Montag, 29. Februar 2016

Fernsehjournalismus-Lektüre: über die Ohnmacht der Fernseh-Macht - die Talkshow "Anne Will" am 28.2.2016

Riesen-Theater am Sonntagabend um 21.45 Uhr. Unser Erstes blies zum Halali oder zum Turnier der Ritterinnen - wie man will. Anne Will gegen Angela Merkel. Ein unsichtbarer, von einer A.R.D.-Redaktion beauftragter Anschmeisser dröhnte durchs Studio : Deutschland  gespalten, in Europa isoliert - wann steuern Sie um, Frau Merkel? Daraufhin wurde die Kamera mit einem mächtigen Schwung auf die beiden Damen zugeschleudert - diese Bewegung kennen wir von Sport-Übertragungen. Anne Will begrüßte ihr Publikum vor den Mattscheiben und im Studio, die Kanzlerin, legte los und überhörte deren ersten Satz: "Schön, Sie wieder zu sehen!"

Schade. Eine persönliche, wenn auch wahrscheinlich nicht sponane Bemerkung sollte man nicht ins Leere laufen lassen. Aber Anne Will, ihre redaktionelle Mannschaft und ihre vielen Kollegen und Kolleginnen, Brötchengeberinnen und Brötchengeber (der A.R.D.) im Rücken oder im Kopf, das Publikum vor Augen und der Bundeskanzlerin gegenüber, klammerte sich an ihren Auftrag der Konfrontation: "Haben Sie die Stärke und die Liebenswürdigkeit der vielen Deutschen ein bisschen unt-... überschätzt?"

Nein, natürlich nicht, antwortete die Bundeskanzlerin sinngemäß; sie müsse sich nach der letzten Sendung mit Anne Will nicht korrigieren. Was gegenwärtig statt fände, sagte sie (wiederum sinngemäß), sei eine Auseinandersetzung um das Verständnis und die Identität der Bundesrepublik. Angela Merkel hielt das Gespräch offen und ließ sich nicht zwingen, die Frage der Sendung im Sinne der Sendung zu beantworten. Sie verstünde ihr Amt darin, ihre Politik, die sie für richtig halte, optimistisch zu behaupten. Damit erledigte sich die A.R.D.-Frage; das Turnier war bereits im ersten Durchgang entschieden; so einfach, wie die Fernsehleute dies dachten, war die Ritterin aus dem Bundeskanzleramt nicht aus dem Sattel zu hebeln. Angela Merkel ritt aufrecht aus dem Studio nach Hause.

Anne Will war schlecht vorbereitet; was sie zur Verfügung hatte, war eine hastige Zeitungslektüre beim Frühstück. Konzeptionell war sie auch schlecht ausgerüstet: TV-Getöse ersetzt keine Begegnung und kein Gespräch. Den möglichen, (etwas) persönlichen Kontakt ließ sie bei der Monumentalität der Studio-Inszenierung verstreichen. Ich vermute: darauf war sie nicht vorbereitet. Naßforsche Konfrontation ist der häufig zu beobachtende Ausfrage-Stil des typischen TV-Journalismus. Ein Gespräch ist nicht beabsichtigt. Positionen werden abgefragt, aber nicht erörtert.

Die 60 Minuten Anne Will drehten in einer Art hochtourigen Leerlaufs. Am Ende lief es wieder auf das vertraute Fernseh-Geschäft hinaus: wahrscheinlich gab es eine ordentliche Einschaltquote - gut für die Firma Anne Will und für die Programmmacher - und eine Atempause/Vertagung für die Bundeskanzlerin, die die Komplexität ihrer Lage nicht diskutieren musste. Alles beim Alten: kein Grund zur Besorgnis. So wurde die gegenwärtige existenzielle Beunruhigung kurz beruhigt.       

