Donnerstag, 30. Juni 2016

Die Inflation des Hasses

Die öffentliche Diskussion verständigt sich leider häufig in Kurzschrift. Im Augenblick (seit einiger Zeit; den Zeitpunkt kann ich nicht angeben) hat der mächtige Affekt Hass dort Hochkonjunktur. Die öffentliche Diskussion ist ein Forum mit lockerem Rahmen, wechselnden und konstanten Teilnehmerinnen und Teilnehmern, wechselnden Rhythmen - und mit einer Vielzahl sich gegenseitig beeinflussender, unklarer Sub-Foren (vor allem des Internets) mit unterschiedlicher Frequenz der Beiträge. Es ist häufig ein Forum der Aufgeregtheit (der Angst-Bewältigung), häufig ein Forum der Differenzierung (zur Realitäts-Bewältigung). Die häufige und schnelle Identifikation des Hasses im Forum der Öffentlichkeit dient, vermute ich,  einer Modulation der Affekte, die mit der weithin geteilten Irritation des Sicherheitsgefühls verbunden sind.

So verstanden, ist die Identifikation eines Hasses häufig eine unzutreffende Beschreibung von Kontexten unklarer Affekte. Der Hass ist zuerst der persönliche Affekt einer enorm engen, realen (nicht fantasierten oder imaginierten) Beziehung, bestimmt von einer mehr oder weniger mörderisch konturierten Verschmelzungs- und Vernichtungs-Fantasie (einer verdrehten, tief enttäuschten Zuneigung), die im inneren Dialog buchstäblich rast und sich nicht oder kaum beruhigt. Wie und wann diese Fantasie handlungsleitend wird, muss man explorieren: wer hasst, müsste über die Qualität des Hassens Auskunft geben. Inwieweit der eigene Hass sich mit fremdem Hass zu einem geteilten, gemeinsamen Ressentiment auf andere, entfernte Objekte der Rage verschiebt und formiert, ist ein langer Prozess gegenseitiger Abstimmung und Einstimmung, allmählicher Entdifferenzierung und zunehmender Aufgabe psychosozialer Kontrollen.

Diese Prozesse fielen mir als Kritik ein, als ich Lorenz Jägers Beitrag las: "Die Greissenfresser kommen. Generation Rollator? Über einen Diskussionsstil" (F.A.Z., 30.6.2016, S. 9). Der Text, in einem Wort zusammengefasst: Die Alten kommen dran; sie sind die neuen Objekte des Hasses. Gemach, gemach, möchte ich sagen; mein Vater pflegte dann noch zu sagen: so schnell schießen die Preußen nicht. Lorenz Jäger zitiert - als abschreckendes Beispiel - den ZEIT-Autor Wolfgang Gründinger, der geschrieben hat: "Das Referendum zeigt: Alte Säcke-Politik diktiert die Agenda. Wir Jungen müssen uns organisieren". Haben die jungen Leute (ich bin 71) nicht auch Recht? Die alten Leute beneiden die Zukunftsaussichten der Jungen - keiner hat das meiner Kenntnis nach besser beschrieben als Max Frisch (in seinem zweiten Tagebuch). Ludwig Marcuse sagte dazu einmal: die Alten haben ein paar Bücher mehr gelesen und vielleicht - vielleicht! - etwas länger nachgedacht. Und außerdem machen die alten Leute ungern Platz - ich behaupte hier meinen Platz noch immer. Wie können die jungen Leute sich Platz verschaffen? Sie müssen die älteren Generationen ausstechen und überholen und ihnen stecken, dass sie die Klappe halten oder zumindest sich zurücknehmen sollen. Irgendwann fangen die alten Leute an, sich schrecklich zu wiederholen.


Überarbeitung: 24.7.2016)  



 

Mittwoch, 29. Juni 2016

Neues zur Heiligen Kuh XXIX: sie hat noch immer Verdauungsschwierigkeiten

Heute, auf der ersten Seite der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, die Schlageilen der unteren Hälfte (29.6.2016):
"VW zahlt in Amerika bis zu 14.7 Milliarden Dollar. Einigung auf Vergleich in der Abgasaffäre/Kein Schuldanerkenntnis/"Schritt nach vorn".

