher Auftrag widerspricht allerdings der Aufnahme eines Beschuldigten in U-Haft.  JVAs in anderen Bundesländern sollten über ähnliche Erfahrungen und ausreichende Kontroll-Möglichkeiten verfügen. Sollte die Vermutung der Überforderung zutreffen, müsste geklärt werden, weshalb sie nicht von den übrigen Verantwortlichen wahrgenommen wurde.  

7. Die Empörung hat unbarmherzigen Charakter. Sie besitzt offenbar keine Sachkenntnis. Sie unterschlägt den Gedanken der Kooperation.

8. Bleibt die Frage zur Bedeutung des öffentlich kursierenden Affekts der Empörung. Das Vergnügen an der Empörung beutet die öffentliche Diskussion aus. Ob die Empörung Ausdruck einer
verbreiteten, geteilten Angst-Bereitschaft ist, müsste untersucht werden.

(Überarbeitung: 17.10.2016)
  

Mittwoch, 12. Oktober 2016

Worte zum Einlullen VII: die Forschung sagt ....

... ist häufig eine Nachricht wert. Leider wird dann selten geprüft, was die Forschung wert ist. Heute Morgen lese ich: "Werbung als Wachstumsmotor. Studie zur ökonomischen Bedeutung von Werbung" (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13.10.2016, S. 19, Nr. 239). Ich war gespannt. Ich hatte das Wort meines Schweizer Freundes im Ohr, der, Marketing-Mann einer großen internationalen Firma, einmal sagte, dass die Werbung vor allem den Werbeleuten nütze. Also - was sagt die Studie: Werbung sei ein "wichtiger Wachstumsmotor für die Volkswirtschaft". Wie wurde das herausgefunden? Sagt die Nachricht nicht. Die Existenz der Studie reicht als Begründung des Befundes. Auftraggeber der Studie sind die führenden Werbeverbände; durchgeführt wurde die Studie vom Deutschen Institut für Wirtschaftsführung. Gab es eine Kollision der Interessen? Da sagt die Nachricht nichts zu. Wohl erfahre ich, dass die Studie gute 70 Seiten umfasst. Keine Prüfung der Hypothesen, der Verfahren. Die Nachricht ist eine Nicht-Nachricht: prüfen kann ich nix.

Drei Seiten weiter folgt der Kommentar von Julia Löhr. Sie zieht den Wert der Studie in Zweifel - ohne die Studie zu prüfen. Denn, so schreibt sie: "Das Problem der Werbebranche ist nicht, dass jemand grundsätzlich ihren Nutzen in Zweifel zieht". Doch, das tue ich, und ich wünsche mir einen
Beleg, der mein Vorurteil korrigiert.  Julia Löhr hat Zweifel, wie die Branche mit den riesigen Budgets umgeht. Mein Vorurteil besteht weiter. Meine Frage: was habe ich davon, diese Art von Nachricht, die dann noch für einen Kommentar taugt (in der Einschätzung der Redaktion), zu lesen und nach Substanziellem zu suchen? Wenig. Sie taugt zu diesem Blog. 

  

Journalismus-Lektüre XXXXII (Beobachtung der Beobachter): eine Bemerkung zum journalistischen Einmaleins

Über ihre Konzepte, da wiederhole ich mich häufig, geben die journalistischen Beobachterinnen und Beobachter unzureichend Auskunft. Ein Beispiel - es kommt mir typisch vor - ist der Text von Ralph Bollmann über Sigmar Gabriel in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung: "Der Populist". Untertitel: "Sigmar Gabriel war mal Wirtschaftsminister. Jetzt schaltet er um auf Wahlkampf und Volksnähe. Kann er sich damit retten?" (F.A.S. vom 9.10.2016, S. 28, Nr. 40).

Das journalistische Einmaleins besteht darin, die politischen Kontexte als gelungene oder missglückte Realisierung eines Machtmotivs zu verstehen und ihn auf einen individualisierten Kontext zu reduzieren. So lässt sich leicht über komplexe Kontexte raisonnieren - aus der Perspektive dessen, der oder die den Politiker oder  die Politikerin in die Tasche stecken zu können glaubt. So dreht der Beobachter seine Position des Nicht-Wissens oder Wenig-Wissens um. So hält er seine Leserin und seinen Leser bei Laune: es geht so vertraut zu mit der Einladung zur Herablassung. Die andere Frage ist: an wen adressiert Ralph Bollmann seinen Text? Imaginiert er Sigmar Gabriel als den Leser seines Textes?

Dazu gibt er natürlich keine Antwort. Aber die Beschäftigung mit dem politischen Akteur lässt eine Art von imaginierter Beziehung vermuten. Das ist gewissermaßen die (heimliche) interaktive Seite des journalistischen Einmaleins.

Sigmar Gabriel nimmt zur Zeit eine - auf den ersten Blick - widersprüchliche Position ein: das Wirtschaftsabkommen mit Kanada (CETA) favorisiert er, das mit den U.S.A. (TTIP) nicht. Die Verhandlungen und die Details der Verträge sind enorm kompliziert und schwierig (ich verstehe sie nicht). So sehr, dass die verhandelnden Gremien ängstlich auf einer Intransparenz bestehen: die Mitglieder des Bundestages bekommen die Vertragsentwürfe nur eingeschränkt zu Gesicht - begrenzte Lesezeiten, kontrollierte Lektüre, nur Aufzeichneungen sind gestattet, keine Kopien, ein Austausch mit Kolleginnen oder Kollegen untersagt. Das Parlament ist ausgeschaltet. Es müsste dringend einbezogen werden. Gertrud Lübbe-Wolff, die ehemalige Richterin am Bundesverfassungsgericht, hat dazu den alarmierenden Text verfasst: "Geheimniskrämerei bei TTIP (MERKUR 807, August 2016, S. 53 - 61)  Hält Ralph Bollmann das nach?

Er schreibt über Sigmar Gabriel: "Das Wirtschaftsministerium war von Anfang an nur Mittel zum Zweck. Wenn Gabriel nicht als Kanzlerkandidant antritt und dann vermutlich auch den Parteivorsitz abgeben muss, ist auch das Regierungsamt nichts mehr wert". Woher weiß er das? Mittel zum Zweck: zu welchem? Was bedeutet ein öffentliches Amt für ihn? Weiß er auch nicht. Das Konzept des Machtmotivs - als des einzigen politischen Motivs - , ist ungenau und schlicht; Politik gilt als ein persönliches Vergnügen oder Missvergnügen im Kampf um die höchsten Ämter. Ist das Politik? Im Zuschnitt von House of Cards? Wohl kaum. Es wäre die Bankrott-Erklärung unserer Politik.

House of Cards ist das Spiel des Irrealis mit der Verachtung der politischen Prozesse und damit der Verachtung der Demokratie und ihrer institutionalisierten Verfassung im Kontext der ständigen Frage: was wäre, wäre es so? Ist es so? Um die Antwort wird derzeit gerungen. Die Evolution der demokratischen Verfasstheit westlicher Gesellschaften steht zur Debatte - die jenseits des Atlantiks ziemlich robust geführt wird. Bislang können wir, auch wenn es manchmal schwer zu sein scheint, unserer demokratischen Verfasstheit, den Institutionen und Prozeduren vertrauen. Ohne diese Zuversicht müssten wir einpacken.

(Überarbeitung: 13.10.2016)
 

Dienstag, 11. Oktober 2016

Journalismus-Lektüre XXXXI (Beobachtung der Beobachter): Mann o Meter, Herr Geodäter!

"In welchem Zustand ist dieses Amerika eigentlich?", fragt heute Morgen Klaus-Dieter Frankenberger in seinem Kommentar, der den Titel hat: "Auf dem Tiefpunkt" (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11.10.2016, S. 1, Nr. 237). 


Auf dem Tiefpunkt befinden sich die Vereinigten Staaten von Amerika. Da musst man doch fragen: wie hat er das ausgemessen? Er hat keinen Zollstock, sondern einen Maßstab für gutes Benehmen. Hilary Clinton und Donald Trump haben sich zu Anfang ihres zweiten TV-Austauschs nicht die Hand gegeben. Am Ende der Sendung, was Klaus-Dieter Frankenberger nicht erwähnt, gaben sie sich die Hand.

