Freitag, 29. April 2016

Wörter zum Verschleiern: explodierende Kosten

Gestern ging es in den Tagesthemen um den Hamburger Konzertsaal und die riesige, mehrere Etagen-große Orgel. Thomas Roth leitete den Bericht mit den explodierenden Kosten des Konzertsaals ein. Halt!, dachte ich (zum ersten Mal): das ist die falsche Metapher. Kosten können nicht explodieren. Sie entstehen nach und nach im Prozess des Bauens, der je nach Planung ziemlich holperig verläuft und offenbar dann ziemlich abweicht vom Bauplan. Dann werden von den Firmen neue Kosten geltend gemacht - einen unfertigen Bau lässt man ungern stehen so wie den im 13.Jahrhundert begonnenen und im 19. Jahrhundert endlich fertig gestellten Kölner Dom - und in einem Genehmigungsverfahren bewilligt. So verzögert sich der Bau, wodurch wiederum neue Kosten anfallen und so weiter und und so fort. Ist der Prozess abgeschlossen und der Bau vollendet, werden die Kosten bilanziert und verglichen mit der Ausgangsplanung. Wie wird die Differenz der Öffentlichkeit erläutert? Nicht mit der umständlichen Beschreibung des Prozesses, wofür irgendjemand verantwortlich zu machen wäre, sondern mit dem Katastrophen-ähnlichen Bild der Explosion. Eine Explosion ist ein Unglücksfall. Ein Schreibtisch ist auf diese Weise noch nicht in die Luft geflogen - höchstens im Kino, wenn drastisch abgerechnet wurde. Aber in einer Behörde?       

Montag, 25. April 2016

Neues von der Heiligen Kuh XXVIII: vielleicht bleibt sie doch besser im Stall

Der 21.4.2016, hatte ich mir gemerkt, war der Tag der Tage: der Wolfsburger Konzern wollte an diesem Tag den Bericht zur Klärung der Genese des Betrugs vorlegen. Das war ein handfestes Versprechen. Was wurde daraus? Ein gebrochenes Versprechen. Vorstand und Aufsichtsrat, so die Frankfurter Allgemeine Zeitung (am 23.4.2016, S. 19), ließen mitteilen, "dass eine Veröffentlichung von Zwischenergebnissen der Untersuchung zum gegenwärtigen Zeitpunkt mit unvertretbaren Risiken für Volkswagen verbunden wäre und damit derzeit nicht erfolgen kann".

Die Nachricht war keine Überraschung. SZ Online meldete, dass die U.S.-Behörden interveniert hätten. Welches Interesse sollten die Behörden daran haben? Es war abzusehen, dass die Leitung des Konzerns die Politik des Dichthaltens fortsetzen würde (s. meine Blogs vom 23.9.2015, 2.10.2015 und 2.2.2016).  Das ist die Politik des Betrugs: nie mehr zugeben als nötig; hinhalten so lange es geht; Zeit gewinnen und auf günstige Umstände und ein Nachlassen des Erinnerns hoffen. Überraschend finde ich zweierlei: 1. dass eine renommierte Kanzlei sich auf das Verschweigen eingelassen und nicht auf der Veröffentlichung ihrer Untersuchung bestanden hat; 2. der Langmut der Protagonisten der öffentlichen Diskussion, die offenbar den fortgesetzten Betrug an der Öffentlichkeit registrieren, denen es aber nicht gelingt, die Konzern-Leitung wirksam zu konfrontieren.

(Überarbeitung: 26.4.2016)

Regierungsrethorik II: Klagen & Knirschen

Nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts wäre es, zitiert die Frankfurter Allgemeine Zeitung den SPIEGEL, so unser Bundesinnenminister Thomas de Maizière, "ständig dem Gesetzgeber in den Arm zu fallen". Es geht um die Gesetzgebung im Kontext der so genannten Terrorismus-Bekämpfung. Der Innenminister hat etwas mißverstanden. Der arme Mann: ist fleißig, wird aber
zurückgepfiffen. Die Nachricht erschien in der Samstagsausgabe unter der Rubrik Wichtiges in Kürze (23.4.2016, S.4). Da ist sie gut abgelegt, um übersehen zu werden.

