Mittwoch, 26. April 2017

Journalismus-Lektüre (Beobachtung der Beobachter) XXXXXIX: Öffentliches Tagträumen mit der Königstochter

Noch einmal Ivanka Trump. Noch einmal die Frankfurter Allgemeine Zeitung von heute, dem 26.4.2017 (S. 8). Angela Merkel stand und saß neben Ivanka Trump. Helene Bubrowski schreibt
dazu:

"Merkel hat Ivanka in Washington getroffen. Sie hofft, über Ivanka einen Zugang zum Weißen Haus zu bekommen".

Merke: Merkel und Ivanka. Ivanka ist unsere Vertraute: Helene Bubrowski spricht von ihr und adressiert sie mit ihrem Vornamen. Von dieser journalistischen Intimitäts-Suche (als öffentliches Fantasieren) abgesehen: wie können wir uns den Zugang vorstellen? Hat unsere Kanzlerin die private Mobil-Nummer von Ivanka Trump? Kann sie sie jederzeit anrufen? Der Zeit-Unterschied beträgt übrigens sechs Stunden. Ich stelle mir vor: da sind x Sekretariate zwischen den beiden; da wird säuberlich fein gefiltert; da muss man sich vorher anmelden und sich absprechen. Politik im Bild des einfachen, privaten Kontakts: schön wär's. Wir schalten die Nachtischlampe wieder ein.

Ivanka, die Königstochter, war hier

Welches Foto brachte die Frankfurter Allgemeine Zeitung heute, am 26.4.2017, auf ihrer ersten Seite? Drei Frauen, in einem spitzen Winkel aufgenommen (von links nach rechts): Ivanka Trump, Angela Merkel und Königin Máxima. Riesen-Bahnhof für die Königstochter aus den U.S.A. Angela Merkel in der Mitte. So kann, wer will, sich an die Märchen erinnern und tagträumen. Dabei ist der Märchen-König bei uns mächtig verschrien. Spielt keine Rolle. Wir sehen, weshalb Donald Trump gewählt wurde: er ist (mit seiner Familie) der Repräsentant der westlichen Fantasien von Reichtum, Macht und Schönheit. Das zählt - fürs gesellschaftliche, politische Tagträumen. Mir tat - hinsichtlich der Konkurrenz der Fantasien - Martin Schulz leid: da kann er nicht mithalten. Was ist Brüssel oder Würselen (bei Aachen) gegen Manhattan? Wo ist seine Königstochter oder sein Königssohn?

Die westlichen Fantasien und ihre gewaltige Idolisierung sind das psychosoziale Unterfutter, das unsere Ambivalenzen aushält und wegpuffert. Seit J.J. Chandors Film Margin Call (der deutsche Titel Der große Crash ist schlecht, weil daneben gegriffen und irreleitend) kenne ich ihren Namen: die Aston Martin-Fantasie vom königlichen Reichtum und großartigen Leben. Wer will ihn, diese kostbare Kutsche,  nicht?, fragte einer der Protagonisten indirekt. Ja, wer will ihn nicht? Oder: wer will ihn nicht zumindest sehen (Kinogänger sehen ihn seit 1964, als James Bond auf seinen Auftrag, mit dem Gold-Händler anzubandeln, vorbereitet wurde) und tagträumen?   

Montag, 24. April 2017

Fortsetzung: das Grundeinkommen. Das Grundeinkommen? II

Vor einem knappen Jahr wurde den Schweizer Bürgerinnen und Bürgern das Referendum zum, wie es hieß, bedingungslosen Grundeinkommen vorgelegt; sie stimmten dagegen. Damals hielt ich die Tatsache des Referendums für mutig: immerhin wurde die Frage öffentlich abgewogen (s. meinen Blog vom 3. Juni 2016). Damals sprach Heike Göbel (in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 3.6.2017, S. 1) von der "Hängematte des Grundeinkommens". Sie folgte der deutschen Dressur-Konzeption vom Lohn  als dem einzig relevanten Antrieb, für seine Lebensgestaltung aktiv zu werden. Das war ein Missverständnis des Lebens. Gestern jedenfalls wurde Niklas Maaks ausführliches (mir sehr sympathisches) Plädoyer für das bedingungslose Grundeinkommen in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (23.4.2017, S. 41) veröffentlicht - passend zur milde gestimmten Sonntagsatmosphäre eines ausgiebigen Frühstücks.