 

Mittwoch, 24. Februar 2016

Nicht so Neues zur Heiligen Kuh XXV: alte Hüte tragen sich manchmal schlecht auf

Das Automobil, da sage ich nichts Neues (weil ich das schon lange sage), ist ein Kind der hochherrschaftlichen Kutsche: Abfahrt vor der eigenen, Ankunft vor der fremden Tür. An ihm kann man sich den Prozess, den Erfolg und die Folgen der Demokratisierung klar machen. Freie Fahrt für freie Bürger, sagte deshalb der Allgemeine Deutsche Automobil-Club folgerichtig: jeder sein eigener Herr oder jede ihre eigene  Dame. Jetzt haben wir die Variation: bar ist frei. Beim Geld ist es wie beim Auto: man muss sich sehr sorgen, wenn man es in der Tasche hat oder wenn man fährt oder parkt. Jetzt haben wir, zurück zum Automobil, zwei Varianten: das Auto mit Verbrennungsmotor und Elektromotor und das Auto nur mit Elektromotor; entweder wird es weiterhin individuell pilotiert oder von einer Elektrotechnik bugsiert. In beiden Fällen sitzt man weiterhin in der eigenen Kutsche. Besitz geht vor.

Wirklich? Was wäre mit einem massiven, wirklich komfortablen Ausbau des öffentlichen Transports? Wir bräuchten keine weiteren Parkplätze, keine Millionen an Batterien und Ladestationen. Das Problem der Erzeugung des Stroms bleibt. Wir wären frei. Die Kutschen-Narren können ja weiterhin ihr Vehikel kutschieren. Die Automobilindustrie müsste neu überlegen und sich anders orientieren - und nicht einfach den Besitz der privaten Kutsche fortschreiben und dafür Fakten schaffen.


(Überarbeitung: 26.2.2016) 

Journalismus-Lektüre XII: Politik - von der Familienstube aus betrachtet

Unser Staat hat im vergangenen Jahr 19.4 Milliarden Euro mehr eingenommen als ausgegeben: hat das Statistische Bundesamt konstatiert. Sehr erfreulich. Ich lese heute dazu in der Frankfurter Allgemeine Zeitung (24.2.2016, S. 15, Nr. 46): "Hoher Staatsüberschuss kommt Schäuble in die Quere". Wie das? Der Untertitel der Schlagzeile: "Haushaltspolitiker befürchten neue Begehrlichkeiten".

Neue Begehrlichkeiten: das Wort ist seltsam. Eine Begehrlichkeit gehört in den persönlichen, individuellen Kontext der eigenen Wünsche-Regulation. Gehört eine Begehrlichkeit in den Kontext eines Politikers? Muss er seine Wünsche regulieren? Sicherlich in seinen privaten Lebensverhältnissen. Aber in seinem beruflichen Kontext hat er eine öffentliche Aufgabe und ein
öffentliches Amt, für das er gut begründete, konzeptionell abgeleitete Entscheidungen treffen muss.

Eine Begehrlichkeit  in den politischen Kontext hinzumischen, bedeutet: 1. das private Wünschen dominiert; 2. es gibt kein politisch begründbares, politisch relevantes Konzept; 3. das private Wünschen korrumpiert die Erledigung der öffentlichen Aufgabe; 4. der Journalist unterstellt eine nicht-politische Politik; 5. er hält die nicht-politische Politik für Politik. Er müsste aufschreien, aber er kooperiert. Er leistet einen Beitrag zur Entwertung und Verachtung von Politik mit dem Bild :  von Eltern, Großeltern und Verwandten, die, wenn sie nur lang genug behelligt werden, ihre Portemonnaies aufreißen.  

