Freitag, 4. August 2017

Lektüre des Journalismus (Beobachtung der Beobachter) XXXXXXI: Seltsame Konzeptlosigkeiten

Journalistische Autorinnen und Autoren weisen selten ihre Konzepte aus - man muss sie, wenn sie sich in den Texten andeuten, erschließen. Ich verfahre nach dem (methodischen) Prinzip: dem Satz oder der Formel, der oder die mich zu beschäftigen beginnt, gehe ich nach. Zwei Beispiele aus der
Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 4.8.2017, Seite 15 (Autor: Hendrik Wieduwilt), und vom 1. und 2.8.2017, Seite 1 und Seite 3 (Autor: Andreas Ross).

1. "Sammelklagen nur mit Wucherschutz" (4.8.2017). Diese beiden Sätze gingen mir nach:
"VW Kunden in Amerika konnten zum Beispiel schon für manipulierte Abgaswerte kassieren. Der Gerechtigkeit dient das nicht". "Gerechtigkeit" ist ein wirklich schweres Wort: ein demokratisches Ideal (in unseren Lebensverhältnissen); es wird in der Praxis der Jurisdikative ausgehandelt und öffentlich abgestimmt (Bernhard Schlink: Praktische Gerechtigkeit im MERKUR 805 vom Juni 2016). Was ist gerecht bei einem massiven Betrug? Wenn man massiven Betrug als einen Angriff auf das institutionelle demokratische Gefüge versteht, dann ist eine drastische Strafe und eine großzügige Entschädigung - gerecht. Dann wird auch nicht kassiert. Mit anderen Worten: der Autor hat für das institutionelle Gefüge kein ausreichendes Konzept und offenbar nicht verstanden, weshalb in den  U.S.A. Betrug schwer bestraft wird.

2. "Führungsloses Amerika" (1.8.2017). Andreas Ross listet die Turbulenzen der gegenwärtigen US.-Präsidentschaft auf und bilanziert: führungslos. Unser Grundsgesetz sagt über die Aufgaben des Kanzlers: er oder sie "bestimmt die Richtlinien der Politik". Es spricht nicht von Führung - das Wort vom Führer ist uns ja mächtig vergällt worden. Von diesen sprachlichen Feinheiten abgesehen, ist die Formel "Führungsloses Amerika" unpolitischer Kokolores: die Politik eines demokratischen Landes - wie immer realisiert - ist das interaktive Produkt komplizierter Prozesse des Aushandelns vieler Protagonisten. Dass Andreas Ross Politik als die Leistung eines Führers konzipiert - verdichtet in dem Titel seines Textes - ist erstaunlich und ein alter Hut und wird bei uns repetiert in dem Interesse an den Bewegungen unserer Kanzlerin, mit welchen Taktiken sie ihr Machtinteresse sichert.

Dagegen sprach David Cole von "Trump's Constitutional Crisis" (The New York Review of Books Nr. 10, 8. - 21.6.2017). Konstitutionelle Krise: ist das Wort für ein Konzept politischer Prozesse - und das drastische Wort für das nordamerikanische Missvergnügen an der gegenwärtigen Präsidentschaft. Erstaunlich ist, wie sehr Andreas Ross die  Gefahr der Zerstörung des institutionellen Gefüges der U.S.A.  unterschätzt. Damit ist er nicht allein. Bei uns dominiert offenbar das Vergnügen an einer Variation der House of Cards. Ich wundere mich sehr, wie wenig alarmiert unsere Öffentlichkeit hinsichtlich der demokratischen Krise in den U.S.A. ist. Meine Vermutung: so richtig herumgesprochen hat sich bei uns die institutionelle Bedeutung interaktiver demokratischer Prozesse noch nicht.

Mein Beleg: der zweite Text von Andreas Ross: "Zehn Tage unbedingter Liebe". Der Pressechef Anthony Scaramucci wurde nach zehn Tagen Amtszeit entlassen. Der Titel ist für eine ernsthafte Berichterstattung - hanebüchen. Ich zitiere einen Satz aus dem Kontext:

"Vielleicht findet der pensionierte Generalleutnant Flynn, gegen den verschiedene Ermittlungen laufen, jetzt Trost darin, dass er sich immerhin doppelt so lang im Weißen Haus gehalten hat wie Scaramucci". Es gibt für uns keinen Grund zum Schenkelklopfen über eine vermeintliche Form politischen Klamauks.         

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