Nein, ein Schritt zurück. Der Konzern mauert weiterhin und leugnet seine Schuld. Und die brave Frankfurter Zeitung der klugen Köpfe folgt dem Wolfsburger Konzern und spricht von der Abgasaffäre. Eine Affäre, der Sprung in die begehrte, aber sehr konfliktreiche Richtung, ist üblicherweise strafrechtlich nicht relevant. Ein Betrug schon. Vor allem ein systematischer, massiver Betrug. Die brave Zeitung hat eine Beiß-Hemmung und lässt die juristisch empfohlene, naive Politik des Konzerns, die für Betrüger so typisch ist, durchgehen: nichts zugeben, was du (noch) nicht zugeben musst. Als ob unsere Ermittlungsbehörden so naiv wären, der treuherzig kommunizierten, enorm dreisten Mauer-Taktik aufzusitzen. Und die übervorsichtige Frankfurter Zeitung verkündet die Obergrenze der Zahlungen. Meines Wissens läuft in den U.S.A. ein Strafverfahren gegen VW auf Grund der Verletzung der Umweltgesetze und der Schädigung der Umwelt. Abgesehen von den internationalen Zivilklagen auf Entschädigung.

Es ist ein Elend mit der Leitung des Wolfsburger Konzerns. Die Leugung von Schuld ist die seit 1945 bekannte Taktik des Hinhaltens. Die Leitung des Konzerns lernt in dieser Hinsicht, obgleich sie ständig beteuert dazu zu lernen, nicht dazu; sie verspricht die Klärung, vertröstet und redet sich heraus. Das öffentliche Schweigen dazu und der öffentliche Langmut mit den Verantwortlichen - die Zeitung aus Frankfurt (wer immer in den Redaktionen dafür verantwortlich ist) ist ein Beispiel für die Identifikation mit der Taktik der Ausreden -   sind so alt wie die Bundesrepublik; wer will, kann jetzt die Nachkriegszeit nachschmecken.


(Überarbeitung: 30.6.2016)


"Welcome! Welcome back!" und "keine Rosinenpickerei!"

Zwei Aussagen von zwei Politikerinnen beim gestrigen Brüsseler Treffen der Regierungschefs.

Die erste machte Dalia Grybauskaite, die litauische Präsidentin, auf die Frage, was wäre, würde Großbritannien seinen Austritt nicht beantragen: "Welcome! Welcome back!", sagte sie. Sie lud ein.

Die zweite Aussage machte Angela Merkel gestern in Brüssel. Zuerst sagte sie: vor dem Antrag der Briten zum Austritt gebe es weder formelle noch informelle Verhandlungen. Das war klug und griff nicht vor: solange der Austritt nicht beantragt ist, ist er für die Europäische Union noch keine relevante Realität. So weit, so gut. Dann folgte - offenbar an einem anderen Ort der Kameras und Mikrofone:  es solle "keine Rosinenpickerei für Großbritannien" geben. Angela Merkel drohte.

Wie passt ihre Drohung zur Erklärung des Abwartens auf den Antrag des Austritts? Gar nicht. Die Drohung widerspricht der Erklärung des Abwartens. Wer hat sie übrigens beauftragt, sich einzumischen in die Innenpolitik der Briten, bevor sie Außenpolitik wird?

Einen Tag zuvor berichtete die F.A.Z. auf ihrer ersten Seite (28.6.2016), dass die Kanzlerin der britischen Regierung Zeit einräumen wolle, aber eine "Hängepartie", sagte sie, dürfe es auch nicht geben; sie warte auf die baldige Bekanntgabe des Zeitpunkts der Antragstellung. Wir kennen dieses Wechselspiel von Freundlichkeit und Unfreundlichkeit -  es ist deutscher (terroristischer) Sozialisationston mit dem bekannten Subtext: Solange du dich fügst, ist es gut.

Jetzt kommen wir zu der Vokabel von den Rosinen. Für unsere (alten) Ohren sind die Rosinen starker Tobak. Sie transportieren den Vorwurf des Egoismus und des Vordrängens; wer die Rosinen sich herauspickt, benimmt sich schlecht und ist ein schlechter Kerl. Die Rückseite des Vorwurfs ist die Klage des Sprechers oder der Sprecherin, zu kurz zu kommen - jemand ist schneller. Den Vorwurf bewegt ein Neid auf den Schnelleren. Wir sind wieder in der deutschen ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Weiß die Kanzlerin, was sie sagt? In welchem alten deutschen - nicht bundesdeutschen -  Kontext sie sich bewegt und wie sie die gegenwärtigen politischen Kontexte vernebelt und verzerrt und vermengt mit Vokabeln aus der alten Kinderstube? Ist das ihre Sprache oder die Sprache der Berater? Es kann doch nur darum gehen, den politischen Schachzug des britischen Premiers, der sich mächtig verkalkuliert hat, auszubalancieren und Großbritannien die Möglichkeit der Mitgliedschaft offen zu halten.