Die Idee des Grundeinkommens ist nobel, aber schwierig: sie setzt andere Lebensformen voraus. Wir müssten mit weniger auskommen. Wir müssten weniger aufwändig leben. Wir müssten unsere Einkommen anders verteilen. Wir müssten die Fragen diskutieren und beantworten: wann ist genug
genug? was ist ein anständiges Leben? was müssten wir teilen? was müssten wir abgeben? Anders gesagt: die Idee des Grundeinkommens sagt uns auch, dass wir so verschwenderisch nicht weiter leben können. 

Gute Forschungsnachrichten für Leute mit gutem Gedächtnis

Die Frage Anlage oder Umwelt ist uralt und schlecht zu entscheiden: der Säugling, gerade eine Minute auf der Welt, wie wir so schön großartig sagen, interagiert sofort mit seiner Umgebung und den anwesenden (relevanten) Personen seines Lebens. Schwierig, wenn nicht unmöglich, in diesem Entwicklungsprozess Disposition und Sozialisation (sauber) zu sortieren.

Jetzt aber gibt das gemeinsame Projekt der Universität des Saarlandes und der Universität Bielefeld:
über zwölf Jahre werden über viertausend Familien beobachtet, in denen Zwillinge leben; die relevanten 19.000 Familienangehörigen werden einbezogen. Eine riesige soziologische und psychologische Studie. Endlich ein vernünftig großer sozialwissenschaftlicher Aufwand. Endlich! Zum Beginn des Forschungsprozesses sind die Zwillinge 5, 11, 17 und 23 Jahre alt. Wie sich diese Gruppen auf die gesamte Stichprobe verteilen, sagt der Bericht nicht. Wir können - wenn wir uns noch erinnern können - auf die 30er Jahre gespannt sein. Die Quelle: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 23.4.2017, S. 60. Autor des Textes ist Gerald Wagner. 

Freitag, 21. April 2017

Recep Tayyip Erdogan, das Referendum und die öffentliche Heuchelei


Projizieren macht Spaß. Gut vierhunderttausend bundesdeutsche Bürgerinnen und Bürger, die auch türkische Staatsangehörige sind und deshalb für das Referendum zur Verfassungsänderung votieren konnten, müssen für das Vergnügen an der öffentlichen Aufregung und Empörung und für die öffentliche Sorge herhalten. Worum geht es? Der öffentliche Vorwurf lautet: Bürger der Bundesrepublik unterstützen den Plan eines künftigen faschistischen Staats; sie leben in der einen Demokratie und sabotieren die andere. Keine Frage: der türkische Staat befindet sich in einem Zustand des Aufruhrs; seine Rechtsstaatlichkeit ist bedroht - wie sehr, lässt sich von weitem schwer sagen; das Votum des Referendums verschärft die offenbar schweren Konflikte des Landes. Keine Frage aber auch:  die Pläne der türkischen Regierung sind die Angelegenheit der türkischen Bürgerinnen und Bürger. Des weiteren: wenn die türkische Regierung aus der Staaten-Gemeinschaft, mit der sie Verträge unterhält, auszuscheren beabsichtigt, ist das die Angelegenheit der gemeinsamen Institutionen der Staaten. Wir müssen uns nicht einmischen als selbstberufene Lehrmeister der Demokratie.

Was wird projiziert? Das Ressentiment unseren Bürgerinnen und Bürgern mit türkischen Wurzeln gegenüber. Sie sind nicht gern gesehen. Diese verbreitete - wie sehr, ist unklar; zum Glück bestehen auch erhebliche Sympathien - Abneigung gehört zu den kränkenden und traumatischen Alltagserfahrungen. Unverstanden ist die Wirkung der Katastrophe der offenbar von diesem Ressentiment geleiteten, gescheiterten Ermittlungsarbeit bei dem Versuch der Aufklärung der Morde, für die die Gruppe verantwortlich ist, die mit dem skandalösen Akronym einer ehemaligen Automarke belegt wurde - als hätte diese Gruppe eine zumindest im entferntesten Sinne politische Absicht verfolgt (s. meinen Blog vom 17.3.2017 Hart, aber unfair).

Es gibt keinen Grund für eine abfällige Berichterstattung. Beispiel: der Text von Berthold Kohler Abschied von den Lebenslügen in der Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19.4.2017 (S.1):
"Die mehr als 400 000 Türken, die hierzulande Erdogans Machtergreifung zustimmten, stellen zwar nur ein knappes Drittel der türkischen Wahlberechtigten und etwa ein Fünftel der rund zwei Millionen Menschen mit türkischer Staatsangehörigkeit in Deutschland dar".