Montag, 22. Februar 2016

Fairplay in der Bundesliga

Gestern Abend in den Tagesthemen die Nachrichten zu den Spielen der Bundesliga. Aufruhr im Spiel der Mannschaften Bayer Leverkusen gegen Borussia Dortmund. Die Dortmunder hatten die Ausführung eines Freistoßes ein paar Meter nach vorn verlegt und blitzschnell erledigt, die Leverkusener überrascht und das erste Tor erzielt. Roger Schmidt, der Trainer der Leverkusener Mannschaft protestierte heftig: der Freistoß wäre nicht an Ort und Stelle ausgeführt worden. Der Schiedsrichter erkannte den Treffer an. Roger Schmidt setzte seinen Protest fort. Der Schriedsrichter unterbrach das Spiel und wies den Trainer an, seinen Platz zu verlassen. Der Trainer ging nicht auf die Tribüne.  Der Spieler Kießling bat dann im Auftrag des Schiedsrichters seinen Trainer,  auf die Tribüne zu gehen. Roger Schmidt ging nicht.  Später wird er sein  Verhalten erläutern: dass er als Trainer glaubte, für die "Gerechtigkeit seiner Mannschaft" sorgen zu müssen - wie er in den Tagesthemen zu hören war. Der Schiedsrichter unterbrach die Partie für zehn Minuten.

Dass ein Trainer für die "Gerechtigkeit" eintreten müsste, ist ein Missverständnis und eine bequeme Rationalisierung für die Intention des Protests: den Schiedsrichter in seiner Funktion, den Rahmen des Spiels zu garantieren, zu stören. Dass Schiedsrichter mit Verachtung und Entwertung angegangen werden, ist nicht neu. Früher gab's es die Rufe aufs Spielfeld: Schiedsrichter - ans Telefon! Am 29.10.1986 gab es die Empfehlung - nach dem Länderspiel in Wien - , Luigi Agnolin, den Schiedsrichter dieses Spiels "möglichst schnell aus dem Verkehr zu ziehen". Die Empfehlung gab Franz Beckenbauer. Was schert mich der Vater, was scheren mich die Gesetze: ist der Subtext dieser Empfehlung. Er hat, daran zu erinnern, ist langweilig, aber notwendig, weil es gern unter den Tisch fällt, eine lange deutsche und eine lange bundesdeutsche Geschichte. Er wird, wenn wir uns umsehen, ständig realisiert.

Wann die Erosion der Autorität des Schiedsrichters einsetzte, ist schwer zu sagen - es ist ein sublimer Prozess. Irgendwann begann der Einfluss des Geschäfts zu dominieren, das die Idee der Ritterlichkeit des Fußballsports korrumpierte. Inzwischen ist die Autorität des Fußball-Weltverbandes als Sport-Gesetzgeber mächtig ramponiert; die einiger anderer Sportverbände auch. Das Geschäft mit dem Sport ist heikel. Die Ideale der Ritterlichkeit und der Gesetzestreue und das Einüben einer noblen Moral (mit jedem Spiel) drohen, nachhaltig entwertet zu werden und verloren zu gehen. Das Vorbild der Korruption kontaminiert den Sport.

(Überarbeitung: 23.2.2016) 

Journalismus-Lektüre XI: Einübung in die Selbst-Überschätzung

"Ist es späte Einsicht, Verzweiflung oder taktisches Kalkül, die den französischen Präsidenten Francois Hollande zu seinem mutigsten arbeitspolitischen Vorschlag seiner Amtszeit treiben?", lese ich am Samstag in der Frankfurter Allgemeine Zeitung (vom 20.2.2016, S. 19). Die Konjunktion oder verlangt den Singular des Verbums. Mit dem Plural gibt Sven Astheimer, der Autor, die Antwort: es sind alle drei vermuteten Motive, die den französischen Präsidenten treiben. Davon abgesehen: klingt die Motiv-Suche des Journalisten großspurig - Politik wird auf schlichtes Niveau gebracht; ihre Substanz und ihre Implikationen nicht geprüft. Die Arbeitszeit von 35 Stunden zu verändern ist ein tiefer  Eingriff in die französische Kultur und in das Verständnis von Lebensformen. Wie kann man sie verändern? Sicherlich nicht, indem man sich treiben lässt. Zudem fördert die Motiv-Suche die Illusion: man würde die politische Prozesse übersehen - und könnte deren Protagonisten in die sprichwörtliche Tasche stecken. Kann man nicht. Wir, das Publikum der veröffentlichen Lektüre politischer Prozesse, leben von den mehr oder weniger  plausibel wirkenden Vermutungen der Leute, die Leute kennen, die Beobachter waren oder sind. Sven Astheimer, vermute ich,  hat so wenig täglichen, intimen Kontakt mit dem französischen Präsidenten wie ich. Die Verzweiflung eines Menschen bekommt man, wenn überhaupt, nur aus der Nähe einer Beziehung mit.    