Nicht zu übersehen ist heute im Feuilleton-Buch der Frankfurter Allgemeine Zeitung (25.4.2016, S. 11) der Text von Patrick Bahners Frau Merkels Justizirrtum. Strafverfolgung aufgrund eines entbehrlichen Gesetzes? Das Fragezeichen ist redaktionelle Vorsicht. Das Argument, die Ermittlung eines Strafverfahrens im Rahmen eines Gesetzes zu gestatten, das der Gesetzgeber bald abzuschaffen beabsichtigt, ist ziemlich kindlich nach dem Muster: ich mache es jetzt, aber ich mache es nie wieder - so verspricht unsere Bundeskanzlerin Besserung. Wie wir alle von uns selber wissen: sind diese Art von Versprechen dazu da, sich Luft zu verschaffen und nicht eingehalten zu werden. Sie haben auch nichts mit den parlamentarischen Verfahren zu tun, die für Gesetzesänderungen notwendig sind - was einen vermuten lässt: unsere Bundeskanzlerin wirkt hier und da nicht sattelfest.

(Überarbeitung: 27.4.2016)

Donnerstag, 21. April 2016

Neues zur Heiligen Kuh XXVII : sie kann wieder aus dem Stall heraus

"Dass die in den Vereinigten Staaten anfallenden Belastungen zur Anzahl der dort verkauften Autos in keinem Verhältnis stehen, mag allen eine Warnung sein, die in dem großen Markt Geschäfte machen", schreibt Holger Appel in seinem Kommentar Teurer Anfang für VW zur gestrigen Verabredung mit dem kalifornischen Gericht (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22.4.2016, S. 17). Der Satz ist ein wenig unscharf - die so genannten Belastungen stehen in einem Verhältnis zum Ausmaß des systematischen Betrugs; die Anzahl der Fahrzeuge ist zweitrangig. Mit der Unschärfe wird die Schuld des Betrugs zu verrechnen versucht - die nicht zu verrechnen ist. Schwerer Betrug ist schwerer Betrug. Dass Belastungen folgen, war zu erwarten. Holger Appel sträubt sich - seine ersten beiden Sätze: "Mancher wird erschrecken. Die Einigung, auf die Volkswagen im Abgasskandal mit den amerikanischen Behörden zusteuert, wird teurer als erwartet". Ja, bei uns ist schwerer Betrug noch längst kein schwerer Betrug - da hat manche Zeitung noch etwas dazu zu sagen. Schon erstaunlich, dass wir uns noch immer im moralischen Gewurschtel der Nachkriegszeit befinden.

Mrs. Uncool trifft Mr. Cool

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung sagte heute in ihrer Ausgabe (S. 3) dazu - hier die Überschriften:

"Treffen der Seelenverwandten. Barack Obama schätzt Angela Merkel mittlerweile in höchstem Maße. Trotz anfänglicher Konflikte haben beide insbesondere in der Ukraine-Krise zueinander gefunden".

Zueinander gefunden, Seelenverwandte: Polit-Kitsch, der zur Politik der Rührseligkeit unserer Bundeskanzlerin (und ihrer Mannschaft) passt. Die Autoren sind: Andreas Ross und Majid Sattar. Was sind die Belege? Hörensagen - von "Vertrauten Obamas". Seelenverwandte, noch einmal: ein tolles Vertusch-Wort für enorme Unterschiede. Der Verschmelzungs-Kitsch ist ganz schön zäh.


Was soll der Text? Heute erscheint zum ersten Mal die Frankfurter Allgemeine Woche - mit dem Titel der Beiden in einer Kino-Montur: Angela Merkel als lächelnde, hellblonde Prinzessin mit Kopf-Reif, Barack Obama als Sci-Fi-Ritter; hinter ihnen die Erdkugel. So wird Reklame gemacht. Die Frankfurter kämpfen mit ihren Mitteln. Qualitäts-Journalismus.