Der Satz ist ein Beispiel für bundesdeutsche Herablassung. Die "Türken" sind (tatsächlich) "Menschen" - keine bundesdeutschen Bürgerinnen und Bürger. Dass Berthold Kohler von "Erdogans Machtergreifung" spricht, ist das Spiel des Kommentators mit dem vertrauten, strammen nationalsozialistischen Jargon von "Hitlers Machtergreifung" - die, wie wir alle wissen sollten, keine Ergreifung, sondern das Ergebnis der Kungelei hinter den Kulissen war, die Adolf Hitler ins Amt schob. Der Satz ist ein grobes Foul. Wenig später im Text wiederholt der Autor den kontaminierten Jargon von der Machtergreifung: sein zweites Foul.

Gegen Ende des Textes fand ich diesen Satz:

"Der größter Fehler der deutschen Integrationspolitik war es nicht, zu abweisend gewesen zu sein; sie war im Gegenteil zu großzügig und von einem falschen Verständnis von Toleranz geprägt".

War sie das? War es nicht umgekehrt? Wenn ein starkes Ressentiment kursiert, kann man schlecht einen klaren Gedanken fassen.
    

Donnerstag, 13. April 2017

Das Wort zum Einlullen XI: "Islamistischer Hintergrund"

Heute Morgen stutzte ich über die Schlagzeile der Frankfurter Allgemeinen Zeitung - ja, es wird langsam langweilig mit diesem Rentnerblatt - : "Hinweise auf islamistischen Hintergrund" (24 Punkte groß, fett gedruckt). Unterzeile: "Durchsuchungen und Festnahme nach Anschlag von Dortmund. Bekennerschreiben wirft Fragen auf" (zehn Punkte groß, nicht fett).

Die große, fette Zeile wirft Fragen auf. Was ist ein islamistischer Hintergrund ? Gemeint ist die Übernahme (Identifikation, Assimilation) einer destruktiven Indoktrination. Wie funktioniert sie? Wie muss jemand sozialisiert sein, dass er oder sie sie übernimmt? Was ist der Hintergrund dieses Indoktrinations-Hintergrundes? Wie sieht seine oder ihre Sozialisation aus? Wie die Familie? Wie die Kultur und Gesellschaft als der weitere Sozialisationshintergrund der Familie? Und so weiter und so fort. Mit anderen Worten: zu jedem Hintergrund gehört ein weiterer Hintergrund gehört ein weiterer Hintergrund. Kennen wir die Hintergründe? Können wir sie differenzieren?

Wenn ich richtig sehe: wissen wir sehr wenig. Inzwischen sehen wir:  eine Sprache des Mordens spricht sich herum. Sie ist uralt. Sie scheint sich auszubreiten. Tut sie das? Wie junge Leute dazu kommen, sich auf sie zu verständigen, müsste gründlich untersucht werden. Zu befürchten ist, dass die Frage nach dem islamistischen Hintergrund schnell abgehakt wird und die Lebensgeschichten der jungen Männer und der jungen Frauen mit mörderischen Impulsen irrelevant bleiben. Heute Morgen sah ich unten auf der ersten Seite der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die Meldung: "Generalbundesanwalt: Amri war Einzeltäter" (zehn Punkte, fett gedruckt). War's das? Anis Amri driftete dissozial durch sein Leben und entschloss sich, mit einem Sattelschlepper zu morden. Weshalb? Was waren seine lebensgeschichtlichen Hintergründe?

Der islamistische Hintergrund ist kommunikative Kurzschrift. Er dient der Beruhigung in Pressekonferenzen, von denen dann berichtet werden kann. Haben wir etwas verstanden von fremden Lebensverhältnissen und fremdem Leid? Letzte Frage für heute: weshalb geben wir uns mit dieser Kurzschrift zufrieden?


Mittwoch, 12. April 2017

Neues von der Heiligen Kuh XXXXXII: sie kalbt

Seit einiger Zeit sehe ich die gelben, sehr eckigen Lieferwagen der Post (fährt elektrisch kann man lesen)  -  klein und leise kommt damit der Briefträger und stellt die Post zu, ohne zweimal zu klingeln, wie wir das aus dem Hollywood-Kino kennen. Einen habe ich gefragt: er fährt diese Art Auto sehr gern. Jetzt berichtet die Frankfurter Allgemeine Zeitung darüber (13.4.2017). Die Post mit ihrer grünen Orientierung fand keine für sich passende, Abgas-los fahrende Wagen, kaufte das im Jahr 2010 gegründete Aachener RWTH-Unternehmen Streetscooter auf und produziert jetzt ihre Postzusteller-Fahrzeuge selbst. Der Unternehmens-Coup ist ein Erfolg. Andere Unternehmen wünschen sich dieses Gefährt auch. Klein muss man sein - und schnell und beweglich.
Die großen bundesdeutschen Hersteller wirken dagegen unbeweglicher als ein Riesentanker. Das kommt davon, wenn man nur schnell geradeaus fährt: man sieht nix Neues.