Was ist der Tiefpunkt? Er sagt dazu: "Es bleibt dabei: Die amerikanischen Wähler haben die Wahl zwischen dem Demagogen Trump und Clinton, der Unbeliebten". Der Tiefpunkt, so verstehe ich ihn, besteht in der Schwierigkeit oder der Unmöglichkeit der Wahl. Das ist aber heutzutage nichts mehr Neues. Ernüchterung und Skepsis sind die schon seit einiger Zeit bestehenden Ratgeber der Wahl. Die ungebrochene Idolisierung einer Politikerin oder eines Politikers ist nicht mehr möglich. Ist das ein Tiefpunkt? Nein. Ein Realismus, das kann man vielleicht sagen, kehrt ein. Politikerinnen und Politiker werden sehr genau geprüft. Ihre Aussagen werden mit dem spitzen Bleistift gelesen. Was soll die  journalistische Empörung über den vermeintlich beklagenswerten Zustand der U.S.A.?  Welche Kandidaten für das Präsidentenamt wie präsentiert werden und sich präsentieren, ist Sache der demokratischen Auseinandersetzung der U.S.A. Unsere demokratische Geschichte ist kurz, die der Vereinigten Staaten lang. Nein, es ist anders. Die demokratischen Auseinandersetzungen werden seit geraumer Zeit in den U.S.A. existenziell geführt.  Man muss sehen, was herauskommt. Eine weit verbreitete Verbitterung meldet sich zu Wort. Wie sie sich in den Kandidaten für das Präsidenten-Amt verdichtet und wie sie repräsentiert wird, muss noch weiter ausgetragen und verstanden worden. Demokratie, mit ihrem riesigen Spektrum an ungleichen Lebensformen bei einem gleichzeitigen, aber immer wieder gebrochenen Versprechen auf ein gutes Leben, ist gelebter Unfrieden. Der Unfrieden, im demokratisch verfassten Rahmen ausgetragen, ist ein Zeichen der Hoffnung.

(Überarbeitung: 12.10.2016)


 

Donnerstag, 6. Oktober 2016

Journalismus-Lektüre (Beobachtung der Beobachter) XXXX: die Deutsche Bank und die journalistische Idolisierung

Wie entsteht eine kriminelle Betrugskultur in einer Organisation wie der Deutschen Bank und wie breitet sie sich aus? Diese Frage stellte ich in meinem Blog vom 1.10.2016 zu Holger Steltzners Wort vom Irrtum der Deutschen Bank. Der Irrtum, schrieb ich, ist ein (freundliches) Verdeck-Wort für den kriminellen Betrug der Akteure dieser Bank.

Am 5.10.2016 legten Franz Nestler und Markus Frühauf einen Text in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (S. 21) nach; die Überschriften des Textes: "Die verlorene Wette der Deutschen Bank. Lange galt das größte deutsche Geldinstitut als vorbildlich. Nun ist das Haus Spielball von Hedgefonds und der Justiz. Wie konnte das passieren?"

Ja, wie konnte das passieren? 

Wie konnte sich eine Betrugskultur in der Deutschen Bank etablieren? Welche psychosozialen, interaktiven Prozesse führten zu dem Moral- und Realitätsverlust der Bankleute? Welche Beziehungen pflegten sie?  Dazu sagen Franz Nestler und Markus Frühauf explizit nichts. Sie sprechen im Titel ihres Textes von der verlorenen Wette. Die Wette ist ein seltsames Wort für das Bankgeschäft. Sie bestand darin, so die Autoren, die führenden U.S.-Banken im Finanzgeschäft einzuholen oder zu überholen. Die Wette wäre dann ein Unternehmensziel oder eine Unternehmensfantasie. Das Alltagsgeschäft der Bankkaufleute sieht doch so aus, dass sie das ihr anvertraute Geld bedächtig platzieren. Aber: wetten? War das Wetten die Arbeitshaltung der Bankiers? War oder ist die Größenphantasie des Mainhattan relevant? Bewegten sich die Bankkaufleute in adoleszent getönten, aufgekratzten Beziehungen?

Sie schreiben: "Die Investmentbank setzt auf kurze Entscheidungswege, um schnell handeln zu können. Dabei stehen Gewinn und Boni im Vordergrund". Sie schreiben weiter: "Es gab Warnsignale kurz nach der Übernahme von Margan Grenfell (durch die Deutsche Bank). Dort zockte ein junger Fondsmanager und scheiterte. Die Bank musste ihre Kunden entschädigen. Trotzdem wurde der neue Kurs durchgezogen. Viel zu verführerisch waren die hohen Gewinne".

Es wurde gespielt, sagen Franz Nestler und Markus Frühauf. Es wurde gewonnen. Es war zu  verführerisch. War es das? Gelegenheit macht Diebe, sagen wir. Diese Alltagsformel besagt, dass wir der guten Gelegenheit nicht widerstehen können und dissozial handeln müssen. Würde diese Alltagsformel zutreffen, könnten wir uns nicht mehr auf die Straßen trauen. Wir müssten zu Hause bleiben und uns verbarrikadieren. Mit anderen Worten: wir sind im deutsch-bundesdeutschen Zentrum demokratischer Moral, demokratischer Ethik und demokratischen Rechtsverständnisses. Was zählt?

Der Gewinn, sagen Franz Nestler und Markus Frühauf. Der Gewinn macht die Bankiers zu Opfern moralischer Inkontinenz, denen das Missgeschick passiert - unterläuft - zu verlieren. Sympathisieren sie mit ihnen? Es sieht so aus. Erfolgreiche Spieler, das ist das Problem dieser Art journalistischer Beobachtung, die den öffentlichen Diskurs kalmiert, werden idolisiert - bevor sie bedauert werden. Der Glamour des Reichtums blendet - offenbar manche handelnden und manche beobachtenden Akteure. Wie eine kriminelle Betrugskultur sich in der Deutschen Bank wieder etablieren konnte, wird eingedeutet, aber nicht plausibel beschrieben. 1946 empfahl das Office of Military Government for Germany, United States die Liquidation der Deutschen Bank, deren Leitung anzuklagen und künftig von relevanten Positionen auszuschließen. Fünfunddreißig Billionen Euro sind im "Derivate-Buch" der Deutschen Bank, so Franz Nestler und Markus Frühauf, aufgelaufen - offene, unklare Kreditgeschäfte, die die Bank mit anderen Banken unterhält, weshalb die Deutsche Bank enorm bedroht ist und das Finanzsystem bedroht. Kleine Brötchen, wie es der Bundesrepublik gut gestanden hätte, wollte und will die Deutsche Bank offenbar nicht backen. Wer will das bei uns? Wir haben noch immer kein Tempo-Limit auf Autobahnen.

(Überarbeitung: 7.10.2016)




Samstag, 1. Oktober 2016

Neues von der Heiligen Kuh XXXIII: sie fantasiert von saftigen Wiesen

Mercedes-Benz, lese ich heute im Kölner Stadt-Anzeiger (vom 1.10.2016), "baut einen eigenen Supersportwagen":

"Die Performance-Sparte AMG soll ein (sic) Supersportwagen mit Hybrid-Antrieb aus den Formel 1-Rennwagen auf die Straße bringen, kündigte Entwicklungsvorstand Thomas Weber in Paris an. Die Leistung bezifferte er mit 1000 PS".

Geht's nicht kleiner? Nein. Wenn er noch einen Elektromotor hat, geht das schon. Wer will dann noch kleinlich sein.

Journalismus-Lektüre (Beobachtung der Beobachter) XXXIX : Freundliche Ungenauigkeiten

Drei heutige Schlagzeilen zur Deutschen Bank.
1. "Börsen wetten gegen die Deutsche Bank" (F.A.Z. vom 1.10.2016, S. 1)
2. "Der Irrtum der Deutschen Bank"  (F.A.Z. vom 1.10.2016, S. 1)
3. "Sturm über der Deutschen Bank" (Süddeutsche Zeitung  vom 1.10.2016, S. 1).

Ad 1. Die Börsen können nicht wetten; sie sind keine Subjekte. Die Akteure Geld-verschiebender Firmen, Hedge Fonds genannt, ziehen ihre Anlagen aus der Deutschen Bank ab. Ist doch klar: wenn das Geld schmilzt, versuche ich es zu retten - vielleicht mit der Idee, den Kurs einer Bank damit zu drücken, um später wieder preiswert einsteigen und den Kursgewinn kassieren zu können. Aber der Kursverfall steht offenbar im Kontext der allmählich sich (in der Öffentlichkeit) konturienden Entdeckung der enormen Betrüge und der Korruption der Deutschen Bank. Was ist der Subtext der Schlagzeile? Eine Auslegung: die Deutsche Bank wird schlecht behandelt.

