Samstag, 16. September 2017

Die süße Korruption des gemeinsamen öffentlichen Fantasierens: unsere Bundeskanzlerin und die Automobilindustrie

Am Freitag, dem 15.9.2017, ist auf der ersten Seite der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu sehen: unsere Kanzlerin, die lächelnd aus dem flachen Audi Aicon mit dem Mikrophon in der rechten Hand steigt, vom Audi-Chef Stadler mit der großen Geste der offenen Armen  - wie es der ARD-Mann Sven Plöger so herrlich entschuldigend kann, wenn er die Unbilden des Wetters ankündigen muss - begleitet. Ein Bild der Kumpanei (Zeitung, Kanzlerin und Audi-Repräsentant spielen zusammen) und eines seltsamen Amts- und Rechts-Verständnisses.

Vor diesem Foto dürfte Angela Merkel die Rede zur Eröffnung der Frankfurter Automobilmesse gehalten haben. Ihre Rede folgte  dem kursierenden Konsensus der Korruption. 1. Angela Merkel: "...dass wir aus Fehlern lernen müssen..." Aus Fehlern. Der schwere, strafrechtlich relevante Betrug war ein Fehler. Der Fehler bestand darin, sich erwischen zu lassen. Unsere Kanzlerin pflegt die Sprache der Betrüger. Wenig später spricht sie von der Dieselthematik und folgt der VW-Sprachregelung der Verleugung. 2. Die Rührseligkeit des Polit-Kitschs. Die Leute der Autobranche, führt sie aus, "haben Regelungslücken exzessiv ausgenutzt... sie haben nicht nur sich selbst Schaden zugefügt, sondern auch Verbraucher, Behörden getäuscht und enttäuscht". Diffuses Lamento. 3. Konzeptionslose Appelle des Durchhaltens. Angela Merkel: "Es muss der Wandel zu emissionsfreier Mobilität gelingen". Wie das? Frei von Emissionen? Die Kanzlerin lädt zum Fantasieren der Großartigkeit ein. 4. Phantastische Vorschläge: "Bereiten Sie" - sie meint die Leute von der Autobranche - "die Menschen auf das autonome Fahren vor". Wie das? Der Vorschlag ist besonders treuherzig.Wie sollen die Leute von der Autobranche sagen können, dass die von ihnen verbreiteten Bilder vom fahrenden Wohnzimmer falsch sind? Wer von ihnen traut sich zu sagen, dass wir künftig wie auf Schienen fahren sollen: gemächlich, nebeneinander und hintereinander. Wer von ihnen traut sich zu sagen, dass wir demnächst dann andere Fahrzeuge benötigen und wahrscheinlich haben werden? Kleinere Fahrzeuge, auf geringes Tempo und damit auf geringe Leistungsanforderungen ausgelegt? Wer von ihnen traut sich zu sagen, dass das Schienen-ähnliche Fahren ihre Konzeption des Autos und des Autofahrens auf den Kopf stellt? Dass sie sich damit aus ihrem bombigen Geschäft katapultieren? Hat jemand schon ausgerechnet, welchen Platz-Bedarf die riesigen Fahrzeug-Kolonnen haben werden? Hat jemand schon einen Plan, wie die automobilen Schienen-Fahrzeuge betrieben und bewegt werden sollen?

Nichts gegen das Fantasieren. Normalerweise dient es dem Entwerfen von Wirklichkeiten und dem Reparieren der kränkenden Erfahrungen mit Wirklichkeiten. Unsere Kanzlerin und ihre Mannschaft helfen mit beim regressiven Fantasieren und sind offenbar blind. Was soll's. So oder so. Es wird Zeit, dass die Autobranche anfängt, die kleinen Brötchen zu backen. Der erste Schritt besteht in der Einführung von Tempolimits.

Was inzwischen geschieht: in NRW auf der wunderbar zum Schnellfahren - 200 km/ sind ein Klacks - ausgebauten Autobahn zwischen Aachen und Düren wird die Begrenzung auf 130 km/h installiert. Zu hohes Tempo, zu viele schwere Unfälle. Es dauert lange, aber die Realität setzt sich durch. Vor 40 Jahren wurde über Tempolimits auf Autobahnen gestritten, jetzt kommt die Diskussion wieder. Es geht nicht nur um das Schnellfahren. Es geht auch um den Wahn, schnell fahren zu können und zu müssen. Dieser Wahn hat bislang zur Produktion schwerer Automobile geführt. Es wird Zeit, dass er wirklich ernüchtert wird. Es wird Zeit, dass wir unsere mobilen Praxen revidieren und uns anders zu bewegen aufmachen. Unsere Regierung hat das noch nicht verstanden.

(Überarbeitung: 26.2.2019)

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