(Überarbeitung: 23.2.2016)

Montag, 8. Februar 2016

Ausgeschlossenwerden beim Zeitungslesen

Autoren imaginieren ihren idealen Leser - sagte Umberto Eco. Wer ist das? Wahrscheinlich wird doch eine Leserin oder ein Leser imaginiert, die oder der vom Autor nicht so weit entfernt ist. Wie ist das bei einer Tageszeitung? Bekanntermaßen wirbt die Frankfurter Allgemeine Zeitung (seit einiger Zeit wieder verstärkt) mit dem selbst-vergewissernden Satz: Dahinter steckt immer ein kluger Kopf.

Wie klug soll der Kopf sein? Ziemlich. Mehrere abgeschlossene akademische Studiengänge wären nicht schlecht. Der Werbesatz der Zeitung sagt, was die Redaktion erwartet - wenn wir den Satz einmal wörtlich nehmen. Aber macht die Zeitung auch einen klüger? Das ist die Frage.

Zwei Beispiele aus der Frühstückslektüre.

1. Im Wirtschafts-Teil der  Frankfurter Allgemeine Zeitung. Heute der Titel des Textes: "EBZ veröffentlicht geheimes Anfa-Abkommen. Die Verteilung der umstrittenen Wertpapierkäufe bleibt aber weiter unklar" (S. 8.2.2015, S. 17, Nr. 32). Anfa, wird erläutert, ist das Akronym aus: "Agreement on net financial assets". Die Übereinkunft, sagt der nachfolgende Satz, "regelt, in welchem Umfang die nationalen Notenbanken der Eurozone auf eigene Rechnung Wertpapiere kaufen können, für die sie im Gegenzug neu geschaffenes Geld ausgeben". Mehr wird nicht erläutert. Als volkswirtschaftlich unbedarfter Leser komme ich ins Grübeln. Wertpapiere? Welche? Wie? Und wie wurde im Gegenzug neues Geld geschaffen? Ich kaufe und habe dann mehr Geld? Was sind denn: net financial assets? Ich könnte im Internet anfangen zu buddeln. Oder jemanden anrufen, der sich auskennt. Zeitbedarf: mehrere Stunden. Wieso kann die Autorin oder der Autor dieses Textes das nicht erläutern? Die Geld-Politik und die (theoretische) Konzeption? Ist das so schwer? Keine Zeit oder keine Kompetenz zum Übersetzen? Zumindest könnte man doch ein paar Text-Tupfer erwarten, die einem die Suche erleichtern.

2. Hanno Beck und Alois Prinz, Hochschullehrer in Pforzheim und Münster, sind die Autoren des Textes "Nichts ersetzt eine gute Theorie. Wie verlässlich sind überhaupt empirische Studien? Überprüfungen zeigen, dass beim Nachrechnen oft etwas anderes herauskommt. Die empirischen Ökonomen brauchen mehr Kontrollen". Kontrollen, das wissen wir, sind immer gut. Aber wie soll ich am Frühstückstisch nachrechnen? Wer stellt mir die Daten so schnell zur Verfügung und hilft mir bei den statistischen Prüfverfahren? Das tun die Autoren natürlich nicht. Sie schreiben über das Gewurstel mit den statistischen Prüfverfahren, die sie mit einer Methode verwechseln. Statistische Verfahren prüfen im Normalfall (ordentlichen wissenschaftlichen Vorgehens) theoretisch fundierte Hypothesen; sie stellen Regelmäßigkeiten fest, die die Wahrscheinlichkeit einer Realitätsvermutung nahe legen; sie erklären sie nicht. Entscheidend ist die Theorie, mit der sich entscheiden lässt, wie relevant die signifikanten statistischen Regelmäßigkeiten sind. Häufig werden statistische Verfahren dazu eingesetzt, Hypothesen zu entdecken - was dann dem bekannten Stochern im Heuheufen entspricht: was man findet, kann man nicht abschätzen. Hanno Beck und Alois Prinz empfehlen: "Um zu vermeiden, dass sich fragwürdige Thesen festsetzen, müssten publizierte Studien viel mehr 'nachgerechnet' (repliziert) werden".