(Überarbeitung: 23.4.2017)

Dienstag, 11. April 2017

Donald Trump VI: Verfolgt er jetzt eine konsistente Politik?

Nein.
Dazu zwei Stimmen aus den U.S.A.: Amy Davidson (The New Yorker vom 10.4.2017, S. 18) und Mark Danner (The New York Review of Books vom 23.3.2017, S. 4 - 6). Amy Davidson: Der U.S.-Präsident handele im Modus von reckless endangerment (rücksichtsloser Gefährdung). Mark Danner: Der U.S.-Präsident suche das Chaos und stifte Verwirrung. Es gehe um die Zerstörung der Wissenschaft und der Jurisdikative. Die Umweltschutz-Behörde ist gegen den Beschluss des obersten Gerichts (gegen Ende von 2006) amputiert, seine Forschungsaufgaben kassiert worden. Die Juriskdikative steht unter dem (getwitterten) Verdacht, künftige Mord-Anschläge durch Nachlässigkeit zu verursachen. Donald Trumps Stichwort ist die Sicherheit der Vereinigten Staaten. Für jeden Mord-Anschlag ist nunmehr die Jurisdikative verantwortlich. Das ist sehr einfach, aber sehr effektiv. Mark Danner hat diese Taktik beschrieben. So werden mit Angst und Panik Politik gemacht und politische Traditionen zerstört. Der Kongress kontrolliert nicht mehr. Einspruch ist unmöglich - die Tradition des filibuster bei der Zustimmung zur Ernennung eines Bundesrichters zerstört.

Deshalb muss man die Politik der U.S.-amerikanischen Regierung kräftig gegen den Strich lesen und keine falschen Hoffnungen verbreiten. Heute, am 11.4.2017, der Titel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: "Washington bekennt sich zur Rolle der globalen Ordnungsmacht". Eine Wunsch-Schlagzeile. Andere Politiker haben Kinderköpfe gestreichelt, der amerikanische Präsident streichelt - nach den schrecklichen Bildern der Vernichtung von syrischen Familien -  die Schutz- und Vergeltungswünsche seiner Gefolgsleute. Den PR-Zynismus sollte man nicht mit humaner, geplanter Politik verwechseln. Donald Trump, so Mark Danner, wartet auf seine Gelegenheit: die Krise, die ihn stabilisiert beim Einsatz seiner Macht.

Warten wir hier in der Bundesrepublik - Angst-bereit und Angst-gelähmt - auch ab? Das Land mit der ältesten demokratischen Tradition wickelt sich ab. Was macht unsere Regierung? Was überlegt sie? Ein wenig darüber zu erfahren, fände ich nicht schlecht.

Neues zur Heiligen Kuh XXXXXI: Kein Interesse an Aufklärung?

Ist das nicht erstaunlich? Der massive Betrug einiger (leitender) VW-Leute - die Bankrott-Erklärung der VW-Ingenieure zur Zukunft des Diesel-Antriebs und, ein wenig weiter gedacht, zur Zukunft des Automobils - ist noch immer nicht aufgeklärt. Das wird den Gerichten überlassen. Der journalistische Langmut ist enorm.

Jetzt fand ich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (vom 10.4.2017, S. 19) die Nachricht von der Nachricht in der Bild am Sonntag: dass vor seiner Aussage im Untersuchungsausschuss Martin Winterkorn Auszüge von Zeugenaussagen eines Volkswagen-Managers zugeschoben worden waren - die fand die Staatsanwaltschaft Braunschweig bei Durchsuchungen. Ja, ist das nicht toll? Martin Winterkorn ging in den Ausschuss und wusste, was er sagen musste. Und warum wird erst auf Seite 19 davon berichtet - wo nur die tapferen Frühstücksleser und Frühstücksleserinnen, die über einige Zeit verfügen, hingelangen? Ein massiver Betrug, der das demokratische Ideal der Bundesrepublik schwer beschädigt - abgesehen davon, dass er eine ganze Industrie und damit viele Existenzen zu gefährden und Lebenspläne zu vernichten droht - , wird im hinteren Teil der Zeitung versteckt? Seltsam. Seltsam.