Ad  2. Holger Steltzner ist der Autor des Kommentars mit dem Titel vom Irrtum. Er beschreibt den Sachverhalt schnörkellos: "Wegen Betrug, Manipulation und Geldwäsche drohen Strafen in Milliardenhöhe". Nichts auszusetzen. Bis auf die Schlagzeile. Was ist der Irrtum der Deutschen Bank? Dass sie im Finanzgeschäft zu den größten Instituten der Welt gehören wollte, sagt Holger Steltzner. Dafür waren kriminelle Mittel recht. Ist das ein Irrtum ? Nein, das kriminelle Kalkül ging nicht auf. Das Gefühl, sich sicher zu wähnen, erwies sich als Moral- und Realitätsverlust.

Ad 3. Der "Sturm über der Deutschen Bank" variiert den Titel des Otto Preminger-Films von 1962: Sturm über Washington (Advise and Consent; U.S.A. 1962). Den Sturm erläutert die Redaktion der  Süddeutschen Zeitung mit der kleiner gesetzten Schlagzeile: "Mächtige Hedgefonds haben dem größten Geldinstitut des Landes stark zugesetzt". Immerhin: die Akteure sind - ungefähr - benannt. Der Sturm ist kein Wetterumschwung.

Volkswagen und die Deutsche Bank: der bundesdeutsche Lack blättert hier und da ab, könnte man sagen. Was sehen wir? Mir fällt Walter Boehlichs Fazit der Ernüchterung und Enttäuschung aus der Mitte der 80er Jahre ein - das er in einer Talkshow der ARD traf -: die verkommene Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Sie ist, so verstand ich damals Walter Boehlich, der Makel der unzureichend abgerechneneten Schuldkonten. Vielleicht hat sie beigetragen,  die Kultur einer unsicheren demokratischen Moral zu etablieren. Bleibt die Frage, wie in einer Organisation, einer Firma, einer Gruppierung eine Kultur von Korruption entsteht und sich ausbreitet.

(Überarbeitung: 5.10.2016) 

  

Fundsachen: Ist das Bundeskanzleramt auch die Parteizentrale?

Krimi-Leserinnen und Krimi-Leser wissen: auf die Details und die beiläufig geäußerten Sätze kommt es an. Für die Zeitungslektüre gilt das auch - falls man sie wie einen Krimi-Text liest. Leider gibt es Millionen Plots, Millionen Kontexte und Millliarden Puzzle-Teilchen. O.K. Diesen Satz fand ich in der Skizze des Generalsekretärs der CDU, Peter Tauber:

"Faktisch hängt Taubers Adenauer-Haus an der Leine der Spitze des Bundeskanzleramtes" (Günter Bannas, F.A.Z. vom 30.9.2016, S. 12).

Ist der Satz nicht erstaunlich? Er steht unkommentiert mitten im Text. Das Bundeskanzleramt als oberste Zentrale der Partei? Welche Arbeit wird dort verrichtet? Wäre ich Mitglied des Bundestages, würde ich eine Anfrage initiieren, wie sich die Arbeit dort verteilt - auf Regierungsarbeit und Parteiarbeit. 

  

Freitag, 30. September 2016

Journalismus-Lektüre (Beobachtung der Beobachter) XXXVIII: der Preis der Aufgeregtheit

Heute Morgen las ich Nina Rehfelds Text zu den Reaktionen auf die TV-Konfrontation von Hilary Clinton und Donald Trump am Anfang dieser Woche, die in verschiedenen Internet-Foren sich ausbreiteten (F.A.Z. vom 30.9.2016, S. 19, Nr. 229). Ich las den Text dreimal - um meine Irritation zu sortieren. Nina Rehfeld berichtet vom Triumph-Getöse mancher Foren, in denen der Sieger Donald Trump gefeiert wird - während die bekannten, großen Print-Medien das Gegenteil sagen. Ihren Text überschrieb sie mit: "Interessiert sich noch jemand für die Wahrheit? Virus des Absurden: Im Internet wird Donald Trump als Sieger des TV-Duells zur Präsidentschaftswahl ausgegeben". Mich irritierten die - sozialwissenschaftlich unmöglichen - Allaussagen. Hier ist es Nina Rehfelds Behauptung: "im Internet". Das ist unrichtig. Im Internet kann man natürlich andere Auffassungen lesen - dort existiert eine unübersehbare Vielfalt. So gerät das Internet in Verruf.

Sie schreibt: "Im Internet macht man sich die Welt eben so, wie sie einem gefällt. Behaupten kann hier jeder irgendetwas, und ohne Daten, Fakten und die Trennung von Bericht und Kommentar, wie sie von den Traditionsmedien gepflegt wird, beherrscht reine Stimmungsmache die Szene". Ist das so? Gibt es nur die egozentrischen Sichtweisen? Nein. Und was ist mit den Traditionsmedien? Das, was sie behauptet -  die journalistische Praxis des solide geprüften und sorgfältig geschriebenen Texts - , kann man nur am Einzelfall, gewissermaßen Text für Text überprüfen. Die reine  Stimmungsmache, die Nina Rehfeld moniert,  betreibt sie auch -  indem sie die Abstimmungsergebnisse aus den einzelnen Internet-Foren für repräsentativ für das ganze Internet erklärt, womit das Interesse an der Wahrheit bedroht sei.

Mein Beleg sind ihre letzten beiden Sätze:

"Das negative Potential des Internets und insbesondere der 'sozialen' Netzwerke schlägt durch. Das Anerkennungssystem, die Likes und Retweets, die Präferenz für vermeintlich Unterhaltendes, der schiere Siegesjubel und die Anfeindungen der Medien ersetzen den von der freien Presse betriebenen demokratischen Diskurs, der nicht ad personam, sondern zur Sache geht".

Vier Anmerkungen dazu. 1. Die Verben durchschlagen und ersetzen behaupten eine Wirkung, die frühestens nach der Wahl untersucht werden kann; im Ton des Textes möchte ich sagen: noch ist nichts verloren. 2. es ist undemokratisch, (vielleicht: für den eigenen Geschmack) krude Kommunikationen als die Bedrohung des öffentlichen Diskurses zu disqualifizieren - sie gehören dazu und müssen  verstanden werden, dann kann man weiter sehen (s. meine Blogs vom 18.12 und 25.12.2014 sowie vom 27.2.2015). 3. die Internet-Foren erweitern den öffentlichen Diskurs und relativieren den Status der traditionellen Medien; möglicherweise bedroht diese expansive Bewegung dieses oder jenes Printmedium dramatisch. 4. bleibt die Frage, weshalb und an wen Nina Rehfeld ihren Text der Beunruhigung mit der Frage eines Stoßseufzers adressiert hat: "Interessiert sich noch jemand für die Wahrheit?" Na doch ihre Leserschaft, die die Zeitung aus Frankfurt abonniert hat oder kauft. Ist sie nicht groß genug?
 

Donnerstag, 29. September 2016

Worte zum Einlullen VI: "Spaltung"

Die Spaltung ist ein lästiges Klischee und wird ständig benutzt. Wir hatten: die gespaltene Persönlichkeit. Das war das Wort des Unverständnisses für die wechselnden Verfassungen eines Menschen, die von außen gesehen unverständlich wirkten; sie sind - möglicherweise - ein Beleg für die schwankende funktionale Qualität der Synthese und Integrität seiner unterschiedlichen Selbstzustände. Man müsste ihn dazu gründlich befragen. Wir haben die gespaltene Nation. Wie kann ein Land gespalten sein? In ein Dafür und ein Dagegen einer bestimmten Sache gegenüber? In einem Land gibt es ein Spektrum Millionen differierender Auffassungen und Haltungen. Wie will man die auf einen Nenner bringen? Bei einer Wahl wird das Spektrum gewissermaßen verdichtet auf einige Dafür- oder Dagegen-Ankreuzungen. Wir werden gezwungen, uns zu entscheiden. Das ist die Ausnahme. Sonst haben wir kaum solide konturierte Auffassungen oder Haltungen; fragt man nach, sind wir oft verwickelt in unseren Widersprüchen, die wir nicht entwirrt kriegen. Gestern sah ich noch den Kurzfilm der Champions League, in dem die internationalen Fußballer und eine Fußballerin das No to Racism bekräftigten. Aber handele ich immer gemäß des Neins? Nein. Die eigenen Vorurteile gegen Fremdheit kann man nicht auswischen wie ein Wort von der Schiefertafel; aber man kann sie zu kontrollieren versuchen - was voraussetzt, dass ich sie mir zugestehe. Darf ich also Widersprüche haben und mich widersprechen?