Wie gemeinschaftlich ist die EU-Gemeinschaft?


Am kommenden Montag, lese ich heute in der Notiz auf der ersten Seite der Frankfurter Allgemeine Zeitung, kommen in Hannover - neben dem U.S. Präsidenten - die Chefs von Großbritannien, Frankreich und Italien mit unserer Bundeskanzlerin zusammen. Sie hatte, wie es dort heißt, zu einem Gespräch im kleinen Kreis eingeladen: Abschiednehmen für Barack Obama. Die Regierungssprecherin wies darauf hin, so die Notiz, dass ein Gespräch mit dieser Besetzung schon auf dem "G-20-Gipfel" in Antalya stattgefunden hätte; zudem mehrere Telefonkonferenzen in dieser Besetzung.

Die Erläuterungen der Regierungssprecherin  wurden vermutlich auf Nachfragen gegeben. Ich frage mich: wieso lädt die Bundeskanzlerin im kleinen Kreis ein und schließt die Chefs der anderen EU-Regierungen aus? Inklusion und Exklusion sind politische Macht- und Status-Bewegungen. Ging es nicht auch anders? Wieso nicht? Das wüsste ich gern. Politik wird in Hannover gemacht; die Implikationen bleiben verborgen. Immerhin wird deutlich: der Gedanke der Gemeinschaft trägt offenbar nicht so weit. Angela Merkel macht, was sie will.

Mittwoch, 20. April 2016

Der FC Bayern München gewinnt das Viertelfinale mit einem Betrug

Nach dem erschwindelten, dann erfolgreich exekutierten Elfmeter im gestrigen Fußballspiel - verließ ich den Fernseher: keine Lust mehr. Später sah ich noch im Interview-Ritual: Thomas Müller gab den  Betrug zu. Aber, so sagte er (sinngemäß), Tor ist Tor. Ist es das? Kann man einen sportlichen Betrug so durchgehen lassen? Die Antwort ist schwierig. Vor allem steht das Geschäft im Weg. Der Videobeweis, wie er im U.S.-Basketball gepflegt wird, muss kommen.

(Überarbeitung: 6.5.2016)

Dienstag, 19. April 2016

Ein Worte-Fund II: "moralische Ikonenhaftigkeit"

Heute Morgen servierte mir die Frankfurter Allgemeine Zeitung (19.4.2016) im Feuilleton (S. 9) wieder zum Frühstück (s. meinen Blog vom 15.3.2016) einen Christian Geyer-Text Warum mied Merkel die goldene Brücke? (Es geht um die Entscheidung der Bundeskanzlerin, die Ermittlung der Klage eines Staatsoberhauptes zuzulassen, statt eine einfache Klage ihrem institutionellen Lauf zu überlassen). Dort fand ich den Satz: "Merkt Merkel nicht, dass ihre moralische Ikonenhaftigkeit ausgereizt ist". Was ist moralische Ikonenhaftigkeit? Mein Übersetzungsvorschlag: moralische Selbstgefälligkeit. Bemerkenswert ist zweierlei: 1. politische Prozesse werden mit einer solchen Art von Beschreibung entstellt; 2. politische Prozesse werden personalisiert und damit unangemessen familiarisiert - man könnte auch sagen: verniedlicht - , ohne zu berücksichtigen, dass die veröffentlichten Entscheidungen der Bundeskanzlerin Produkt eines interaktiven Prozesses eines Berater-Teams sind, dessen Besetzung, Beziehungsgefüge und Beziehungsdynamik unklar sind. 