Nein. Nachrechnen ist eine ungenaue Empfehlung. Es geht um ein (theoretisch) begründetes Vorgehen. Nicht um ein wildes (Theorie-loses) Rechnen mit statistischen Verfahren. Das Vorgehen (die Methode) muß zuerst geprüft werden; gerechnet wird später.  Was ist mit dem Frühstücksleser? Er braucht einen Journalisten, der sich eine Studie vornimmt und sich die Anlage, die Fragestellung, die theoretische Ableitung, die Erfassungsinstrumente und die Prüfverfahren vornimmt und bewertet und somit die (vermuteten) klugen Köpfe hinter der Zeitung in den Stand versetzt, sich schlau zu machen oder schlau zu werden. Wieso werden die klugen Köpfe nicht klüger gemacht?

(Überarbeitung: 9.2.2016)

Mittwoch, 3. Februar 2016

Fundsachen im Feuilleton - als Anlass für einige Gedanken zur prekären Lage einer Tageszeitung

Gestern las ich im neuen MERKUR (Heft 801, Februar 2016) den Text Das Ende der Zeitung von Stefan Schulz. Die gedruckte Zeitung verliert mächtig - die online-Angebote werden weitaus mehr genutzt. Die Druckauflagen sinken, die Zahl der Abonnenten gehen zurück. Darunter leidet auch die Frankfurter Allgemeine Zeitung mächtig. Seit einiger Zeit wunderte ich mich, warum diese Zeitung nicht in den Zügen ausliegt - im Gegensatz zur Süddeutschen Zeitung, zur Welt und zu BILD: die Frankfurter versuchen zu sparen.


Die Gründe sind vielfältig und kompliziert. Neben der Frage nach der Bedeutung und dem Einfluss der digitalen Konkurrenz gibt es auch die Frage nach der Qualität einer Tageszeitung.


Ich nenne fünf:
1. die online-Nachrichten kommen den eigenen Suchbewegungen entgegen. Die Zeitung zwingt mir eine Ordnung auf, die eine Unordnung darstellt: die Kontexte sind unklar und fragmentiert. Um mich durchzulesen und zu meiner Ordnung zu kommen, vergeht viel Zeit. Das Interesse der Redaktion, das sich in vielen Abteilungs- oder Ressort-Interessen und Macht-Verhältnissen verteilt, entspricht nicht meinem Interesse. Das macht die Lektüre aufwändig.

2. Die Fragmentierung einer Tageszeitung in Themen-Bücher wie bei der Frankfurter Allgemeine Zeitung (Politik, Feuilleton, Wirtschaft, Finanzen, Sport, Reise, Immobilien) ist uralt und widerspricht der Idee der Kontexte. Die  muss ich herauslesen und synthetisieren.

3. Das Problem der impliziten Konzepte und des unklaren Vorgehens.  Eine Forschungsarbeit nennt ihren Rahmen, ihre Konzeption, Hypothesen und die Herkunft ihrer Befunde. Darüber geben die Autoren in ihren Texten keine Auskunft.

4. Bei der Beschreibung des politischen Geschehens werden die Verlautbarungen der Regierungen als politische Absichten unzureichend gegen den Strich gelesen - bei einem permanenten Rätseln über die Konstellation der Machtverhältnisse im Hinblick auf die Chancen bei den künftigen Wahlen.