Das Wort Spaltung sagt: nein. Wir sind etweder so oder so. Gut oder schlecht. Ganz binär. Die Komplexität eines Lebens wird reduziert. Das Wort Spaltung macht den Vorwurf des Konflikts:  es gäbe  keine Übereinstimmung. Das Wort Spaltung ersehnt die Aufhebung des Konflikts, wünscht sich die Umarmung und die Verschmelung mit der Fremdheit des Anderen.

Kommen wir zu meinem Alltagsbeispiel:

"EBZ-Politik spaltet deutsche Wirtschaftsforscher" (F.A.Z. vom 29.9.2016, S. 15). Oh je oh je: die Wissenschaftler sind sich uneins! Zum Charakter von Wissenschaft gehört der Streit um die Belegbarkeit von Hypothesen. Theorien haben unterschiedliche Haltbarkeiten. Thomas Kuhn, der Wissenschaftshistoriker und Wissenschaftstheoretiker, der Mann, der das Paradigma populär machte, machte den Status einer Wissenschaft von der erprobten Haltbarkeit einer das Fach führenden Theorie abhängig; die Wissenschaften, die noch um ihre führende Theorie stritten, waren für ihn keine richtige Wissenschaft. Eine richtige Wissenschaft ist für ihn die Physik. Aber offenbar gibt es andere Wissenschaften. Was ist eine richtige Wissenschaft? Zumindest eine in ihren Annahmen bewegliche Wissenschaft. Das Finden der wissenschaftlichen Wahrheit (weil eine Theorie sehr haltbar und nicht mehr umstritten ist) muss aufgeschoben, der Streit über die Annahmen (Konzepte und Hypothesen) muss fortgesetzt werden. Wer ihn mit dem Vorwurf der Spaltung abzukürzen versucht, ist nicht hilfreich. Hilfreich wäre es, die wissenschaftlichen Differenzen würden hinsichtlich ihrer Konzeptionen für einen Laien so ausbuchstabiert, dass ich den Streit verstehen kann. Leider werde ich hier und da mit dem Klischee der Spaltung hingehalten.

Worte-Fund III: "maximal indirekt"

Die Formel maximal indirekt fand ich heute morgen in diesem Satz:

"Der Verkauf ist schon längerfristig geplant und steht daher maximal indirekt im Zusammenhang mit der 14-Milliarden-Forderung des amerikanischen Justizministeriums" (F.A.Z. vom 29.9.2016, S. 22).

Maximal indirekt: ich brauchte einige Zeit, um die Bedeutung zu verstehen. Aus dem Kontext des Satzes kann man erschließen: überhaupt nicht. Das ist eine sehr kräftige Verneinung. Der Autor Franz Nestler muss sich sehr sicher sein. Woher weiß er das so genau? Das sagt er nicht. Er gibt sich mit der Auskunft der Bank vom Längerfristig zufrieden.  Der Satz mit dem maximal indirekt  ist der letzte Satz seines Textes mit dem Titel "Ihre Größe wird die Deutsche Bank nicht schützen". Die Deutsche Bank ist bedroht, sagt uns Franz Nestler; aber sie hat noch immer Rücklagen genug. Und der Verkauf, versichert er seiner Leserschaft, der Lebensversicherungsfirma Abbey Life hat nichts mit der Milliarden-Forderung der U.S.-Behörde zu tun: er ist maximal indirekt zu den geforderten 14 Milliarden Dollar. Maximal. Wer soll das glauben? Warum dieses maximale Dementi? Weil der Boden wackelt. 

Dienstag, 27. September 2016

Journalismus-Lektüre XXXVII (Beobachtung der Beobachter): ein bisschen Korruption muss sein

Auf der ersten Seite der heutigen Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (27.9.2016, S. 1) das Foto des französischen Autors Michel Houellebecq - er schaut einen mit gesenktem Kopf an - ; überschrieben ist das Foto mit: Prophet des europäischen Selbstmords. Der Suizid ist eine grelle
Metapher. Nun ja: jeder so gut wie er kann. Michel Houellebecq erhielt am Montag in Berlin den Preis dieser Zeitung, der mit dem Namen des kürzlichen verstorbenen Herausgebers Frank Schirrmacher verknüpft ist. Den Preis, lese ich heute (F.A.Z. vom 28.9.2016, S. 9), haben Martin Meyer, Michael A. Gotthelf, Matthias Döpfner und Marco Soloari etabliert. Mit einem Preis kann man Glamour-Punkte für das eigene Geschäft sammeln, eine Nachricht generieren (Houellebecq in Berlin), einen Preisträger gewinnen, verpflichten und für sich sprechen lassen. Selten schlagen Preisträger einen Preis aus. Jean-Paul Sartre war damals die Ausnahme, die ich jetzt flugs erinnere.

Ich prüfe die Hypothese der Gefälligkeit. Michel Houellebecq beginnt seine Rede mit seinem Bedauern: er würde gern sagen könne, dass er sich über den Preis freuen würde und die  Frankfurter Allgemeine Zeitung für eine sehr gute Zeitung halte - aber leider spreche er kein Deutsch. Kann er die Zeitung denn lesen? Sagt er nicht. Etwas später (im Text) zählt er die Frankfurter Allgemeine Zeitung zu den international renommierten Referenzblättern - so die Übersetzung seines Vortrags. Weiß er das aus eigener, regelmäßiger Lektüre? Er sagt es nicht. Vermutlich nicht. Er müsste sie täglich einigermaßen gründlich lesen. Meine Hypothese ist nicht widerlegt; aber einigermaßen belegt: wer kein Deutsch kann, kann schlecht eine deutsche Tageszeitung einschätzen; jemand müsste sie für ihn lesen. Michel Houellebecq beginnt also wie ein Kleinkünstler, der in einer Kleinstadt auftritt und seinem Publikum zusichert, dass er sich freut, ausgerechnet in dieser Kleinstadt aufzutreten.

Der Kontext der Rede. Michel Houellebecq klagt über das französische Referenzblatt Le Monde, mit dem er oder das mit ihm über Kreuz liegt. Sein Vortrag ist seine Klage über die französischen Linke, von der er sich schlecht behandelt fühlt. Dazu kann ich nichts sagen. Ausführlich zitiert er drei Autoren, denen er sich verwandt fühlt: Tocqueville, Dantec und Muray. Er beklagt die kulturelle Last - der von ihm so genannten Heiligen Kühe: Marx, Freud und Nietzsche. Marx sei ausrangiert, triumphiert er, Freud sei bald ausrangiert. Bei Nietzsche würde es noch dauern. Der Autor, als Prophet präsentiert, erzählt seinen Roman Soumission weiter und malt unsere Zukunft vertraut düster. Soumission, schrieb übrigens der französische Soziologe Gilles Kepler (in seinem Buch Terreur Dans L'Hexagone, S. 247) , sei eine wörtliche Übersetzung des arabischen Ausdrucks islam. 

Was sagt Houellebecq zur europäischen Selbstvernichtung? Diese Sätze:
"Aber das Vordringen des Islams beginnt gerade erst, denn die Demographie ist auf seiner Seite und Europa hat sich, indem es aufhört Kinder zu bekommen, in einen Prozess des Selbstmords begeben. Und das ist nicht wirklich ein langsamer Selbstmord. Wenn man erst einmal bei einer Geburtenrate von 1,3 oder 1,4 angekommen ist, dann geht die Sache in Wirklichkeit sehr schnell". Michel Houellebecq hat sich nicht informiert: die Geburtenrate von 1.4 ist unsere Realität. So viel zu seinem Interesse an der Bundesrepoublik Deutschland.

Sehr schnell, vermute ich, wurde dieser Text geschrieben - was spielt das eine Rolle. Der Autor ist auch Geschäftsmann. Sagt das etwas über die Qualität seiner Autorenschaft?  Dieser Autor erhält (mit seinem Preisgeld) wenigstens einen vernünftigen Stundenlohn. Ob sich die Marketing-Anstrengung der Zeitung für die klugen Köpfe rentiert, weiß ich nicht.  Ein Deal der Unredlichkeit, möchte ich sagen. Ein bisschen Korruption ist doch nicht schlimm. Wer würde nicht ein fünfstelliges Honorar einstecken, wenn er könnte? Oder?