Nein, wir erleben es immer wieder: realisierte Großzügigkeit ist nicht das Ideal bundesdeutscher Außenpolitik - rethorische Großzügigkeit ist einfach. Etwas zurückzugeben von dem, was heute unsere Freiheit und unseren (relativen) Wohlstand ermöglichte, fällt weiterhin sehr schwer. Man muss regelmäßig daran erinnern: 1945 waren wir von der Großzügigkeit der Regierungen abhängig, deren Länder und Bevölkerungen von deutschen Truppen bombardiert, besetzt, niedergeworfen, zerstört und vernichtet worden waren. Kann es sein, dass die alte deutsche Aversion und Ambivalenz gegen Großbritannien, das von Großdeutschland überholt werden sollte, fortbestehen und sich jetzt in einer Politik fortsetzen, die darauf drängt, die Fakten des Austritts zu schaffen? Was sagte Dalia Grybauskaite noch in den Tagesthemen? Sie sagte: "Der Brexit ist eine Herausforderung für uns alle, nicht nur für Großbritannien".

Montag, 27. Juni 2016

Ist der Brexit eine Befreiung, eine Katastrophe oder eine Schnapsidee?

Im Augenblick ist er eine durch das Referendum bestätigte Schnapsidee vom Trick des Machterhalts. Schnapsidee ist natürlich die Vokabel meiner Einschätzung dieses Manövers, die Möglichkeit des Austritts aus der Europäischen Union in Aussicht zu stellen. Bislang ist die britische Regierung dem Votum des Referendums nicht gefolgt und hat die Absicht des Austritts nicht formell beantragt. David Cameron hat Recht, wenn er sagt: dass die britische Regierung souverän sei, den Zeitpunkt des Austritts zu bestimmen. Er könnte - ich weiß: familiäre Analogien sollten zur Beschreibung/Erörterung politischer Prozesse nicht verwandt werden - , was Eheleute tun, die ihre Scheidungsabsicht im Hinblick auf die Kosten (Entfremdung von den Kindern, Vereinsamung, Aufgabe von Vertrautheiten, Verarmung) diskutieren und dann vertagen oder aufgeben, seinen fellow citizens die Kosten des Austritts erläutern und dessen Unmöglichkeit erklären. Er muss nicht den Austritt beantragen - er hat ihn versprochen. Mit der Erklärung der Schnapsidee  hätte er allerdings sein Versprechen gebrochen und seine Glaubwürdigkeit eingebüßt. Er müsste dann sein politisches Überleben seiner Wählerschaft überlassen. Aber wann hat ein Politiker oder eine Politikerin je eine Schnapsidee eingestanden?

Bleiben die Gremien und Organe der Europäischen Union und die nationalen Regierungen. Seltsamerweise drängen sie - als wäre eine Absicht schon eine vertraglich zugesicherte Handlung. Sie fordern den Antrag des Austritts. Sie haben es eilig. Weshalb? Die Antwort gab heute morgen die Frankfurter Zeitung der klugen Köpfe mit dieser Schlagzeile aus dem Wirtschaftsteil: "Brexit-Furcht an den Finanzmärkten wächst" (F.A.Z. vom 28.6.2016, S. 19, Nr. 148). Die Finanzmärkte! So einfach sind manchmal die (vorläufigen) Antworten. Francois Hollande sagte gestern (sinngemäß): Ungewissheit wäre schlecht für die Märkte. Habt Mitleid und Sympathien mit den Leuten, die die Gelder fließen lassen! Deshalb soll David Cameron sich beeilen. Politiker lieben das existenziell aufgeblasene, aufgedröhnte Theater. Es lenkt so herrlich ab und hält die nationalen Wählerschaften bei Fuß. Darauf sollte man nicht hereinfallen. Eine Schnapsidee bleibt eine Schnapsidee. Manche Politiker sind sich nicht zu schade, die Realisierung einer Schnapsidee einzufordern. Wir kennen das. Allerdings sollten die Botschaften des britischen Referendums (sie müssen noch herausgefunden werden) und ihre Adressierung sehr ernst genommen werden. Ungewissheit und Unsicherheit sind übrigens produktive existenzielle Zustände: sie erfordern gründliches Nachdenken.

(Überarbeitung: 29.6.2016)

Montag, 6. Juni 2016

Journalismus-Lektüre (Beobachtung der Beobachter) XXVIII: Pompöse Anmaßung

"Die Abdankung der politischen Klugheit" heißt der heutige Text im Feuilleton von Patrick Bahners in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (6.6.2016, S. 11, Nr. 129). Wer ist zurückgetreten? Die Klugheit von Elisabeth Drew - behauptet Patrick Bahners mit schräger Logik. Elisabeth Drew ist einer der renommiertesten Journalistinnen Washingtons, ihre für die Zeitschrift The New Yorker von 1973 bis 1992 erschienenen Texte für die Sparten Political Journal, Reporter At Large und Letter from Washington beschrieben gründlich die Prozesse nordamerikanischer Politik. Jetzt weiß sie nicht mehr weiter, behauptet Patrick Bahners: "Dem Phänomen Trump versucht sie gar nicht mehr mit politischen Kategorien beizukommen". Er zitiert sie mit dem Satz, den sie von einer Kollegin aufgenommen hatte: "Man sollte denken, dass jemand kein ganz böser Mensch sein kann, der ein so gutes Verhältnis zu seinen Kindern hat". Patrick Bahners Schlußfolgerung - sein letzter Satz: "So mögen sich in der Frühzeit Amerikas die Siedler Mut gemacht haben, die den Indianern in die Hände fielen".    