5. das Lese-Vergnügen schwankt sehr. Manchmal lese ich Texte, bei denen ich mich wundere, wie die die Gegen-Lektüre einer Redaktion passiert haben. Heute im Feuilleton der  Frankfurter Allgemeine Zeitung - dem Ort der Ordnung und Verständnis versprechenden Narrative - der Text Ronald Reagan reitet wieder von Dietmar Dath. Ein Satz als ein Beispiel für abschreckenden Lese-Service:

"Besonders der politische Nettoeffekt von Obamas aufwendigster Sozialreform, dem Gesundheitsgesetz 'Patient Protection and Affordable Care Act', im Volksmund 'Obamacare' genannt, ist bestenfalls mau und schlimmstenfalls ein Mühlstein um den Hals jeder Kandidatin und jedes Kandidaten aus Obamas Partei".


Was ist ein politischer Nettoeffekt? Wie kann er als mau beschrieben werden? Ich kann über die fröhliche sozialwissenschaftliche Konzeptionslosigkeit des Autors, die die Redaktion mir zumutet, nur staunen. Der Text ist ein Eigentor.


(Überarbeitung: 5.2.2016)

  

Dienstag, 2. Februar 2016

Neues zur Heiligen Kuh XXIV: sie muss schon wieder verteidigt werden

Heute in der Frankfurter Allgemeine Zeitung die Meldung (3.2.2016, S. 19, Nr. 28): "Umwelthilfe stellt Mercedes an den Pranger. Daimler spricht von 'Kriminalisierung der Autohersteller". Was tat die Deutsche Umwelthilfe? Sie hat darauf gedrängt, den Mercedes C220 CDi Blue Tec aus dem Verkehr zu ziehen: der Typ stoße mehr Stickoxide aus als erlaubt. Dementi des Herstellers: Fahrzeuge von Mercedes-Benz entsprächen den gesetzlichen Bedingungen. Dazu der Gegenvorwurf: die Umwelthilfe versuche, den Hersteller zu kriminalisieren. Ein  Vorwurf mit interessanter Moral. Was ist der empirische Beleg? Der Befund des vom niederländischen Umweltministerium beauftragten Instituts: bei Temperaturen zwischen sieben und zehn Grad übersteigen die Abgase des Mercedes etwa das Zehnfache des Erlaubten. Ja, das ist richtig, sagen die Leute aus Sindelfingen, um die kalten Motoren zu schonen, gäbe es eine Technik, die Abgase weniger nachzubehandeln - dies sei gestattete Praxis.

Ja, was nun? Sind die Motoren oder der Schutz vor schädlichen Abgasen wichtiger?

Natürlich die Motoren. Es ist doch eine Binsenwahrheit, dass die Betriebstemperatur nach - über den Daumen gepeilt - 100 km erreicht wird, weshalb manche Autofahrer schon einmal größere Umwege
machen, um ihrem Fahrzeug einen Gefallen zu tun. Weshalb anderseits empfohlen wird, die Fahrt zum Briefkasten zu unterlassen. Aber wie man es dreht: der Motor muss erst einmal warm werden. Dann erst darf  man die Abgase messen. Vorher nicht. Wobei die durchschnittliche Fahrpraxis in Kurzfahrten besteht. Also lassen wir besser das Messen. Wer weiß, wo das hinführt. Die armen Leute aus Stuttgart-Sindelfingen: sie wollen die Motoren schonen, jetzt sollen sie daran gehindert werden.

Neues zur Heiligen Kuh XXIII: störrisch rennt sie im Kreis herum

Vertrautes von VW: ein Betrug ist kein Betrug. Heute wird in einem Schmeichel-Text ein bemerkenswerter Satz des gegenwärtigen VW-Chefs Matthias Müller zitiert - in dieser Passage von Holger Appel (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2.2.2016, S. 15, Nr. 27):
"Wie Müller mit seiner Aufgabe als Schlechtwetterkapitän umgeht, ist bemerkenswert. Der Mann, der sich von seinem Komfortsitz Porsche nicht auf den Schleudersitz VW beworben hat, will sich noch immer nicht verbiegen lassen. Er gesteht Fehler ein, verfällt aber nicht in Demut, weil, wie er es sagen würde, 'bis auf einen Tag vor dem Skandal VW ein super Laden war mit super Leuten'".