(Überarbeitung: 28.9.2016 und 31.7.2017)  

Journalismus-Lektüre XXXVI (Beobachtung der Beobachter): Schlagzeilen-Politik

"Aktienkurs der Deutschen Bank bricht ein", heißt es heute auf der ersten Seite der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (27.9.2016, S.1, Nr. 226). Eine Alarm-Meldung: die Katastrophe nähert sich.
Kontakte zum Bundeskanzleramt (mit der Absicht der Bitte um Vermittlung bei der U.S.-Justiz-Behörde und um mögliche finanzielle Unterstützung) werden von den Sprechern der Deutschen Bank bestritten, vermeldet die Nachricht. Dann der Satz zur Erläuterung der Situation der Bank:

"Die Justizbehörde fordert von der Deutschen Bank wegen umstrittener Hypothekengeschäfte 14 Millionen Dollar".

Umstrittene Geschäfte. Das ist die Formulierung einer faustdicken Desinformation. Seit wann ist massiver Betrug - umstritten ?

Noch einmal The New Yorker (s. meinen Blog vom 26.9.2016). Ed Ceasar zitiert in seinem Text Eric Ben Arzti, einen der Risiko-Anlytiker der Deutschen Bank und einen der drei whistle-blowers:
"There was cultural criminality - Deutsche Bank was structurally designed by management to allow corrupt individuals to commit fraud".   

Montag, 26. September 2016

Neues von der Heiligen Kuh XXXII: sie bekommt wieder frisches Gras

"In den Städten wird Elektro Pflicht", sagte Daimler-Vorstand Wolfgang Bernhard über seinen elektrischen Truck, das Rennen gegen Tesla und den Einstieg in die Drohnenfertigung - zu Georg Meck von der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (18.9.2016, S. 23)

Und wie wird Elektro Pflicht?

"Weil", so Wolfgang Bernhard, "die Kunden es so wollen, wenn wir es schaffen, die Elektromobilität wirtschaftlich darzustellen. Und das werden wir. Das ist der Grund. Und natürlich ist absehbar, dass Städte und Gemeinden aufhorchen, wenn sie sehen: Elektromobilität funktioniert in der Königsklasse der Trucks. Das wird die Gesetzgebung beschleunigen, elektrische Nutzfahrzeuge werden in Städten Pflicht werden".

Wir schaffen das: diese Rhetorik kennen wir. Also noch einmal: wie wird Elektro Pflicht? Indem der Gesetzgeber es vorschreibt - und die Kosten übernimmt. Ist doch klar. Alles andere ist, wie die Engländer sagen: chicken food - oder die Nordamerikaner: a piece of cake. Die schweren Batterien sind im Grunde leicht; ihre Lade-Kapazitäten unbegrenzt - wie wir das von unseren mobilen Telefonen und Laptops kennen, deren Akkus Jahrzehnte halten und nur selten aufgeladen werden müssen; ihre Herstellung ist einfach und die Rohstoffe sind überall vorhanden. Wie die Elektrizität hergestellt wird - ist gleichgültig: in jedem Fall kommt sie aus der Steckdose.

Wann wohl die Heilige Kuh ihr tagträumerisches Grasen aufgibt? 


Freitag, 23. September 2016

Journalismus-Lektüre XXXV (Beobachtung der Beobachter): Schlagzeilen auf der ersten (Zeitungs-)Seite - Lärm zum Weghören

Die Schlagzeile gehört zu unseren plastischen Wörtern, die keinen Hehl aus der Sache machen: die Leserin oder der Leser muss so getroffen werden, dass der Affekt das Nachdenken lähmt. Manche Schlagzeilen lullen einen so ein, dass man eine Zeit lang braucht, bis man merkt, wie man betäubt wurde.
Drei Beispiele aus dem Titelseiten-Schlaggeschäft der Zeitung für die klugen Köpfe.

1. Der Titel: Merkels Reich zerfällt. Die Union hat in der Landtagswahl von Mecklenburg-Vorpommern verloren. Berthold Kohler schreibt von ihrem Wahldebakel (F.A.Z. vom 6.9.2016). Ist das ihre Niederlage? Wenn es doch so einfach wäre! Angela Merkel als unsere Monarchin, die offenbar bald keine Monarchin mehr ist. Berthold Kohler spricht von der waidwundenen Kanzlerin. Das sind Bilder! Dabei wurde Angela Merkel vom Bundestag in das Amt des Bundeskanzlers gewählt. In das Amt - nicht auf einen Thron. Und wer hat von wo aus auf sie geschossen? Und wer fantasiert einen Schuss? Heute wird nur noch gewählt. Es sind natürlich viele Auslegungen möglich. Aber irgendwie: geht viel durcheinander.
  

2. Der Titel: Amerika will 14 Milliarden von der Deutschen Bank. So was: die kleine Bank und das große Land. Und dann gleich vierzehn Milliarden.  Es ist das nordamerikanische Justiministerium, das diese Forderung stellt. Amerika will 14 Milliarden von der Deutschen Bank schürt das bekannte Ressentiment des Verdachts: vermutlich ist diese Forderung von vierzehn Milliarden Dollar, wird ein Bank-Fachmann zitiert, eine Retourkutsche des Finanzministeriums für die Forderung der EU-Behörde an den Konzern Apple, Steuern in Höhe von 13 Milliarden nachzuzahlen (F.A.Z. vom 17.9.2016, S. 1 und 21). Natürlich, wir hatten das neulich schon, ist die U.S.-Justiz unfair (s. meine Blogs vom 1.7. und 5.8.2016).

Wofür die vierzehn Milliarden? Für krumme Geschäfte, schreibt Jemand weiter hinten im Wirtschaftsteil (S.21). Krumme Geschäfte sind das Wort einer mächtigen Untertreibung für die Existenz-vernichtenden Manöver der inflationären Kreditvergabe der Deutschen Bank. Krumme Geschäfte sind das Wort einer Ent-Schuldung; es hat keinen Blick für die Not der Kreditnehmer. Krumme Geschäfte sind, muss man vermuten, das Wort eines Schutz-Versuchs: die Qualität der Korrumpiertheit bleibt unklar. Achtzehn Tage zuvor, am 29. August 2016, erschien in The New Yorker der Text von Ed Caesar The  Moscow Landromat. Die Moskauer Geldwäsche, beschreibt Ed Caesar, wurde von der dortigen Filiale der Deutschen Bank betrieben. Man muss den Text lesen, um das Ausmaß der Korruption, der Kriminalität und des Handelns in den Grauzonen der Legalität zu realisieren, das mit dem Wort der krummen Geschäfte verdeckt wird. Man muss auch den Text lesen, um die Differenz zu realisieren zwischen der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und dem The New Yorker: zwischen der Absicht zu verklären und der Absicht zu klären. Oder sollten die Journalisten der Frankfurter Zeitung den Text ihrer New Yorker Kollegen nicht gelesen haben?


3. Der Titel: Winterkorn soll Vertuschung gebilligt haben (F.A.Z.  vom 26.9.2016, S. 1). An dem Satz fällt zweierlei auf: 1. die Nachricht wurde in der Form eines Gerüchts formuliert;  die zitierte Quelle ist die Bild am Sonntag; 2.  das Wort Vertuschung vernebelt die Kausaliät der Verantwortung - dank der Substantivierung ist das Subjekt des Betrugs verschwunden. Winterkorn, sagt der Titel, hat nur noch: gebilligt. Wer will das glauben? Ein massiver Betrug, der die Existenz eines Konzerns riskiert, wurde nicht mit der Leitung des Konzerns abgestimmt? Wie soll das gehen, wenn schon die Anschaffung eines Lochers genehmigt werden muss? Wenn also Angestellte in einer Organisation mehr oder weniger schnell lernen, die Wege der Hierarchie einzuhalten? Der Betrug ging nicht ohne die Leitung des VW-Konzerns. Das lässt sich begründet behaupten.

Warum konfrontieren die Redaktionen der Frankfurter Allgemeine Zeitung ihre Leserschaft nicht mit dieser Behauptung? Meine zwei Vermutungen: 1. die Furcht vor zivilrechtlichen Klagen des VW-Konzerns; 2. die Furcht vor den Leserinnen und Lesern, denen die Redaktionen zutrauen,  mit dem VW-Konzern zu sympathisieren und den Betrug zu entschuldigen.  Etwas Mut wäre nicht schlecht.