Patrick Bahners hatte sich offenbar an einige Western der 50er Jahre schlecht erinnert. Der Kino-Einfall gehört zur Konzeptionslosigkeit des Autors, der familiäre mit politischen Prozessen verwechselt; aber auch zur Verachtung des Autors für Elisabeth Drew, der er nicht mehr zutraut als den Blick auf die Familie des Präsidentschaftskandidaten; zur Verachtung des New Yorker, der bis Anfang der 90er "ostentativ standpunktlose Artikel" gedruckt hätte (Hannah Arendt veröffentlichte 1963 in drei Heften ihren Text Eichmann in Jerusalem, George Packer im Dezember 2014 seinen Text über die Bundeskanzlerin The Quiet German); zur Verachtung des Aufruhrs, seitdem Donald Trump, der Protagonist und Kandidat des Bolzens, die nordamerikanische Öffentlichkeit irritiert, fasziniert, beunruhigt und beschäftigt. Die U.S.A. sind mit ihrer langen demokratischen Tradition natürlich sehr verschieden von der Bundesrepublik. Der dort seit langem zu beobachtende Prozess politischer Obstruktion mit dem Wunsch, demokratische Errungenschaften  rückgängig zu machen  - ist anders als das Vergnügen bei uns (so alt wie die Bundesrepublik), demokratische Institute mit einer giftigen, bösartigen, unablässigen Bockigkeit einer mehr oder weniger ausgesprochenen, einer mehr oder weniger dunkel geschminkten Demokratie-Feindlichkeit zu  verspotten. Sie ist noch nicht ausreichend verstanden. Es gibt keinen Anlass, sich die Hände zu reiben oder über Donald Trump zu klatschen. Donald Trump macht auch hier seinen Punkt: der Journalist, der sich an seinem Schreibtisch in Frankfurt sicher fühlt, wähnt die Nordamerikaner vor der Kino-Leinwand. Wo, glaubt er, sind seine Landsleute? Vermutlich bei der Lektüre seiner Zeitung. Die klugen Köpfe schütteln ihre Köpfe angesichts der (vermeintlichen) Abwesenheit (nordamerikanischer) politischer Verständnisfähigkeit.

(Überarbeitung: 8.6.2016)

Freitag, 3. Juni 2016

Das Grundeinkommen. Das Grundeinkommen?

In den nächsten Tagen wird in der Schweiz über die Einführung eines Grundeinkommens abgestimmt. Das ist mutig. Und erstaunlich. Ohne Vorleistungen soll den Bürgerinnen und Bürgern ein bestimmter
Beitrag zukommen - vielleicht zweitausenfünfhundert Franken. Dazu schrieb am 1.6.2016 Karl-Heinz Schneider in seinem Leserbrief an die Frankfurter Allgemeine Zeitung: "Das bedingungslose Grundeinkommen bedeutet nicht das Ende der Arbeit, sondern das Ende der Sklaverei".

Heute, am 3.6.2016, folgt auf der ersten Seite dieser Zeitung der Text von Heike Göbel: "Ewig lockt das Grundeinkommen". Abgesehen von der Anspielung auf den Brigitte Bardot-Film aus den 50er Jahren (mit Curd Jürgens), Regie: Roger Vadim (Frankreich 1956), wirkt dieser Text wie ein Abkömmling aus dieser Zeit. Sie spricht von der Hängematte des Grundeinkommens. Ist das so? Ist unser größter Wunsch, den Tag entlang zu dösen und die Zeit tot zu schlagen und dabei immer fetter zu werden? Im prolongierten Paradies festzustecken? Schon Adam und Eva waren dagegen. Sicher, die Etablierung eines Grundeinkommens ist kompliziert und muss gut durchgerechnet zu werden. Aber die Idee ist nobel ("das Ende der Sklaverei") und berücksichtigt unseren tiefen Wunsch, kreativ sein und Spuren hinterlassen zu können. Aber das Grundeinkommen bedroht auch - deshalb die 50er Jahre - jene beliebte, alte Dressur-Taktik, nach der uns die zugeworfene Belohnung in Bewegung hält, nicht der Wunsch nach einem Leben in guten Beziehungen und in nicht (sehr) bedrohten, nicht (sehr) kränkenden Lebensverhältnissen.