Ja, wenn man die Super-Leute aus dem Super-Laden bloß nicht erwischt hätte in den Vereinigten Staaten! Solange man nicht erwischt wird, ist ein Betrug kein Betrug.

Zweites Beispiel. Interview mit Andreas Renschler vom Vorstand des VW-Konzerns. Interviewt wurde er von Georg Meck (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 31.1.2016, S. 24, Nr. 4).
Erste Frage: "Herr Renschler, auf einer Skala von eins bis zehn. Wie schlimm ist VW getroffen vom Diesel-Skandal?"
Antwort: "Für mich ist noch immer nicht ganz fassbar, was da passiert ist".
Kommentar: Schwerer Betrug; ganz einfach.
Renschlers Antwort, fortgesetzt: "Die Organisation insgesamt ist erschüttert".
Kommentar: Also Zehn.
Renschlers Antwort, fortgesetzt: "Wir sind aber dabei, das aufzuklären".
Kommentar: Was ist das? Etwas Unbekanntes. Etwas Unaussprechbares. Die Konjunktion aber versichert: wir tun etwas. Wir nähern uns dem Unbekannten.
Renschlers Antwort, fortgesetzt: "Technisch geht das schneller, der Rückruf ist angelaufen. Daran schließt sich die Frage an: Wie konnte das passieren? Was ist der Grund für die Vorgänge?"
Kommentar: Renschler hält am das fest. Schließlich nennt er das das: es sind die Vorgänge. So wird ein Handeln hinsichtlich seiner Verantwortung und Schuld entleert; die Vorgänge sind anonym; irgendein Roboter muss sie ausgeführt haben.

Das ist die Rhetorik des Betrugs. Sie ist in einem Interview mit einem Journalisten nicht strafrechtlich relevant. Man muss keine persönliche oder Selbst-belastende Auskunft geben. Es ist das gute Recht der beiden VW-Herren keine substantielle Auskunft zu geben und der Strategie ihrer Rechtsberatung zu folgen. Andererseits sind sie in einer moralischen Schuld der bundesdeutschen Öffentlichkeit gegenüber. Wer redlich zu sein verspricht, sollte sich nicht weiter durchmogeln.  Die Fortsetzung der Schuld-planierenden Unredlichkeit ist eine vertraute deutsch-bundesdeutsche Tradition. Dass sie durchgeht, liegt an den beiden Journalisten: statt loszuprusten und sich auszuschütten über die Schlichtheit der Mogel-Mittel, blieben sie brav und gingen in die Knie. Wie war das mit der vierten Macht? Das dritte Gebiß klappert.

(Überarbeitung: 29.2.2016)

The plot thickens

Es empfiehlt sich, seinen Humor nicht zu verlieren. Wenn eine Geschichte komplizierter und unübersichtlicher wird, lautet die passende englische Redewendung dazu: the plot thickens. Gestern lieferte Joschka Fischer seinen Kommentar in der Süddeutsche Zeitung ab - ich las ihn auf der Website dieser Zeitung, weshalb ich den Ort seiner Platzierung innerhalb der Zeitung nicht angeben kann. Der Titel lässt einen aufschrecken: Europas Suizid ist realistisch. Die Lage ist dramatisch - Krise ist wahrscheinlich eine angemessene Beschreibung. Wobei man jetzt sortieren
müsste, wer sich in einer Krise befindet. Joschka Fischer: die "fortschreitende Destabilisierung Europas durch einen neuen Nationalismus in der Flüchtlingskrise" im Kontext eines "globalen Ordnungsverlusts in Politik und Wirtschaft". Kann man von Europas Suizid sprechen? Zum Selbstmord gehört eine individuelle Intention. Wie sieht die Intention bei Europa aus? Wer hat sie? wer unterstützt sie? wer kooperiert?