(Überarbeitung: 18.2.2019)  



Montag, 19. September 2016

Journalismus-Lektüre (Beobachtung der Beobachter) XXXIV: Krach im Haus - wer versteht die Bundeskanzlerin am besten?

Vor ein paar Tagen, am 16.9.2016, kam Patrick Bahners mit seinem Text auf die erste Seite des Feuilleton-Buches (F.A.Z., S. 9, Nr. 217) Ein ganz und gar phantastischer Aufwand. Ist Merkel-Kritik jetzt Volkssport? Die ganze Meckerei wirkt hilflos, lächerlich und misogyn - denn auf die Kanzlerin kommt es an. Wieder ein erstaunlicher Text. Patrick Bahners stellte sich ritterlich vor die Kanzlerin und seinen Kollegen entgegen.  Zuerst denen von der ZEIT, die vor genau einem Jahr geschrieben hatten: weiß die Kanzlerin, was sie tut? Das ist natürlich eine unscharfe Frage - man könnte sie jedem stellen. Seit Sigmund Freud wissen wir, dass wir weder Dame noch Herr im eigenen Haus sind. Aber die Bundeskanzlerin hat ja ein Team von Beraterinnen und Beratern, die versuchen, die Folgen der politischen Bewegungen abzuschätzen. Allerdings wirken die politischen Bewegungen, so denn welche initiiert werden, manchmal nicht oder kaum durchdacht. Letztes Beispiel: die Politik der Inklusion oder Exklusion der Menschen in Not. Plastisches Beispiel: die Zustimmung und die Ablehnung der atomaren Energie-Versorgung. Zudem werden manche Entscheidungen als nicht des Nachdenkens wert, weil alternativlos deklariert.

Dann wendet sich Patrick Bahners gegen Wolfgang Streecks kritische Bilanz der bundesdeutschen Politik. Patrick Bahners weist auf dessen (erste) Publikation in der London Review of Books hin, aber verschweigt - oder hat er es vergessen? - , dass seine Zeitung eine Überarbeitung des Textes im Mai publizierte (s. meinen Blog vom 3.5.2016). Schließlich kritisiert er das Geschäft seiner eigenen Kollegen von der F.A.Z., die von Ferne ihre Beobachtungen politischer Bewegungen verpsychologisieren. Leider bleibt er beim Vorwurf und unterschlägt das grundsätzliche methodische Problem des Journalismus. Nun gut.

Was ist jetzt erstaunlich? Patrick Bahners' F.A.Z.-Kollegen rücken von ihrer Merkel-Idolisierung vorsichtig ab. Wenn er die Kollegen der ZEIT und Wolfgang Streeck angeht, meint er seine Frankfurter oder Berliner Kollegen und Kolleginnen (je nach Redaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung). Was eine Vermutung zulässt: Krach in Frankfurt und in den Redaktions-Dependancen. Was eine weitere Vermutung nahe legt: Patrick Bahners verlässt bald das Haus.   

Freitag, 5. August 2016

Lektüre des Journalismus (Beobachtung der Beobachter) XXXIII: Nachtreten - zur Korrektur des Fouls vom 1.7.2016

Ein Monat später, in der Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (4.8.2016, S. 21), wird Holger Appels Foul vom 1.7.2016 (s. meinen Blog vom diesem Datum) korrigiert. Er hatte zum Unfalltod des Tesla-Autofahrers, der die Steuerung seines Fahrzeugs den Rechnern im Fahrzeug überlassen hatte, seinen Verdacht der Interessen-geleiteten Rechtsanwendung publiziert:

"Dass Behörden und Tesla den Vorgang wochenlang verschwiegen haben, sei nur am Rande erwähnt. Hiesige Hersteller würden dafür öffentlich auseinander genommen".

Den Korrektur-Text haben Roland Lindner und Holger Appel verfasst. Der Titel lautet - dramatisch:
"In den Fänger der amerikanischen Justiz". Der Untertitel - weniger dramatisch: "Von Siemens bis Volkswagen: Deutsche Unternehmen haben die Strenge der Behörden in den Vereinigten Staaten zu spüren bekommen. Aber werden sie schlechter behandelt als einheimische Wettbewerber?"

Die Antwort - in einem Wort: Nein. Ihr Gewährsmann ist Brandon Garret, Professor an der Universität von Virginia und Autor einer Studie von über eintausend Strafverfahren (innerhalb von zehn Jahren), in denen nationale und internationale Firmen zu Geldbußen verurteilt worden waren. Die Unterschiede in der Höhe der Strafen ergab sich aus der Verfahrenspraxis: internationale Konzerne werden bei schweren Vergehen zur Rechenschaft gezogen, die nationalen Konzerne ohne Ausnahme. Volkswagens Betrugspraxis, so Garret, sei "extrem gravierend", Siemens Praxis der Bestechung der "schlimmste Fall von Auslandskorruption, den es je gab".

Was ist also mit den Fängen der amerikanischen Justiz und der Strenge der Behörden? Die Wortwahl deutet auf eine Missbilligung. Die Verachtung und Unterschätzung des nordamerikanischen Rechts habe ich seit der Nachkriegszeit im Ohr: Siegerjustiz - lautete damals der Vorwurf an die Nürnberger Prozesse und die juristische Praxis der Nordamerikaner. Es scheint noch immer nicht bekannt zu sein, dass Betrug in den U.S.A. schwer bestraft wird. Die U.S.A. sind das Land mit der längsten demokratischen Praxis. Die Demokratie lebt von der Aufrichtigkeit seiner Bürgerinnen und Bürger. Der Betrug zerstört die Demokratie - darüber gibt es ein Einverständnis. Wenn das Vertrauen korrodiert, hat die demokratisch verfasste Gesellschaft ein Problem. Davon handelt James B. Stewarts Buch Tangeld Webs. How False Statements Are Undermining America: From Martha Stewart to Bernie Madoff (Penguin Books 2011).  The Law als Redewendung kennen wir nicht; wer bei uns eine Geschwindigkeitsbegrenzung verletzt, verstößt nicht gegen das Recht, sondern überschreitet eine gesetzliche Regelung. Wenn der eine Autofahrer in der Baustelle auf der Autobahn 100 km/h fährt - dann ich ihm doch nachfahren. Oder nicht?

Bleibt noch jener Informant, der den Autoren diesen Verdacht zusteckte:

"Wenn uns das (gemeint ist der Unfalltote am Steuer eines Tesla) passiert wäre, hätten sie uns die Schiffe angekettet und kein Auto mehr ausladen lassen".

Der Informant war der Vorstandsvorsitzende eines deutschen Autoherstellers, "der nicht genannt werden wollte, gegenüber dieser Zeitung". Eine interessante Rechtsauffassung, möchte ich sagen. Das Recht wird unerbittlich und grausam ausgelegt, sagt uns dieser Herr. Warum wird er zitiert?
Als eine Art Autorität.      

Dienstag, 2. August 2016

F.A.Z.-Sprech: der Dieselskandal. Der Dieselskandal!

Häufig genügt die Lektüre einer Überschrift, um sich sehr zu wundern. Heute morgen, in der F.A.Z. im Buch der Wirtschaft (3.7.2016, S. 15): "Bayern will VW verklagen. Der Dieselskandal kostet Europas größten Autohersteller Milliarden. Nun schließt sich auch der Freistaat der Klagewelle gegen den Konzern an".

Ja, wer strafrechtlich gravierend betrügt, kommt dran. Der arme Anzeigen-Kunde. Von schwerem Betrug wird nicht gesprochen. Da ist die F.A.Z. nicht die einzige Zeitung, deren Redaktionen den Betrug calmieren. Der Skandal ist genug Ungemach. Die Welle wird größer und größer. Grausam ist die Natur des Betrugs.

Was lässt sich in einer ARD-Talkshow diskutieren?