Encore: die "Schande" der Bundesrepublik oder Deutschlands (je nach Blickrichtung)

Wollte man eine Liste der Leute anlegen, die über die Schande der Bundesrepublik oder Deutschlands (je nach Blickrichtung auf die Gegenwart oder Vergangenheit) klagten und klagen, wäre sie lang; sie ist so alt wie die  Bundesrepublik. Es ist die Klage über unsere buckelige Verwandtschaft mit ihren (eben nicht) rechten Gedanken, Ideen, Fantasien, Haltungen. Aber - ein alter Zopf - Verwandtschaft ist Verwandtschaft; da kann man nichts machen: sie gehört zu einem. Und wenn sie einem noch so peinlich ist. Jetzt, gestern am 18.4.2016,  hat unser Präsident des europäischen Parlaments, Martin Schulz, geklagt: die AfD, die AfD, die AfD - oh je oh je - , sie wäre "eine Schande für ...." Nein, sie ist keine Schande. Sie ist ein Zeichen für die Stärke unserer Demokratie, die erträgt, dass sich eine Partei und ihre Anhänger nicht an unsere politischen Benimm-Regeln der gedämpften Töne halten. In einer angelsächsischen Demokratie würde man sagen: it's a free country. Bei uns wird immer noch sehr auf die Tischmanieren geachtet. Das ist natürlich nicht schlecht, wenn gesittet gegessen wird; aber wenn einer die Finger statt ein Besteck benutzt, ist das keine Katastrophe. Die AfD wird sicherlich nicht die Regierung stellen, Donald Trump nicht den U.S.-Präsidenten und Großbritannien wird (in seiner Mehrheit) in der EU bleiben wollen als ein besonderes Mitglied. Stay cool, Martin! Lass dich von der (ängstlichen) Nachkriegszeit nicht einschüchtern!

Montag, 18. April 2016

Journalismus-Lektüre XVI: "beibringen"

Heute Morgen las ich den mit Angst vor dem Brexit getitelten Kommentar von Winand von Petersdorff. Die Angst verstehe ich hier als die knallige Beschreibung, die eher anlockt als die in diesem Kontext zu verwendende Furcht: Titel sind Produkte der Redaktionspolitik (Frankfurter Allgemeine Zeitung). Das Ende des kleinen Textes fand ich interessant: Der U.S.-Präsident besucht Großbritannien, heißt es dort. Die beiden letzten Sätze:

"Obama fürchtet, dass der Brexit eine zusätzliche Fragmentierung Europas
beflügeln könnte, der Währungsfonds fürchtet Schocks für die Weltwirtschaft.
Wie bringt man das den Briten bei?"

Wie bringt man das den Briten bei? Der Satz ist eine Anmaßung. Den Briten braucht man  das gar nicht beizubringen. Das wissen sie. Das Verbum beibringen hat für mich einen schlechten Klang: das Beibringen ist von der Dressur nicht weit entfernt. Wo befindet sich der Autor Winand von Petersdorff? Ich wüsste gern, welche Erfahrungen er mit Großbritannien gemacht hat: wie lange hat er dort  gelebt? wo? in welchen Lebensverhältnissen?

Journalismus, das sagte ich schon, lebt auch vom Vergnügen an der Behauptung und von der Illusion der geringen Haltbarkeit der Texte: das ist meine Erfahrung als Leser und als Autor  -  wer schafft es schon, eine Tageszeitung komplett und genau zu lesen? Und natürlich lebt der Journalismus auch
vom Vergnügen am gelungenen Text. Wie immer geht es um die Balancierung der Bedeutung des Geschäfts. Das Lese-Publikum rezipiert in der Position von Beobachtern, die andere Beobachter (die
Journalistinnen und Journalisten) beobachten, die wiederum andere Beobachter (Teilnehmerinnen und Teilnehmer des politischen Prozesses und der gesellschaftlichen Diskurse) beobachten. Diese
Idee stammt von Niklas Luhmann (aus: Die Realität der Massenmedien). Mich interessiert die Frage: wie repräsentativ ist die punktuelle Beobachtung des Gebrauchs der Sprache: beispielsweise des Verbums beibringen? Sagt er etwas über die Redaktion der Frankfurter Allgemeine Zeitung? Über deren Status, Qualität, Konflikthaftigkeit und Realitätsorientierung als Beobachter der Beobachter? Winzige Stichproben - regelmäßig unregelmäßig genommen - sind vielleicht, hoffe ich, nicht schlecht.