Joschka Fischer droht mit dieser Kausalität:
"Wenn Angela Merkel an ihrer Flüchtlingspolitik scheitern würde, wenn zudem Großbritannien sich für den Brexit entschiede und dann Marine Le Pen im Jahr darauf bei den französischen Präsidentschaftswahlen gewönne, dann wäre der Sturz in den Abgrund wohl nicht mehr aufzuhalten. So muss es nicht kommen, gleichwohl ist diese rabenschwarze Option eines europäischen Suizids durchaus realistisch. Das sollten all jene bedenken, die heute so munter am Stuhl von Bundeskanzlerin Merkel sägen".

Kann ein Abstraktum sich suizidieren? Natürlich nicht. Europa ist kein Subjekt. Europa wird gestaltet und repräsentiert von 27 nationalen Regierungen, die demokratisch gewählt wurden. Die Karten müssen neu gemischt werden. Zuvor müssen die 27 Regierungen sich auf ein gemeinsames, gründliches Nachdenken verständigen. Die öffentliche Diskussion darf sich nicht erschrecken und abhalten lassen, gründliches Nachdenken zu fordern. Bangemachen gilt nicht.   

Journalistische Kopflosigkeit II

Wir haben eine Erinnerungskultur, eine Streitkultur, seit neuestem eine Wilkommenskultur und seit heute: eine Verabschiedungskultur. Der Wort-Erfinder heißt: Berthold Kohler. Er ist der Autor des heutigen Kommentars auf der ersten Seite der Frankfurter Allgemeine Zeitung (2.2.2016, Nr. 27) mit dem Titel: Merkels Satz. Er erinnert an den Satz der Bundeskanzlerin, die ihre Erwartung so adressierte: "Wir erwarten, dass, wenn wieder Frieden in Syrien ist und wenn der IS im Irak besiegt ist, dass Ihr auch wieder, mit dem Wissen, was Ihr jetzt bei uns bekommen habt, in Eure Heimat zurückgeht". Der Satz ist so verdrechselt, dass an ihn besser nicht erinnert wird. Schon die Anrede ist seltsam: seit wann werden fremde Erwachsene bei uns geduzt? Was soll das Wir erwarten? Auf die Einladung folgt die Ausladung. Auf das Versprechen der Integration folgt die Befristung des Versprechens. Dann das zweifache Wenn  und das bemerkenswert verkürzte Futurum II (was Ihr jetzt bei uns bekommen habt). Ja, was werden die Angesprochenen jetzt bei uns bekommen haben werden? Weiß niemand. Weder kann man den Prozess der Integration forcieren noch dessen Dauer prognostizieren. Er hat noch nicht begonnen und schon soll er beendet sein? Wie passen jetzt  und futurum exactum zusammen? Gar nicht. Auf die eine Unklarheit folgt die nächste Unklarheit. Auf die eine Unsicherheit folgt die nächste. Gedanken-Kreisen: könnte man das nennen. Hoffentlich wird unserer Kanzlerin nicht schwindlig.

Der Satz sei, schreibt Berthold Kohler, "ein Beleg dafür, dass Merkel verstanden hat, was im Land und in ihrer Partei los ist". Hat sie das? Wir hatten das schon. Gastarbeiter kamen und blieben - anders als Gäste, die gehen. Jetzt können sie kommen und sollen wieder gehen. Das glaubt unsere Kanzlerin  Leuten sagen zu können, die sie duzt.

Berthold Kohler schlägt einen weiteren Purzelbaum. Der Satz der Kanzlerin hätte eine "zweite Funktion": die der politischen Vorsorge. Sollte die Flüchtlingspolitik revidiert werden müssen, würde, so des Autors Argument, "der Regierungssprecher Belege dafür brauchen, dass die Kanzlerin dieses und jenes schon immer gesagt und gefordert habe. Die kluge Frau baut vor - und ihr Archiv rechtzeitig aus". Berthold Kohler, einer der Herausgeber der Frankfurter Tageszeitung, bewirbt sich für eine Anstellung im Bundeskanzleramt. Für dieses und jenes. Zum Anlehnen.


(Überarbeitung: 11.1.2017)