In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (vom 31.7.2016, S. 37-38) war das Gespräch mit Burkhard Hirsch und Gerhart Baum zum Theater-Stück Terror (von Ferdinand von Schirach) veröffentlicht worden - zusammen mit deren Empfehlung, die Inszenierung des Stückes mit der nachfolgenden Diskussion nicht zu senden (s. meinen Blog vom 31.7.2016). Heute lese ich in der F.A.Z. (2.8.2016, S. 13): Volker Herres, Programmdirektor des Ersten Fernseh-Programm der Allgemeinen Rundfunkanstalten Deutschlands, hält Baums und Hirschs Argumente nicht für stichaltig - er wird die Sendung senden (lassen). In Terror  lässt der Autor seinen Protagonisten eine Entscheidung treffen, die unser Verfassungsgericht als Verfassungs-widrig eingeschätzt hat; sie zu treffen, ist verboten. Nach dem Stück regt der Autor zu einer Abstimmung des Publikums zur Schuld des Protagonisten ein. Der Protagonist ist ein Pilot, der sich über den Befehl hinweg setzte, das entführte  Passagierflugzeug, das auf ein vollbesetztes Fußballstadion zustürzte, nicht abzuschießen. Kann eine Talkshow der ARD dieses Problem, das mit der Diskussionsabsicht unser Grundgesetz gewissermaßen zur Disposition stellt, aufgreifen und entfalten? Man braucht zumindest einen ganz schön kühlen Kopf und eine gründliche Kenntnis der juristischen, politischen, philosophischen und psychosozialen Implikationen. Die show, glaube ich, ist nicht der richtige Platz.


Sonntag, 31. Juli 2016

Journalismus-Lektüre (Beobachtung der Beobachter) XXXII: Play it cool!

Gestern, dachte ich, als ich die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung in der Hand hielt, ein Blatt der redaktionellen Aufgeregtheit aufzuschlagen (31.7.2016). Schon die erste Seite mit ihrer Stimmungs-mächtigen Schlagzeile Jugendliche spielen Amokläufe nach. Du meine Güte, dachte ich mit Schrecken: im Internet tummeln sich die potentiellen Mörder - war mein erster Einfall.

Mein zweiter Einfall: das kennst du - das je nach Gemütslage mehr oder weniger genussvolle Nachschmecken des fremden Leids, das Sich-Aufrichten und Sich-Beruhigen am fremden Leid. Schadenfreude ist die schönste Freude sagt unsere Alltagsweisheit bösartig-klug, aber präzise; im Englischen und Französischen gibt es übrigens das Wort Schadenfreude nicht. Das Vergnügen am Mord aus sicherer Entfernung zu pflegen, wird uns jeden Tag offeriert. Allerdings ist das Vergnügen am Mord ein schwieriges Vergnügen: der Blick in den Abgrund und das Elend des Tabubruchs. Weil es Tag für Tag im Wohnzimmer gepflegt wird, fällt es beim Nägelkauen oder Chips-Knabbern nicht auf. Manchmal, wenn es in den Tagesthemen einem entgegen zu kommen scheint, wird es ziemlich getrübt - dann dominieren der Schrecken, das Entsetzen, das Leid in einer Verfassung der Sorge und Aufgeregtheit. Freuds Konzept des Liebes- und des Todestriebs - verspottet und umstritten - ist noch immer relevant. Bislang ist es noch nicht widerlegt. Die Impulse des Liebens müssen die Impulse des Zerstörens binden können - sonst wird es ungemütlich. Es ist, so Freud, ein Wettlauf. Er ist noch nicht zugunsten der Lust an der Zerstörung entschieden. Jugendliche testen exzessiv ihre widersprüchlichen Impulse. Wenn wir uns gut erinnern, wissen wir: als Jugendliche spielten wir mit Vergnügen aggressive Spiele. Was würde man heute dazu sagen, dass wir früher regelmäßig rauften und uns prügelten, uns gegenseitig erschossen und uns vernichtende Vokabeln zusteckten? Früher blieb das robuste aggressive Vergnügen unter uns; kein Erwachsener erfuhr davon. Heute wird es gesteigert, indem es in einem imaginierten Forum von (wie auch immer ) Bekannten und von (fantasierten) Unbekannten geteilt und getestet wird; man kann annehmen, dass die vermuteten Jugendlichen auch eine erwachsene, sie orientierende Antwort auf ihr robustes Vergnügen erwarten. Man müsste sie sprechen können.

Mein dritter Einfall: was die Redaktion der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung zu meinem Frühstück auftischte, hat einen langen Bart. In den 50er Jahren kam die Frage zur verrohenden Wirkung von Kino-Gewalt in der Forschungs-Fragestellung auf: machen aggressive Kinofilme aggressiv? Ja und nein. Es hängt von den Suchbewegungen des Rezipienten oder der Rezipientin ab: wer sucht, der findet, und welchen Einfluss das, was er findet, auf ihn oder sie hat - hängt wieder um von den Suchbewegungen und den Realisierungswünschen ab. Der Weg zum Mord ist lang - Mord hat eine lange Vorgeschichte.

Mein vierter Einfall: zur später in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung aufgeworfenen Frage Kann man Terroristen erkennen? Nein, man kann es nicht. Die möglichen (Handlungs-bereiten) Täter müssten über ihre Impulse, Fantasien, Affekte Auskunft geben. Anders geht es nicht. Deshalb ist die erste und beste Prävention: der Kontakt der Eltern  zu ihren Kindern - sie sollten in etwa wissen, was ihre Kinder bewegt und wie ihre Interessen aussehen; sie sollten also in einem offenen Gesprächskontakt mit ihren Kindern stehen - wobei es die Kunst der Eltern ist, die Intimität ihrer Kinder zu bewahren und dennoch mit ihnen einen regelmäßigen relevanten Austausch zu pflegen.

Fünftens. Meine Erleichterung bei der Sonntags-Lektüre kam, als ich im Feuilleton (S. 37 - 38) das Gespräch mit Gerhart Baum, Burkhard Hirsch, Julia Encke und Anne Ameri-Siemens (von der  Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung) las über das Theaterstück von Ferdinand von Schirach Terror. Gerhart Baum: "Die Bundesrepublik hat sogar völkerrechtlich anerkannt, dass der Abschuss eines Passagierflugzeugs ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist, und sich verpflichtet, Terroristen nicht als Soldaten in einem Krieg zu behandeln, sondern als Verbrecher. Ich wehre mich leidenschaftlich gegen die ständigen Versuche, zu insinuieren, es handele sich in Wirklichkeit um einen kriegsähnlichen Zustand, in dem wir uns befinden".

Sechstens. Gelassene Töne dringen schlecht durch.  Heute lese ich auf der ersten Seite der  Frankfurter Allgemeinen Zeitung (1.8.2016) den Text von Jörg Bremer: "Nicht mutlos werden!"Jörg Bremer lobte Papst Franziskus für dessen Wort: "Das ist Krieg". Jörg Bremer: "Nicht nur der Papst benutzt dieses harte Wort, sondern auch Frankreichs Präsident Hollande. Und am vergangenen Donnerstag nahm auch Bundeskanzlerin Merkel das Wort 'Krieg' in den Mund". Wie war das mit Gerhart Baum? Wird er gehört?


(Überarbeitung: 1.8.2016) 

Freitag, 29. Juli 2016

Journalismus-Lektüre (Beobachtung der Beobachter) XXXI: Schludern

Heute, am 29.7.2016, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung auf Seite Eins: der Text von Klaus-Dieter Frankenberger "Clinton gegen den Populisten". Der Populist hat natürlich einen Namen: Donald Trump. Es ist ja nicht so wie bei dem Herrn Voldemort, dessen Namen man nicht aussprechen soll. In der Mitte des Texts. Klaus-Dieter Frankenberger schreibt:

"Offenkundig kommt der Trumpismus besonders bei weißen Wählern ohne College-Ausbildung sehr gut an. Das sind soziologisch und mentalitäts-politisch die Milieus, die im Vereinigten Königsreich der Brexit-Kampagne zum Erfolg verhalfen". Was einfach aussieht, muss nicht zutreffen. Die Unterschicht! Die Unterschicht! Die Bildungs-fernen Schichten! Die Bildungs-fernen Schichten! Wenn es so einfach einfach wäre. Gestern konnte man in der F.A.Z.  lesen: "Die Republikaner sind erste Wahl. Amerikanische Mitarbeiter deutscher Konzerne spenden über Kommitees vor allem für die Konservativen" (28.7.2016, S. 16). Wie das? Was sagt Klaus-Dieter Frankenberger dazu? Wer sind diese amerikanischen Mitarbeiter?   