Freitag, 15. April 2016

Regierungsrethorik I: "Ich habe nicht den geringsten Zweifel..."

Den hatte die Bundeskanzlerin gestern nicht, als sie in der Pressekonferenz über den Zustand der Kooperation der Koalition sprach. Nicht den geringsten Zweifel. Das ist enorm. Wer kann das je von seinem Leben sagen? Die Sorge oder der Zweifel gehört zu unserer Grundausstattung. Der Zweifel gehört zur methodischen Grundhaltung einer Wissenschaftlerin oder eines Wissenschaftlers. Darum geht es in dem Satz nicht. Wir kennen den Satz - variiert vielleicht in dieser Fassung: ich bin sicher, dass du dich künftig anständig verhältst. Es ist der Satz mit dem Subtext einer Drohung: wehe, du verhältst dich nicht anständig! Die Kanzlerin drohte ihrer Riesen-Mannschaft öffentlich; wie sie zuvor gedroht hatte, wissen wir nicht. Wir können es vermuten. Wer droht, ist in Not. Die Not, nicht zu wissen, was kommt, müsste zum Grundgefühl der Regierenden gehören. Wieso glaubt die Bundeskanzlerin, wir müssten eingelullt werden mit dieser Art des treuherzigen Mogelns? Sieht es so schlecht aus?

Mittwoch, 13. April 2016

Journalismus-Lektüre XVI: Kinder-Beschimpfung

In der Abteilung Familienleben las ich das Interview mit der Autorin und Kinder- und Jugendtherapeutin Martina Leibovici-Mühlberger in der Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (10.4.2016, S. 17). Das Interview ist überschrieben mit dem knalligen Zitat:

"Viele Kinder von heute werden totale Narzissten". Untertitel: "Immer mehr Eltern versagen kläglich, wenn es darum geht, den Nachwuchs zu erziehen, sagt die  Kinder- und Jugendtherapeutin Martina Leibovici-Mühlberger. Das wird gravierende Folgen für das spätere Zusammenleben und die zukünftige Gesellschaft haben".

Mein erster Gedanke war: was mögen die Eltern denken und sagen, die ihre Kinder zu Frau Leibovici-Mühlberger brachten und jetzt hören mussten, dass sie zunehmend kläglich gescheitert sind? Wenn Ihnen also nachträglich eine miserable Zensur ausgestellt wird? Mein zweiter Gedanke: klinisch-psychiatrische Begriffe oder Diagnosen - das war ein Problem psychoanalytischer Konzepte - fungieren hier in diesem Interview wieder als eine Art Disqualifikation oder Beschimpfung. Es war in den 60er Jahren, als Heinz Kohut dem Konzept des freudianischen Narzissmus eine wohlwollende, bestätigende Perspektive gab: ohne ein gutes Selbstgefühl können wir nicht leben. Allerdings war es dann Christopher Lasch, der 1978 mit seinem Buch The Culture of Narcissism. American Life in An Age of Diminishing Expectations zum alten Narzissmus-Unverständnis zurückkehrte. Mein dritter Gedanke: in einer psychotherapeutischen Praxis oder eine psychiatrischen Klinik bekommt man einen schiefen Blick für die Repräsentativität der Praxis-Erfahrungen; nicht statthaft sind die Extrapolationen auf die Gesamtbevölkerung.

Dann dachte ich: wieso läßt die Journalistin Katrin Hummel die Rückkehr zu Christopher Lasch und die wilden Extrapolationen und die Kinder-Beschimpfungen durchgehen? Was sind totale Narzissten? Doch wohl Kinder in Not - gibt die Therapeutin im Text auch zu. Was sollen die wilden Prognosen? Beispiel am Ende des Fragen-Abhakens: "Sie" - die Kinder, die Erwachsene werden - "haben eine Ich-Brille auf, die beurteilen ihre Umgebung nur danach, was sie ihnen für Vorteile bietet. Das ist der reine Narzissmus". Der reine Narzissmus: und der andere nicht reine? Weiter: "Aber eine Gesellschaft, in der die Generationen nicht zusammenhalten, wird zerfallen. Wenn das Experiment Mensch gelingen soll, brauchen wir stabile und liebesfähige Persönlichkeiten, und zu solchen wachsen derzeit die wenigsten Kinder heran". Die wenigsten: kennt sie so viele Kinder?

Und was ist mit den Kindern, die sie in ihrer therapeutischen Behandlung hatte? Die entwickeln sich
doch hoffentlich gut.

Am Ende des Textes steht die Bibliographie des Buches von Frau Leibovici-Mühlberger. So wäscht die eine Hand die andere. Das normale Geschäft eines Journalismus, der sich auf den Affekt des Unverständnisses und des Abscheus mit dem apokalyptischen Schauder einstimmt. Wie war das noch mit den Panama-Papieren?

Journalismus-Lektüre XIV: Dresche für Draghi

Am 3.4.2016 las ich der Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (S. 21) den Text von Rainer Hank: "Wer kann Mario Draghi stoppen?" Untertitel: "Ausgerechnet die Deutschen kritisieren heute die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank. Dabei haben doch  gerade wir immer größten Wert auf diese Unabhängigkeit gelegt. Was ist passiert?"

Der Mann macht, was er will. Rainer Hank: "Selbstbewusst und trotzig pocht er auf seine Unabhängigkeit - und verspielt sie doch, seit er sich von den Staaten immer stärker in die Rolle des Staatsfinanziers drängen lässt. Jetzt zeigt sich, dass die zum Tabu erklärte Unabhängigkeit der EBZ nicht frei von Risiken und Nebenwirkungen ist".

Der letzte Satz ist das Spiel mit Klischees. Welche Intervention - welche Handlung -  ist "frei von Risiken und Nebenwirkungen"? Der Text ist lang und gewunden. Der unabhängige Chef der EBZ
bleibt unabhängig. Die beiden letzten Sätze von Rainer Hank: "Viel wahrscheinlicher ist, dass kein Verantwortlicher es wagen wird, die Verfassung der EBZ zur Disposition zu stellen. Das haben wir
Deutschen jetzt davon".

Wovon? Von unserer Großzügigkeit und Blauäugigkeit. Der Autor spielt mit unserer Geschichte. Davon abgesehen: wo kommt der Konsensus her - dass Draghi Dresche verdient? Wie kommt es,
dass der Mann und sein Team, die sicherliche gute Begründungen haben, so eingeschätzt wird?
Merke: wenn Viele einen verprügeln wollen, stimmt etwas nicht. Wo sind die Gegenstimmen? Wo ist die Erörterung der Konzepte? Der Hypothesen? Der Prognosen? Darüber müsste man sich doch
verständigen können - wenn Journalisten ausreichend übersetzen oder ein Forum einrichten, wo Fachleute ihre Konzepte und Hypothesen übersetzen.

Eine Woche später, in der Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 10.4.2016 (S.22) - ohne den riesigen Aufmacher  Wer kann Mario Draghi stoppen? - der Beitrag von sieben bundesdeutschen Autorinnen und Autoren mit dem Titel "Kritik an Draghi ist noch keine Lösung. Wo bleibt die konstruktive Abtwort auf die Krise Europas?"