Worte zum Einlullen V: "Verhöhnen"

Gestern in der Bundespressekonferenz sagte unsere Bundeskanzlerin:

"Dass die zwei Männer, die für die Taten von Ansbach und Würzburg verantwortlich sind, verhöhnt das Land, das sie aufgenommen hat. Es verhöhnt die ehrenamtlichen Helfer, es verhöhnt die Flüchtlinge..."

Verhöhnen. Das Verbum, bei dem ich stutzte. Es führt eine Klage: über schlechte Gäste, die eine Gastfreundschaft nicht schätzen. Die Gastgeberin beklagt sich. Leider vertut man sich schon einmal mit seinen Gästen, die sich schlecht benehmen und einem das Fest verderben. Wir kennen die Klage von tief enttäuschten Eltern, die ihrem Kind vorhalten: wir haben alles für dich getan - und jetzt das .... Die Klage ist verständlich, trifft aber möglicherweise nicht die ganze Wahrheit.

Darf die Bundeskanzlerin klagen? Natürlich. Aber sie mischte gestern einen vertrauten familiären, persönlichen Kontext der Enttäuschung und Hilflosigkeit in die Kontexte ihrer Aussagen. Ist das angemessen? Sicher nicht für den politischen, psychosozialen Kontext des Mords oder wie im Fall von Ansbach und Würzburg des versuchten Mords.     

Dienstag, 26. Juli 2016

Journalismus-Lektüre (Beobachtung der Beobachter) XXX: Klischee-Produktion

Zwei Beispiele (beim Frühstücken) in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gefunden (27.7.2016):

1. Trivialisierung psychiatrischer Diagnosen.
"Wie krank war Ali Daid S.?", fragt Karin Truscheit in ihrem Text "Nicht nur depressiv" (S. 7).
Eine depressive Erkrankung, fasst sie ihre psychiatrische Erkundigung (bei einem psychiatrischen Fachmann) zusammen, komme für die Mord-Handlungen eher nicht in Frage: die Handlungsbereitschaft sei stark reduziert. Die narzisstische Störung erscheint da plausibel: als das Bild (ich fasse zusammen) einer exzessiv egozentrischen Persönlichkeit. So wird diese Diagnose zu einem Schreckensbild und fügt sich in den Kontext: dass psychiatrische Diagnosen Gefahr laufen, negative Konnotationen (Verachtung, Abwertung, Ekel) zu transportieren und sich darauf einzustimmen, aber das gravierende Leid dieser Erkrankung ausblenden. Zudem tragen psychiatrische Diagnosen zur Erklärung mörderischer Gewalttätigkeit nicht bei; sie sind Symptom-Auflistungen, bestenfalls einigermaßen präzise Beschreibungen, die mit angemessenen Rekonstruktionen der lebensgeschichtlichen Kontexte zum Verständnis gebracht werden müssen.  Das ist in der psychiatrischen Praxis mühsam, weil sehr zeitaufwändig. Anders als Karin Truscheit behauptet, codiert das Klassifikationssystem des von der WHO herausgegebenen ICD 10 (International Classification of Diseases) sehr wohl die narzisstische Persönlichkeitsstörung: unter der Nummer F 60.8 für  sonstige spezifische Persönlichkeitsstörungen. Die Kategorie des Sonstigen wird ungern in der psychiatrischen Praxis verwandt, weshalb (hier und da: je nach der Politik klinischer Praxis) davon abgeraten wird, sie zu benutzen - sie existiert aber und kann in dem Diagnosen-Büchlein im Register nachgeschlagen werden.

2. Behauptete Kausalität.
"Wie nah stand Mohammed D., der Täter von Ansbach, dem 'Islamischen Staat?", fragt Eckart Lohse in seinem Text "Eine Heiratsurkunde aus Syrien und Material für noch eine Bombe" (S. 2). Eckart Lohse trägt die Ermittlungen ordentlich zusammen. Das Verwaltungsgericht Ansbach hatte der Ablehnung des Asylantrags zugestimmt, die Anordnung der Abschiebung ausgesetzt. Mohammed D. wurde aufgefordert, sich im März zu melden. Am 13. 7. wurde ihm seine Abschiebung mitgeteilt. Eckart Lohse schreibt: "Er hätte einen Monat Zeit gehabt, Widerspruch einzulegen. Das tat er nicht. Stattdessen baute er eine Bombe". Stattdessen: war das so? Woher weiß er das? Er weiß es nicht. Aber mit der behaupteten Kausalität lässt sich der Text gut beenden und ein Verständnis einschmuggeln.

  

Journalismus-Lektüre (Beobachtung der Beobachter) XXIX: Augen zu und durch die Hecke

"Den meisten Deutschen ist es egal", schreibt Jasper von Altenbockum in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (26.7.2016, S. 1), "ob es sich bei den Attentaten in Ansbach, München, Reutlingen oder Würzburg um 'richtigen' islamistischen Terror, um kopierten oder aber gar nicht um solchen Terror, sondern 'nur' um einen Amoklauf handelte".

Den meisten Deutschen: woher weiß Jasper von Altenbockum das? Der Mord ist der gravierendste Tabubruch (neben dem Inzest). Ein Mord hat eine spezifische individuelle wie kollektive Sozialisationsgeschichte. Wie kommt jemand dazu, einen oder mehrere Morde zu begehen? Die Antwort betrifft die Grundlagen einer demokratisch verfassten Geselllschaft und einer demokratisch engagierten Öffentlichkeit. Unser Grundgesetz hat die Würde des Menschen festgeschrieben - also auch die Würde des Menschen, der einen oder mehrere Morde begangen hat. Ist der Mensch, der einen oder mehrere Morde begangen hat, ein Monster oder hat er sich monströs entwickelt? Wahrscheinlich - diese Antwort ist umstritten - hat er sich monströs mit einem entsetzlichen, schwer zugänglichen Leiden entwickelt. Die "Fabrikation des Menschen" hat Pierre Legendre den Prozess der Sozialisation genannt. Natürlich - davon gehe ich aus - wollen wir wissen, wie unser und fremdes Leben sich entwickelt hat und wer wir sind. Das Interesse daran ist uralt. Die Antworten sind äußerst schwierig und vorläufig.

Das kann man natürlich sein lassen oder abkürzen. Das irreparable Leid ist riesig. Das beobachtete Leid beunruhigt, irritiert und alarmiert. Schnelle Antworten und schneller Trost werden - das geben uns manche Protagonisten der öffentlichen Diskussion zu verstehen - erwartet. Unsere Bundeskanzlerin sagte (am 23.7.2016), dass "der Staat und seine Sicherheitsbehörde alles daransetzen, um die Sicherheit und die Freiheit aller Menschen in Deutschland zu schützen". Aller Menschen in Deutschland. Ein paar Sätze zuvor sagte sie: "Immer sind es Orte, an denen jeder von uns hätte sein können". Ein (erstaunlicher) Satz des Missverständnisses zur Eintrittswahrscheinlichkeit seltener Ereignisse. Was wollte sie sagen? Einfach trösten: Wir sind also nicht sicher. Das ist eine Binsenwahrheit. Neben dem rührseligen Trost gibt es die schnellen Etikettierungen: jetzt sind es die Blitzradikalisierungen, die Identifikation mit den Vorbildern, die Nachahmung, die stationäre psychiatrische Behandlung, die Depression und die narzisstische Persönlichkeitsstörung - die als Erklärungen ausreichen sollen. Das tun sie nicht. Sie sind grobe Beschreibungen oder Klassifizierungen. Sie erklären nicht den langen, komplexen Prozess, wie der Mord für einen Menschen Handlungs-leitend wird. Solange wir einen Täter nicht ausreichend befragen können, so lange wissen wir nicht, was ihn wie bewegte. Wir kennen nicht den Prozess der Entwicklung der mörderischen Fantasie zur mörderischen Praxis. Wir wissen nicht, an wen er seine mörderische Praxis adressierte. Wir kennen nicht die sprachlose Sprache seiner mörderischen Praxis. Das Nicht-Wissen, ich wiederhole mich, ist schwer auszuhalten. Den Vorzug des Nicht-Wissens zu propagieren oder zu unterstellen, ist - ja, was ist es? Verachtung? Ekel? Angst?  Schwer zu sagen. Zumindest empfiehlt es sich nicht für das Blatt für kluge Köpfe (s. meine Blogs vom 27.3.2015, 31.3.2015  und 4.12.2015).


(Überarbeitung: 3.7.2016)