Sie und resümieren und schreiben: "Die EBZ muss nicht weniger, sondern Europas Politik muss mehr tun. Die Politik, auch die deutsche, darf sich nicht länger ihrer Mitverantwortung für die gegenwärtige wirtschaftliche Lange in weiten Teilen Europas entziehen. Benötigt werden eine wachstumsfreundliche Fiskalpolitik, Strukturreformen zur Öffnung neuer Märkte und eine Konsolidierung des Finanzsektors. Dabei müssen vor allem wir in Deutschland uns den Spiegel vorhalten, denn die meisten Reformen benötigen wir genauso dringend wie unsere europäischen Nachbarn".
Das ist ein Wort. Also kein wohliges Bad im warmen Wasser der Empörung und des Unverständnisses. Natürlich ließ Rainer Hank das Wasser nicht uneigennützig einlaufen. Die Einstimmung in den affektiven Konsens soll auch der Auflage und der Empörungs-geneigten Leserschaft dienen. Kein Grund, sich über Panama zu mokieren.

Journalismus-Lektüre XIII: der Panama-Wettbewerb

Die so genannten Panama-Papers sind im Umlauf der öffentlichen Diskussion. Eine riesige Datenmenge zur Lokalisierung von Geld-Verstecken (auf Panama) und zur Identifizierung der Besitzer oder Besitzerinnen der Verstecke wurde Zeitungssredaktionen auf der ganzen Welt zugespielt; deren Journalisten werteten die Daten aus und machten sie der Welt-Öffentlichkeit zugänglich. Das ist der Triumph eines journalistischen Coups in der guten, alten Tradition des angelsächsischen muckraking - des Dreck-Aufkehrens. Die Arbeit am Coup wurde aufwändig geschützt, der Zeitpunkt seiner Veröffentlichung geplant, die Metapher erfunden: die Panama-Papers. Seit einer guten Wochen erhalten wir nun täglich eine Ration davon.

Ist das nun schlecht oder gut? Muckraking erfüllt die noble Aufgabe der für eine demokratische Gesellschaft notwendige Kontrolle der Macht-Verhältnisse. Muckraking festigt die wirtschaftliche Position der beteiligten Zeitung. Was ist mit der nicht beteiligten Zeitung? Bei uns liefert die Süddeutsche Zeitung die Panama-Portionen; die Frankfurter Allgemeine Zeitung und die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung sind davon ausgeschlossen. Am vergangenen Sonntag (10.4.2016) war dort zu lesen (S. 49) im letzten Satz:

"Erst wenn die Wucht des journalistischen Coups abgeklungen ist und sich die konkreten politischen und juristischen Resultate der Aufdeckung zeigen, wird man genauer erkennen können, was an den 'Panama Papers' Marketing eines gefährdeten Berufzweigs und was epochemachende Zerschlagung einer verbrecherischen Finanzpraxis war".

Der Autor ist Andreas Bernard. Er hat Bedenken. Er ist vorsichtig. Er weiß nicht, ob es sich lohnt - epochemachend und verbrecherisch! Geht es darunter nicht? Das wussten Carl Bernstein und Bod Woodward nicht, als sie die Umstände des seltsamen Einbruchs in ein Büro der Demokratischen Partei (im Watergate-Gebäude) verfolgten. Es reicht doch erst einmal, den Ort eines Verstecks angeben zu können - die Ermittlungsbehörden können ja dann herausfinden, was dort von wem versteckt wurde. Das ist nicht Aufgabe der Journalisten. Andreas Bernard erwähnt die Süddeutsche Zeitung einmal; den beiden Kollegen, die die Früchte der papers mit einer Buch-Publikation ernten und sich natürlich mächtig freuen, hält er ihren Triumph vor. Aber das Problem seiner Redaktion, die gewissermaßen zusieht und dem Münchener Konkurrent das Feld und damit Zeitungsexemplare
überlassen muss, benennt er nicht. Was macht er? Er mäkelt und knirscht mit den Zähnen und macht den Kollegen den Vorwurf des muckraking, den er an sich adressieren sollte. Den Münchener Kollegen zu gratulieren, ist wahrscheinlich nicht gestattet: dann müsste man ja zugeben, dass ....

Muckraking war nie ein moralisch sauberes Geschäft. Wie auch? Welches Geschäft ist sauber? Wohl gibt es Abstufungen in der einen oder anderen Richtung. Das muss man von Fall zu Fall prüfen.